Ukraine: Einigkeit und Kampf um Freiheit?
Seite 2: Ein politisch homogenes Volk?
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Die zweite Annahme, die beim Maidan als "Freiheitskampf der Ukraine" mitschwingt, ist die von einem einigen ukrainischen Volk. "Die Ukrainer bekennen sich zur Freiheit", jubilierte ganz pauschal die Welt nach der Parlamentswahl. "Die Ukraine" fühle sich "leidenschaftlich" zum EU-Europa "hingezogen", ist man sich bei der Frankfurter Rundschau sicher. Und Springers Welt setzt noch einen drauf "Die Ukrainer wollen in die Nato", hieß es im Dezember 2014.7
Zu Beginn des Euromaidan war in Medienberichten hingegen noch oft von der Spaltung des Landes in "pro-russischen" Osten und "pro-europäischen" Westen zu hören. Damals war schon bekannt, dass über ein Jahrzehnt hinweg "jeweils 30 bis 40 Prozent der ukrainischen Bevölkerung für eine EU-Integration und etwa genauso viele für eine Integration mit Russland" waren, wie der Bremer Osteuropaforscher Heiko Pleines erläutert.
Diese Einsicht hatte für die Berichterstattung hierzulande meist jedoch keine Konsequenzen und ist mittlerweile auch kaum noch zu hören. Inzwischen vermitteln deutsche Leitmedien nämlich eine andere Sicht: "Heute wird das Bild einer einigen und nach Westen orientierten Ukraine gezeichnet, die lediglich von Moskau und seinen ferngesteuerten Marionetten destabilisiert wird", kritisiert die frühere Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, in einem Buch.8
Eine Gesellschaft voller Risse
"Die ukrainische Gesellschaft ist nicht geeint, sondern durch viele Risse und Gegensätze gekennzeichnet", erläutert Roman Danyluk auf Telepolis-Anfrage. Der Münchener Gewerkschafter mit ukrainischen Wurzeln hat Sachbücher zum Maidan und zur Geschichte der Ukraine geschrieben. Gesellschaftliche Ansichten sind historisch gewachsen, betont er. Die westukrainische Bevölkerung sei immer vor allem an Mitteleuropa interessiert gewesen. "Die Region war nur für 46 Jahre mit Russland in einem gemeinsamen Staatsverband." Wohingegen Gebiete der Süd- und Ostukraine fast 350 Jahre Teil Russlands waren.
Die Ukraine ist ein Land mit (mindestens) zwei Sprachen, vier großen östlichen Kirchen und einer völlig unterschiedlichen regionalen historischen Erinnerungskultur.
Zudem dürfe auch die wirtschaftliche Teilung des Landes nicht vergessen werden, unterstreicht Danyluk.10 Viele Westukrainer hofften durch die EU auf rechtstaatliche Standards und zusätzliche Arbeitsplätze für ihre Branchen Tourismus, IT und Landwirtschaft. Während der industrialisierte Südosten des Landes mit seinen Millionenstädten um die traditionellen Verflechtungen mit Russlands Wirtschaft weiß.11
Auch die sozialen Ungleichheiten in der Ukraine müssten bedacht werden, sagt Danyluk. Diese seien noch um einiges krasser als in Deutschland. Doch deutsche Leitmedien stellten das alles nicht oder nur vereinfacht dar.
In der Ukraine gibt es viele Sichten, viele Interessen, viele Hoffnungen und noch mehr Illusionen.
Vielfältige Gesellschaft
Journalisten, die von dem einen ukrainischen Volk sprechen, sollten wissen, dass die Ukraine sprachlich, ethnisch, kulturell und historisch ein höchst uneinheitliches Land ist.12 In Standardwerken von Historikern und Ukraine-Experten finden sich klare Hinweise auf diese Heterogenität: Die Hamburger Osteuropa-Historikerin Kerstin S. Jobst13 und der Wiener Professor für Osteuropäische Geschichte, Andreas Kappeler14, identifizieren jeweils in ihren Büchern fünf verschiedene Teilregionen der Ukraine. Und der Berliner Osteuropahistoriker Grzegorz Rossoliński-Liebe erklärte kürzlich im Interview mit Telepolis"Ohne historische Aufarbeitung bleibt die Ukraine ein Pulverfass":
Die Ukrainer sind aufgrund ihrer Geschichte vielfältig, haben verschiedene lokale und nationale Identitäten, obwohl das Land durch die Sowjetisierung vereinheitlicht wurde. Die meisten in der Ukraine lebenden Menschen definieren sich zwar als Ukrainer, aber sie sprechen nicht alle Ukrainisch und fühlen sich verschiedenen historischen Traditionen zugehörig. Galizien hat eine andere Geschichte als die Zentral- oder die Ostukraine. Transkarpatien hat nur bedingt etwas mit der Krim oder der Ostukraine zu tun. Um so einen Staat kulturpolitisch angemessen zu verwalten, muss man seine Vielfalt akzeptieren und mit ihr umgehen können. Man kann nicht von allen seinen Bürgern verlangen, dass sie sich mit einer nationalistischen Version der ukrainischen Geschichte identifizieren oder dass sie alle und in allen Situationen Ukrainisch sprechen.
Doch in deutschen Leitmedien werden häufig das in der Westukraine vorherrschende Selbstbild und Geschichtsverständnis sowie die daraus folgenden politischen Implikationen pauschal auf die ganze Ukraine übertragen.
Die Tragödie der Zerissenheit
Die westlich orientierte Sicht einiger Ukrainer als die Haltung aller Einwohner darzustellen, sei weder korrekt noch legitim, kritisiert der ukrainische Journalist Viktor Timtschenko gegenüber Telepolis:
Wenn 500.000 oder eine Million Menschen in der Ukraine auf die Straße gehen, dann ist das nicht repräsentativ.
Auf den ersten Blick sind das beeindruckende Zahlen, jedoch gebe es keinen Nachweis dafür, dass der Euromaidan damals die Mehrheitsmeinung in der Ukraine widerspiegelte.15 Es habe immer gespaltene Stimmungsbilder bei Ost-West-Fragen im Land gegeben, ergänzt der in Deutschland lebende Autor.
Die Tragödie der Ukraine ist ihre Zerrissenheit.
Bestätigt wird Timtschenko von Zahlen privater ukrainischer Forschungsinstitute. Demnach hätten sich fast 82 Prozent der Ukrainer in keiner Weise am Euromaidan beteiligt. Nur rund 18 Prozent der Menschen zwischen Karpaten und Donbass gingen während der drei Monate Euromaidan wenigstens einmal zu einer Pro-Maidan-Demonstration (egal wo) oder spendeten etwas, um Demonstranten zu helfen (Lebensmittel, Sachgüter, Geld). 16 Während in der Westukraine mehr als 53 Prozent der Bewohner den Maidan aktiv unterstützten, waren es im deutlich bevölkerungsreicheren Osten und Süden des Landes nur rund vier Prozent.17
Die politischen Folgen der Differenzen ließen sich zuletzt auch bei der Parlamentswahl beobachten. Während in der Region Lwiw mehr als 71 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben, gingen im südukrainischen Gebiet Odessa gerade mal 39,75 Prozent der Menschen zur Wahl. In anderen südlichen und östlichen Gebieten sah es ähnlich trist in den Wahllokalen aus.18 Es sei einfach von Beginn an klar gewesen, dass die Westanhänger diese Wahl gewinnen, erläutert Viktor Timtschenko. Viele Menschen in den südlichen und östlichen Landesteilen wollten diese aber nicht wählen. Darum seien sie gleich zu Hause geblieben.
Vergessener Anti-Maidan
Besonders der Bürgerkrieg in der Ostukraine befeuert den Mythos vom Freiheitskampf gegen einen äußeren Aggressor. Timtschenko ist sich zwar sicher, dass aufseiten der neuen Republiken Donezk und Lugansk "massiv" russische Kämpfer aktiv seien - allerdings keine regulären Truppen.
Das sind größtenteils Freiwillige sicherlich mit Kriegserfahrung und mit technischem Nachschub aus Russland.
Aber auch bei diesem Bürgerkrieg vergesse man hierzulande gern die unterschiedlichen Ansichten in der Ukraine. Der aus Charkiw stammende Autor erinnert an den "Anti-Maidan", der vor mehr als einem Jahr als innerukrainische Gegenbewegung zum Euromaidan entstand. Dieser wurde in deutschen Leitmedien regelmäßig ignoriert oder als "von Janukowitsch gekauft" diffamiert.19 Viele Ukrainer machten dort jedoch aus freien Stücken mit, sagt Timtschenko. Sie wollten etwas gegen die Kiewer Ereignisse tun. "Und diese Leute sind weiterhin da und zum Teil kämpfen sie in diesen neuen Republiken."20
Ukrainer gegen Ukrainer
Der ukrainischstämmige Autor Roman Danyluk sagt, der Anti-Maidan sei eine Reaktion der Ukrainer im Süden und Osten auf den Maidan und den Machtwechsel gewesen. Mit der anti-sozialen Kürzungspolitik der neuen Regierung hätte sich der Anti-Maidan immer weiter radikalisiert. Obwohl auch "russisch-chauvinistische" Kräfte ihr Süppchen auf den Protesten kochten, sei der Anti-Maidan ursprünglich eine soziale Basisinitiative gegen die "miesen Lebensbedingungen" gewesen.21
Die hauptstädtische Mittelschicht und die westukrainischen Meinungsführer waren auf derartigen Protest nicht vorbereitet und organisierten den Waffengang gegen die eigene Bevölkerung, erläutert Danyluk.
Nach dem Umsturz am 22. Februar gingen prowestliche und prorussische Ukrainer aufeinander los.
Erst später seien die Proteste von separatistischen und russisch-nationalistischen Gruppen übernommen und instrumentalisiert worden. Die Separatisten gehen mit Gewalt gegen öffentliche Arbeiterproteste vor und agieren nur im Sinne lokaler Oligarchen- und russischer Staatsinteressen, kritisiert der Gewerkschafter.
Enttäuschung über parteiische Medien
Die Bezeichnung des Euromaidan als Freiheitskampf eines Volkes gegen einen Diktator kann nach den vorangegangenen Betrachtungen nur als (gelungener) PR-Spin bezeichnet werden.22 In diesem Falle eine öffentlichkeitswirksame Interpretation der Ereignisse, die dabei half, die demokratischen und sozialen Reformhoffnungen vieler friedlicher Maidan-Teilnehmer in der Ukraine zugunsten von Nationalismus und neoliberaler Reformpolitik vollständig zu verdrängen.
Die große Mehrheit hiesiger Medien trägt die These vom Freiheitskampf des Volkes trotzdem unreflektiert mit. Mehr noch: Die Simplifizierung wird von Leitmedien derart forciert, dass der Mythos mittlerweile zur absolut vorherrschenden Interpretation des Maidan in der westlichen Öffentlichkeit geworden ist.
Besonders enttäuscht zeigt sich der ukrainische Journalist Viktor Timtschenko deshalb auch von deutschen Leitmedien. Deren Berichte seien trotz der langen Präsenz des Ukraine-Konflikts einseitig und oberflächlich. Vor allem die Korrespondenten zeigten sich weder unabhängig noch unparteiisch. Viele berichteten nur aus ihren Überzeugungen heraus.
"Ich dachte es gibt da mehr Distanz", kritisiert Timtschenko. "Aber die deutschen Medien haben Partei ergriffen und kämpfen für ihre Seite." In Berichten werde meist ein Teil der Wahrheit verschwiegen. In politische Sendungen hierzulande würden auch fast nur Ukrainer mit anti-russischer Haltung eingeladen. Es solle eben ein homogenes Bild von Ukrainern präsentiert werden.
Aufklärung statt PR
Dabei könnten die großen deutschen Medien ihre Ressourcen ganz anders einsetzen: Der ukrainische Machtwechsel im Februar 2014 war eines der wichtigsten politischen Ereignisse des vergangenen Jahres. Und auch wenn es in einigen Medien zum Jahrestag manch kritische Töne zu den neuen Herrschern gab, bleiben die wichtigsten Fragen des damaligen Geschehens zwölf Monate später noch immer offen. Die Verantwortlichen der Scharfschützenmorde vom 20. Februar sind heute genauso unbekannt wie die Initiatoren des bewaffneten Sturms auf Regierungsgebäude am Tag danach. Ebenso wenig wird beleuchtet, dass und warum westliche Politiker so wenig an Antworten hierauf interessiert sind.
Die deutschen Leitmedien besitzen die notwendigen Ressourcen, für aufklärende Recherchen oder zumindest für öffentlichen Druck zur Ermittlung in diesen und weiteren schweren Verbrechen des Konflikts. Statt in ihrer Mehrheit eine mythisch-simplifizierende PR-Geschichte zu erzählen, könnten Medien mit der Aufklärung der brisanten und entscheidenden Fragen verlorenes Vertrauen in der Gesellschaft zurückgewinnen. Die Verantwortlichen müssten beides nur wollen.