Ukraine: Der Schuldenberg wächst, Löhne und Renten sinken

Präsident Poroschenko hat keine realistische Chance auf Wiederwahl. Bild: president.gov.ua/CC BY-SA-4.0

EU-Ukraine-Beziehungen: Hoffen auf wirtschaftliche Stabilität für das Wahljahr 2019

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Im nächsten Jahre stehen in der Ukraine erneut Wahlen an. Angesichts der katastrophalen Situation im Land machen sich die internationalen Geldgeber aus Brüssel und Washington inzwischen Sorgen, ob nach Petro Poroschenko überhaupt noch eine stabile Regierung gebildet werden kann. Dass der Oligarch, der sein Geld weiterhin mit Waffen, Medien und Schokolade verdient, erneut Präsident werden könnte, wirkt gegenwärtig nicht sehr wahrscheinlich.

Zwar steht bisher noch kein Termin für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fest. Aber laut aktuellen Umfragen erreicht keiner der möglichen Kandidaten für das Präsidentenamt mehr als zehn Prozent: Die Gasprinzessin Julia Tymoschenko liegt mit knapp 10 Prozent vorne, Petro Poroschenko würden gerade 5 Prozent der Befragten wiederwählen. Tatsächlich ist die innenpolitische Entwicklung der vergangenen vier Jahre in jeder Hinsicht eine Katastrophe (Die gescheiterte Demokratie Ukraine).

Zuletzt trat sogar der Sonderbeauftragte gegen Folter der UNO, Nils Melzer, mit einem Bericht an die Öffentlichkeit: In der Ukraine, so Melzer nach einer Rundreise Anfang Juni, sind Folter und Misshandlungen weiterhin allgemein verbreitet. Verdächtige verschwinden in geheimen Haftzentren, die vom Geheimdienst SBU oder von informellen Milizen betrieben werden. Die Täter können davon ausgehen, dass sie nicht belangt werden, so der Schweizer Berichterstatter.

Die allermeisten Journalisten in Westeuropa gaben sich bisher große Mühe, die Zustände in der Ukraine zu ignorieren. Als Rechtsradikale in den vergangen Monaten jedoch wiederholt Roma-Lager angriffen, schwappten erstmals kritische Beschreibungen der Menschenrechtslage durch die Medien (Ukraine: Toter bei Überfall einer Nazi-Bande auf ein Roma-Lager). Generell stehen viele Unterstützer des Umsturzes von 2014 nun vor dem Problem, dass sie die offensichtlich negativen Auswirkungen kaum länger ignorieren können.

Die EU-Kommission pflegt inzwischen diplomatische Redewendungen in der Art, dass die "Reformen nachhaltiger und glaubwürdiger" gestaltet werden müssten. Selbst Brüssel kommt mit seinen Forderungen an die Ukraine nicht durch. Dabei geht es der EU aktuell vor allem darum, die endemische Korruption zu bekämpfen, welche auch ein Hindernis für internationale Investoren darstellt.

Auf ihrem EU-Ukraine-Gipfeltreffen versuchte die EU am 9. Juli dennoch Optimismus zu verbreiten. In der Gipfel-Erklärung begrüßten die Staatschefs "die erhebliche Zunahme der bilateralen Handelsströme und die effektive Umsetzung der visafreien Regelung". Dass diese Art der Zusammenarbeit absehbare Folgeschäden für beide Arbeitsmärkte, den der Ukraine und den der EU-Staaten, bereithält, will in Brüssel bisher niemand zur Kenntnis nehmen.

Ukraine: Mit fast 13 Milliarden Euro allein bei der EU verschuldet

Obwohl der Kommission etwa die endemische Korruption bekannt ist, reichte sie weitere Mittel an die ukrainische Regierung raus, obwohl zu befürchten steht, dass das Geld größtenteils unkontrolliert verschwindet. Ende Juni billigte der EU-Rat hat eine Makrofinanzhilfe in Höhe von einer Milliarde Euro für die Ukraine. Auf die Frage des Linken-Abgeordneten Andrej Hunko, welchen Effekt die Bundesregierung durch den neuen Kredit für das kommende Wahljahr 2019 erwartet, erklärte das Finanzministerium unverblümt: "Ziel der Makrofinanzhilfe ist es, einen Beitrag zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Landes zu leisten."

Tatsächlich ist das Land hochverschuldet und ausgerechnet im kommenden Wahljahr 2019 steht die Rückzahlung zahlreicher Kredite an. In der Antwort der Bundesregierung summieren sich die Einzelposten in den vergangenen Jahren auf bis zu 12,8 Milliarden Euro - alleine an EU-Mitteln. So stammen etwa drei Milliarden Euro von der Europäischen Investitionsbank, weitere 2,7 Milliarden von der Europäischen Bank für Wiederaufbau, sowie 879 Millionen Euro aus "bilaterale EU-Hilfen" für allerlei Staatsaufgaben.

Weitere 11 Milliarden Euro zahlte der IWF seit April 2014 aus, wobei die bereits bewilligte Summe weit höher liegt. Zu anderen Überweisungen internationaler Geber, etwa durch Banken oder aus Sonderfonds der US-Regierung, war die Bundesregierung nicht auskunftsfähig. Das Pentagon bewilligte kürzlich erneut 200 Millionen Dollar für ukrainische Militärausgaben. Für das Geld werden Militärtechnik und Ausrüstung aus den USA angeschafft.

Es existiert praktisch kein Bereich der ukrainischen Regierungspolitik, der nicht auf diese Weise von ausländischen Regierung bezuschusst wird. Insgesamt türmen sich die bekannt gewordenen Zuwendungen auf die Höhe eines kompletten Jahresetats. Auf die letzten vier Jahre gerechnet finanzierten ausländische Geldgeber also mindestens ein Viertel der ukrainischen Staatsausgaben.

Angesichts dieser Summe stände zu erwarten, dass alle öffentlichen Angelegenheiten in der Ukraine bestens ausgestattet sind. Natürlich ist das Gegenteil der Fall. Allein im Rüstungsbereich tätigt die Poroschenko-Regierung große Ausgaben. So kauft die Ukraine etwa 55 Hubschrauber von Airbus Helicopters im Wert von 555 Millionen Euro. Französische Banken sollen die Finanzierung teilweise übernehmen.

Privatisierung und Öffnung für internationale Investoren

Zu den politischen Bedingungen für die Kredite gehört es, möglichst alle öffentliche Bereiche zu privatisieren. Damit zusammenhängend treten in lebenswichtigen Bereichen unglaubliche Preissteigerungen auf, während die Realeinkommen sinken. So gehört es zu einer Bedingung des IWF und der EU, dass das Energiesystem der Ukraine privatisiert wird und "Gaspreise auf das Marktniveau" angehoben werden. Inzwischen wird das Land komplett aus Westeuropa mit Erdgas versorgt.

Die Preise für Gas sind seit dem Jahr 2014 um das Fünffache gestiegen. Aber auch in allen anderen Bereichen sehen sich die Ukrainer mit einer dramatischen Inflation konfrontiert, die Einkommen und Löhne geradezu vernichtet. Im Jahr 2013 lag das Verhältnis von Euro zu Hrywnja bei 1:10 - inzwischen sind es 1:30. Seit die EU seit Mai 2017 die Visaliberalisierung mit der Ukraine in Kraft setzte, verlassen die Menschen in Scharen das Land (Brain Drain: Massenauswanderung aus der Ukraine).

Dies führt nebenbei zu dem für die ukrainische Regierung positiven Nebeneffekt, dass die Zahl der offiziell angegebenen Arbeitslosen nur moderat auf 9,4 Prozent gestiegen ist. Ein ähnliches Kuriosum ergibt sich mit dem Blick auf den offiziell angegebenen staatlichen Anteil an der Wirtschaft. Weil die privatwirtschaftlichen Aktivitäten schneller zurückgehen, als die Privatisierungen vorankommen, wirkt es prozentual so, als ob der Staatsanteil steigen würde.

Ein Jahr vor den Wahlen befindet sich das Land in einer immer instabileren Situation. Ob dagegen der neue Milliarden-Kredit hilft, bleibt allerdings fraglich. Die Auszahlung des letzten Kredites hatte die EU gerade erst im Dezember 2017 gestoppt, weil das Land "wichtige Bedingungen" nicht erfüllte. Auf die Nachfrage von Andrej Hunko erklärte die Bundesregierung, die Kommission habe "Bedingungen zur Bekämpfung von Korruption, im Handelsbereich sowie im Finanzsektor als nicht erfüllt angesehen".

Da sich seitdem nicht viel geändert hat, steht zu befürchten, dass auch diese Milliarde das gleiche Schicksal ereilt wie die vorher ausgezahlten Summen. Andererseits schleift das Land auf Druck der Geldgeber "handelsbeschränkende Maßnahmen", die bisher die Reste eines Sozialsystems und den Binnenmarkt schützten. So machen die EU und der IWF Druck, dass die ukrainische Regierung endlich die Beschränkungen für den Verkauf von Ackerland aufhebt, an dem internationale Investoren großes Interesse haben. Außerdem soll das Ausfuhrverbot für Rundhölzer demnächst abgeschafft werden.

Die Ukraine verfügt über 43 Millionen Hektar an fruchtbaren Schwarzerde-Böden und war historisch die Kornkammer der Sowjetunion. Allerdings sind der private Besitz und der Verkauf von mehr als 2 Hektar verboten, Ausländer dürfen bisher überhaupt kein Land kaufen. Die ukrainischen Bauern bewirtschaften die riesigen Flächen bisher auf der Basis von Pacht. Aktuell üben die EU, der IWF und die Weltbank massiven Druck aus, dieses "Moratorium für den Verkauf von Ackerland" abzuschaffen.

Große internationale Investmentfonds stehen bereit, um Land in der Ukraine zu kaufen. Für die ukrainischen Bauern, immerhin ist die Landwirtschaft nach vier Jahren der Krise noch einer der letzten stabilen Wirtschaftsbereiche, kann dies schnell zum Verlust ihrer Existenzgrundlage führen. Tatsächlich ist für die bisherigen Pächter völlig unsicher, ob sie das bisher von ihnen bewirtschaftete Land überhaupt selbst kaufen könnten.

Ein anderes "Reformprojekt" besteht in der von der EU und dem IWF geforderten Rentenreform. Nicht zuletzt dank der sprunghaft gestiegenen Auswanderung steigt der Altersdurchschnitt der Ukraine schnell an. Schon den vergangenen vier Jahren hat die Poroschenko-Regierung die Renten auf ein Drittel der Durchschnittsrente zusammengekürzt. Aktuell bezieht ein Ruheständler durchschnittlich 70 Euro im Monat. Die internationalen Geldgeber fordern, das gesetzliche Rentenalter zu erhöhen und die Frühpensionierung einzuschränken.

Diese Beispiele illustrieren die verfehlte Grundstruktur der westlichen Ukraine-Politik: Mit dem Geld der EU-Steuerzahler wird in Kiew eine Regierung subventioniert, die zwar den Staatshaushalt plündert, aber gleichzeitig ein "attraktiveres Investitionsklima" für internationale Investoren, nicht zuletzt aus Deutschland, schaffen soll. Dies führt zur Zerstörung der letzten Formen der öffentlichen Grundsicherung und bedroht darüber hinaus die letzten produktiven Inseln der ukrainischen Wirtschaft.

Wie gefährlich und widersinnig diese Politik ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die ausländischen Investitionen in den vergangenen vier Jahren massiv zurückgegangen sind. So betrug laut offiziellen Daten das 2014 in der ukrainischen Wirtschaft angelegte ausländische Kapital knapp 54 Milliarden US-Dollar, inzwischen sind es nur noch 39 Milliarden. Gleichzeitig schiebt die Poroschenko-Regierung alle diese Struktur-Probleme auf eine einzige Ursache: die russische Bedrohung.