Die gescheiterte Demokratie Ukraine
Für Dreiviertel geht das Land in die falsche Richtung, die politische Klasse und die Parteien haben abgewirtschaftet, Massenauswanderung ist die Folge der westlichen Politik
Wenn nächstes Jahr die Parlamentswahlen in der Ukraine stattfinden, wird das Land politisch sich stark verändern und vermutlich noch instabiler werden als heute schon. Eine aktuelle Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) bestätigt die Ergebnisse von vorhergehenden Umfragen: Die herrschende politische Klasse hat abgewirtschaftet, ein Drittel sagt schon jetzt, sich nicht an den Wahlen beteiligen zu wollen. Fast die Hälfte der Befragten würde unter keinen Umständen den amtierenden Präsidenten Poroschenko wieder wählen. Dreiviertel sagen, das Land gehe in die falsche Richtung, etwa so viele wie vor dem Regierungssturz 2014. Nach anfänglicher Hoffnung herrschen seit 2015 eine trübe Stimmung und Misstrauen vor, 70 Prozent sagen, es seien tiefgreifende Reformen notwendig. Das sagen vor allem die jüngeren Menschen.
Bei der Wahl 2014, die Wahlbeteiligung lag gerade einmal bei 52 Prozent, haben die eilig gegründete Volksfront von Jazenuk und der Block Poroschenko noch jeweils um die 22 Prozent der Stimmen erhalten und konnten mit der "Selbsthilfe" (Samopomitsch) und der "Vaterlandspartei" von Julia Timoschenko eine vorerst stabile Regierung bilden. Nachdem aber wegen Korruptionsvorwürfen Jazenjuk, der einstige Lieblingsregierungschef der Obama-Regierung, 2016 zurücktreten musste, platzte die Koalition. Danach führte Präsident Poroschenko die Regierung aus seinem Block und der Volksfront weiter.
Aber mit der nächsten Wahl werden beide Parteien nichts mehr zu sagen haben. Überhaupt würden nur noch 30 Prozent eine der jetzt im Parlament sitzenden Parteien wählen (2012 sagten dies noch 50 Prozent), 46 Prozent sind auf der Suche nach neuen Parteien. Nach der Umfrage wäre derzeit die stärkste Partei mit gerade einmal 9 Prozent (!) die Vaterlandspartei von Timoschenko, die auch die höchsten Werte als Präsidentschaftskandidatin erhält - allerdings würden auch nur 9 Prozent für sie stimmen. Bei denjenigen, die wählen gehen werden, wären es immerhin 16 Prozent.
Für Poroschenko 5 Prozent, für Jazenuk 1 Prozent. Fast ebenso viele Punkte erzielen etwa der Comedy-Star Volodymyr Zelensky, den mit 40 Prozent die meisten sympathisch finden, oder der Rockmusiker Svyatoslav Vakarchuk (38 Prozent). Abgesehen von Anatoliy Hrytsenko, 2005 schon mal Verteidigungsminister, von der Partei Bürgerliche Position erzielen alle anderen Politiker mehr negative als positive Einschätzungen. Beispiel Poroschenko: 10 Prozent sehen ihn positiv, 70 Prozent negativ.
Das auch in anderen Ländern zu Ende gehende Zeitalter der Volksparteien, die es in der Ukraine allerdings nie gab, könnte in dem Land einen Pionier der demokratischen Fragmentierung sehen. Keine Parteien und Einzelpersonen können mehr eine größere Masse binden, auch die öffentliche Meinung zerfällt. Bei Regierungskoalitionen aus 5 und mehr Parteien dürften keine entschiedenen politischen Programme mehr umgesetzt werden, wahrscheinlich auch gar nicht mehr entstehen. Absehbar wird, dass sich so die repräsentative Parteiendemokratie selbst ein Ende setzt und neue Formen der Demokratie entstehen oder sich diktatorische Lösungen durchsetzen.
Aber die Ukraine ist unter der gegenwärtigen Führung, die vom Westen mit Krediten und Militärhilfe aufrechterhalten wird, ein todkrankes Land. Fast 62 Prozent wollen ein Ende des Kriegs, was aber die Regierung auf keinen Fall anstrebt, um ihren Rückhalt im Westen nicht zu verlieren. Zwar wollen fast 50 Prozent in die EU eintreten, aber nur 41,4 Prozent sind für einen Nato-Beitritt (das entspricht einer Anfang des Jahres veröffentlichten Umfrage). Mehr Arbeitsplätze, höhere Renten und Löhne, weniger Korruption sind die Wünsche in einem Land, in dem die Unzufriedenheit und Apathie vorherrschen.
Die Ukraine ist ein Land, das sich leert. Viele Menschen suchen das Heil in der Migration. Das im Übrigen auch, weil der Westen mit seiner Politik und seiner Unterstützung korrupter Regimes seinen antirussischen Kurs fährt, aber wieder einmal Migration verursacht. Nach einer Umfrage, die im April durchgeführt wurde, wollen 7 Prozent ins Ausland, 6 Prozent überlegen es sich. Die meisten wollen nach Polen, gefolgt von der Tschechischen Republik, Deutschland, Russland und die USA. Abwandern wollen eher Männer, solche mit höherer Bildung und jüngere Menschen. Erstaunlich: Im Donbass wollen die wenigsten ins Ausland.
Nach der kürzlich gestarteten Website ukrainianpeopleleaks.com verlassen jede Minute zwei Menschen die Ukraine. Seit Start der Website am 20. März hätten bereits 360.000 Menschen die Ukraine verlassen, vor allem um woanders Arbeit zu finden. Es sind also Wirtschaftsflüchtlinge, die der Arbeitslosigkeit oder geringen Löhnen entkommen wollen, peinlicherweise in einem Land, für dessen Zustand der Westen, die EU und der IWF direkt Verantwortung trägt. Allerdings ist unklar, woher die Zahlen kommen. Nach dem Statistikamt ist letztes Jahr die Bevölkerung um fast eine Million zurückgegangen. 2013 lebten noch 45.439.822 Menschen in der Ukraine, Anfang 2018 sind es nach dem Statistikamt 42.386.403. Ohne Migration wäre die Arbeitslosigkeit von jetzt fast 10 Prozent deutlich höher.
Aber der Fakt liegt auf der Hand (Brain Drain: Massenauswanderung aus der Ukraine). Letztes Jahr hatte der ukrainische Außenminister Klimkin gesagt, dass jeden Monat 100.000 Menschen das Land auf der Suche nach Arbeit verlassen, nach dem Sozialpolitikminister Reva sollen 3,2 Millionen Menschen in ein anderes Land gezogen sein, zeitweise würden 9 Millionen Ukrainer woanders arbeiten. Dabei verdienen sie im Ausland oft weniger als ihre heimischen Kollegen, in der Regel arbeiten sie auch in Jobs mit geringeren Anforderungen, als ihrer Ausbildung entspräche.
Nach anderen Einschätzungen haben bereits 5 Millionen Ukrainer ihr Land verlassen. Schätzungen sind schwierig, weil die meisten im Ausland illegal arbeiten. Danach würde in Russland noch die Mehrzahl arbeiten, nämlich 3 Millionen. Der Grund ist klar. Der Durchschnittsverdienst in der Ukraine beträgt etwa 250 US-Dollar monatlich, in Russland 500 und in der EU 1500.
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