Ukraine: Einigkeit und Kampf um Freiheit?

Euromaidan in Kiew, 23. Dezember 2013. Bild: Alexandra Gnatoush/CC BY 2.0

Im Gedächtnis der Leitmedien hierzulande hat vom Euro-Maidan nur die simplifizierte Deutung vom Freiheitskampf überlebt. Die Wirklichkeit ist komplizierter

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Vor gut einem Jahr erreichte der Euromaidan in Kiew seinen blutigen Höhepunkt. Am Ende waren mehr als 100 Menschen tot und die politische Opposition hatte zusammen mit militanten Radikalen Präsident Viktor Janukowitsch entmachtet. Neben dem Machtwechsel stand der Maidan in den Monaten zuvor auch für zahlreiche weitere bis heute nicht realisierte Forderungen. Im Gedächtnis der Leitmedien hierzulande hat allerdings nur eine mythisch-simplifizierte Deutung überlebt: "Der Maidan war der Freiheitskampf der Ukrainer."

Dem Euromaidan lagen in seinen ersten Wochen (November und Dezember 2013) mehrere Protestmotive zu Grunde. Die Entmachtung Janukowitschs und der Regierung war dabei das Hauptziel der meisten Teilnehmer, wie damalige Umfragen nahelegen. Daneben ging es auch um eine politische Annäherung an die EU und die damit verbundenen Hoffnungen auf mehr Lebens-Chancen und Wohlstand.

Zahlreiche Maidan-Demonstranten waren zudem gegen die umfassende Macht der Oligarchen auf die Straße gegangen. Nicht ganz zu Unrecht führten sie ihre eigene Armut auf den Reichtum dieser dünnen Oberschicht zurück. Auch gegen Polizeigewalt, gegen die eigene Rechtlosigkeit, gegen Amtswillkür und die geradezu alltägliche Selbstbereicherung ukrainischer Politiker standen viele Menschen auf dem Maidan.

Im Januar und Februar 2014 wurden die Proteste sehr viel gewalttätiger. Vor allem militante Rechtsradikale suchten immer wieder die direkte Auseinandersetzung mit der Polizei. Immer weniger Menschen trauten sich noch auf den Maidan - besonders die Zahl der Frauen sank erheblich, wie vergleichende Umfragen zeigen. Zum Ende standen vor allem kampfbereite Zugereiste auf den Straßen des Kiewer Stadtzentrums. Befragungen1 und die Herkunft vieler späterer Todesopfer aus der Westukraine sind ein Beleg dafür.

Neben Protestmotiven, Geschlecht und regionaler Herkunft ist auch die soziale Herkunft der damaligen Demonstranten zu bedenken. Der Kölner Journalist und Sozialwissenschaftler Jörg Kronauer verweist dazu auf die westorientierten, urbanen Mittelschichten der Ukraine. Sie seien die Basis sowohl der "Orangenen Revolution" 2004 als auch des Euromaidan gewesen.2 Diese Milieus befänden sich in der Ukraine dauerhaft in instabilen, wirtschaftlich prekären Situationen. Dies treibe sie zu besonderem politischen Aktivismus. Und laut Kronauer hätten genau daran die westlichen Unterstützer angedockt.

Diese Hinweise deuten an, der Euromaidan ließe sich - gerade mit einem Jahr Abstand - durchaus tiefergehend und differenziert analysieren. Doch in hiesigen Leitmedien wurde, mit Blick auf Wladimir Putin, in den vergangenen zwölf Monaten fast nur ein einziges mythisches Bild des Euromaidan gepflegt: Er sei der Freiheitskampf des ukrainischen Volkes gewesen.

Kämpfte "das" Volk für "die" Freiheit?

"Der Maidan hat den festen Willen der Ukrainer für Freiheit und Demokratie gezeigt", schreibt etwa Bild-Reporter Paul Ronzheimer zum Jahrestag des Protestbeginns im November. "Die Ukrainer" hätten damals auf dem Maidan Suppe gekocht, Klavier gespielt und von Freiheit geträumt, erklärt Reporter Steffen Dobbert den Lesern bei Zeit-Online. Auf dem Maidan "kämpften und starben über 70 Ukrainer für ihre Freiheit", ist auch beim Focus zu lesen. Für ARD-Korrespondentin Golineh Atai waren die Maidan-Demonstranten "Freiheitskämpfer", mit denen Journalisten deshalb quasi automatisch "sympathisiert" hätten.

In einem Erklär-Video bei Spiegel-Online sagt der Sprecher zusammenfassend: "Vor einem Jahr kämpften die Menschen auf dem Maidan für ihre Freiheit." Und als das ZDF im Januar einen evangelischen Gottesdienst aus der deutschen Kirche St. Katharina in Kiew übertrug, erklärte Andrea Ballschuh, die das vorangehende Magazin moderierte: In dem Gottesdienst werde "an den Freiheitskampf der Ukrainer auf dem Maidan erinnert".3

Diese ständig wiederkehrende simplifizierte Deutung der Ereignisse vom Euromaidan ist hochproblematisch, denn sie erzeugt ein objektiv falsches Narrativ - einen erzählerischen Mythos - vom Maidan, der emotionalisieren soll und gleichzeitig eine nüchtern-kritische Analyse der tatsächlichen Geschehnisse erschwert.

Dabei fußt diese Simplifizierung auf zwei nur selten hinterfragten Annahmen. Zum einen, dass die Ukraine bzw. ihre Bewohner vor dem Maidan unfreier gewesen wären als danach. Zum anderen, dass es ein in seinen politischen Ansichten geeintes ukrainisches Volk gebe. Die deutschen Leitmedien machen ihren Nutzern immer wieder klar: Der Euromaidan sei nicht der politische Kampf einiger bestimmter Ukrainer gewesen, sondern die "Revolution" der ganzen Bevölkerung gegen einen autoritären Herrscher und seine kleine Clique.

Welche Freiheit ist gemeint?

Doch um welche Freiheit ging es eigentlich konkret? Der Begriff "Freiheitskampf" suggeriert eine vorherige Unterdrückung. Bei früheren Sowjetrepubliken denken viele dabei sofort an die Herrschaft des Kremls. Doch die Ukraine ist bereits seit 1991 von Moskau politisch unabhängig - in dieser Hinsicht war das Land vor dem Maidan genauso "frei" wie danach.4

Die "Freiheit", ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union auch gegen den Willen Moskaus zu unterzeichnen, hatte die Ukraine ebenfalls schon vor dem Maidan. Viktor Janukowitsch war es sogar, der das Abkommen in seiner Amtszeit vorantrieb. Und bereits im Frühjahr 2012, als es noch gar keinen russischen Widerstand dagegen gab, wie der frühere EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen betonte, hätte der schon fertige Vertrag unterzeichnet werden können. Damals verweigerte sich jedoch die EU. Deren Verhandlungsführer wollten noch ein bisschen mehr herausholen - vor allem die im Gefängnis sitzende Julia Timoschenko.

Eingriffe in die staatliche Souveränität durch wirtschaftlichen oder diplomatischen Druck erlebte die Ukraine in den vergangenen Jahren also aus mehreren Richtungen. Und auch der Euromaidan hat nichts an der finanziellen Unfreiheit des Staates geändert - die Ukraine ist heute mindestens genauso abhängig von externen Geldgebern wie vor dem Maidan.

Doch gab es nicht eine indirekte Unterdrückung der Ukraine dadurch, dass der 2010 gewählte Viktor Janukowitsch nur eine Marionette Wladimir Putins war? Diese These ist zwar oft zu hören, doch spiegelt sie die Amtszeit des gestürzten Präsidenten verzerrt wieder. Janukowitsch war nicht "pro-russisch", schreibt der Slawistiker und frühere ARD-Osteuropa-Korrespondent Reinhard Lauterbach.5

Janukowitsch habe vielmehr eine "Schaukelpolitik" zwischen West und Ost ganz im Sinne der ostukrainischen Oligarchen betrieben. Genauso wie das bereits sein Vorvorgänger und politischer Ziehvater Leonid Kutschma tat. Auch andere Osteuropa-Journalisten sehen das so.6

Mehr individuelle Freiheiten?

Innenpolitisch agierte Janukowitsch durchaus autoritär. Unter ihm stieg etwa der Druck auf Justiz und Verwaltung stark an. Ukraine-Experten konstatierten seit 2010 fast unisono, dass das Land sich immer mehr zu einer Diktatur entwickle. Sind mit der gewonnen "Freiheit" durch den Maidan also neue gesellschaftliche Freiheiten und persönlichen Freiheitsrechte gemeint?

Doch auch in dieser Hinsicht haben die Ukrainer wenig hinzugewonnen. Manche persönliche Freiheiten werden durch die neuen Machthaber sogar bedroht. Beispiel Meinungs- und Versammlungsfreiheit: So schreibt etwa der Journalist Andreas Stein über die Phase vor den Parlamentswahlen im letzten Oktober:

Diese Wahlen im Zeichen des Krieges können allerdings nur bedingt als frei bezeichnet werden. Niemand kann derzeit in der Ukraine Kandidaten, die nicht im patriotischen Mainstream schwimmen, freie Bewegung und eine freie Kampagne garantieren. Die radikalisierten und zum Teil bewaffneten Teile der ukrainischen Gesellschaft gehen gewaltsam gegen Vertreter anderer Meinungen vor. Diffamierungen als "Agent des Kremls", "Separatist", "Kollaborateur" oder "Vaterlandsverräter" und darauffolgende Selbstjustiz sind angesichts des fehlenden Vertrauens in die Rechtsorgane an der Tagesordnung. Eine Teilschuld hierfür liegt bei der Postmaidan-Regierung (…).

Beispiel Pressefreiheit: Nach den Wahlen beschloss das neu gewählte Parlament die Gründung eines "Informationsministeriums". Es soll "russische Propaganda" zurückdrängen. "Propaganda bekämpft man nicht durch Propaganda", kritisierte Christian Mihr von der Initiative Reporter ohne Grenzen. "Stattdessen sollte man unabhängige Medien und kritische Journalisten ermutigen." Doch die Tatsache, dass nahezu alle großen ukrainischen TV-Sender und Zeitungen im Besitz pro-westlich gewendeter Oligarchen sind, lässt auch Hoffnungen auf "freie Medien" illusionär erscheinen.

Beispiel Reisefreiheit: Heute genau wie auch vor dem Maidan dürfen Staatsbürger der Ukraine nicht ohne Visum in die EU einreisen, worauf vor allem zahlreiche Westukrainer gehofft hatten. Die Ukraine hatte die Visumpflicht für EU-Bürger stattdessen bereits 2005 abgeschafft. Politisches Ziel damals sei es gewesen, "Visafreiheit auf beiden Seiten herzustellen", erläuterte 2010 Valerij Tschalyj vom Rasumkow-Forschungsinstitut (inzwischen ist er stellvertretender Chef der ukrainischen Präsidialverwaltung) gegenüber der Deutschen Welle. Bis heute verweigert sich jedoch die EU der Visafreiheit.

Was ökonomische Freiheiten angeht - solche haben auch nach dem Maidan ausschließlich Oligarchen und Günstlinge aus deren Umfeld, berichtet ARD-Korrespondent Jan Pallokat. Und ganz grundsätzlich sorgen die Austeritätspolitik von IWF und neuer Regierung sowie die starke Inflation dafür, dass die meisten Ukrainer nun deutlich weniger Geld zur freien Verfügung haben und damit unfreier in ihren Möglichkeiten sind.

Ein politisch homogenes Volk?

Die zweite Annahme, die beim Maidan als "Freiheitskampf der Ukraine" mitschwingt, ist die von einem einigen ukrainischen Volk. "Die Ukrainer bekennen sich zur Freiheit", jubilierte ganz pauschal die Welt nach der Parlamentswahl. "Die Ukraine" fühle sich "leidenschaftlich" zum EU-Europa "hingezogen", ist man sich bei der Frankfurter Rundschau sicher. Und Springers Welt setzt noch einen drauf "Die Ukrainer wollen in die Nato", hieß es im Dezember 2014.7

Zu Beginn des Euromaidan war in Medienberichten hingegen noch oft von der Spaltung des Landes in "pro-russischen" Osten und "pro-europäischen" Westen zu hören. Damals war schon bekannt, dass über ein Jahrzehnt hinweg "jeweils 30 bis 40 Prozent der ukrainischen Bevölkerung für eine EU-Integration und etwa genauso viele für eine Integration mit Russland" waren, wie der Bremer Osteuropaforscher Heiko Pleines erläutert.

Diese Einsicht hatte für die Berichterstattung hierzulande meist jedoch keine Konsequenzen und ist mittlerweile auch kaum noch zu hören. Inzwischen vermitteln deutsche Leitmedien nämlich eine andere Sicht: "Heute wird das Bild einer einigen und nach Westen orientierten Ukraine gezeichnet, die lediglich von Moskau und seinen ferngesteuerten Marionetten destabilisiert wird", kritisiert die frühere Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, in einem Buch.8

Eine Gesellschaft voller Risse

"Die ukrainische Gesellschaft ist nicht geeint, sondern durch viele Risse und Gegensätze gekennzeichnet", erläutert Roman Danyluk auf Telepolis-Anfrage. Der Münchener Gewerkschafter mit ukrainischen Wurzeln hat Sachbücher zum Maidan und zur Geschichte der Ukraine geschrieben. Gesellschaftliche Ansichten sind historisch gewachsen, betont er. Die westukrainische Bevölkerung sei immer vor allem an Mitteleuropa interessiert gewesen. "Die Region war nur für 46 Jahre mit Russland in einem gemeinsamen Staatsverband." Wohingegen Gebiete der Süd- und Ostukraine fast 350 Jahre Teil Russlands waren.

Die Ukraine ist ein Land mit (mindestens) zwei Sprachen, vier großen östlichen Kirchen und einer völlig unterschiedlichen regionalen historischen Erinnerungskultur.

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Zudem dürfe auch die wirtschaftliche Teilung des Landes nicht vergessen werden, unterstreicht Danyluk.10 Viele Westukrainer hofften durch die EU auf rechtstaatliche Standards und zusätzliche Arbeitsplätze für ihre Branchen Tourismus, IT und Landwirtschaft. Während der industrialisierte Südosten des Landes mit seinen Millionenstädten um die traditionellen Verflechtungen mit Russlands Wirtschaft weiß.11

Auch die sozialen Ungleichheiten in der Ukraine müssten bedacht werden, sagt Danyluk. Diese seien noch um einiges krasser als in Deutschland. Doch deutsche Leitmedien stellten das alles nicht oder nur vereinfacht dar.

In der Ukraine gibt es viele Sichten, viele Interessen, viele Hoffnungen und noch mehr Illusionen.

Vielfältige Gesellschaft

Journalisten, die von dem einen ukrainischen Volk sprechen, sollten wissen, dass die Ukraine sprachlich, ethnisch, kulturell und historisch ein höchst uneinheitliches Land ist.12 In Standardwerken von Historikern und Ukraine-Experten finden sich klare Hinweise auf diese Heterogenität: Die Hamburger Osteuropa-Historikerin Kerstin S. Jobst13 und der Wiener Professor für Osteuropäische Geschichte, Andreas Kappeler14, identifizieren jeweils in ihren Büchern fünf verschiedene Teilregionen der Ukraine. Und der Berliner Osteuropahistoriker Grzegorz Rossoliński-Liebe erklärte kürzlich im Interview mit Telepolis"Ohne historische Aufarbeitung bleibt die Ukraine ein Pulverfass":

Die Ukrainer sind aufgrund ihrer Geschichte vielfältig, haben verschiedene lokale und nationale Identitäten, obwohl das Land durch die Sowjetisierung vereinheitlicht wurde. Die meisten in der Ukraine lebenden Menschen definieren sich zwar als Ukrainer, aber sie sprechen nicht alle Ukrainisch und fühlen sich verschiedenen historischen Traditionen zugehörig. Galizien hat eine andere Geschichte als die Zentral- oder die Ostukraine. Transkarpatien hat nur bedingt etwas mit der Krim oder der Ostukraine zu tun. Um so einen Staat kulturpolitisch angemessen zu verwalten, muss man seine Vielfalt akzeptieren und mit ihr umgehen können. Man kann nicht von allen seinen Bürgern verlangen, dass sie sich mit einer nationalistischen Version der ukrainischen Geschichte identifizieren oder dass sie alle und in allen Situationen Ukrainisch sprechen.

Doch in deutschen Leitmedien werden häufig das in der Westukraine vorherrschende Selbstbild und Geschichtsverständnis sowie die daraus folgenden politischen Implikationen pauschal auf die ganze Ukraine übertragen.

Die Tragödie der Zerissenheit

Die westlich orientierte Sicht einiger Ukrainer als die Haltung aller Einwohner darzustellen, sei weder korrekt noch legitim, kritisiert der ukrainische Journalist Viktor Timtschenko gegenüber Telepolis:

Wenn 500.000 oder eine Million Menschen in der Ukraine auf die Straße gehen, dann ist das nicht repräsentativ.

Auf den ersten Blick sind das beeindruckende Zahlen, jedoch gebe es keinen Nachweis dafür, dass der Euromaidan damals die Mehrheitsmeinung in der Ukraine widerspiegelte.15 Es habe immer gespaltene Stimmungsbilder bei Ost-West-Fragen im Land gegeben, ergänzt der in Deutschland lebende Autor.

Die Tragödie der Ukraine ist ihre Zerrissenheit.

Bestätigt wird Timtschenko von Zahlen privater ukrainischer Forschungsinstitute. Demnach hätten sich fast 82 Prozent der Ukrainer in keiner Weise am Euromaidan beteiligt. Nur rund 18 Prozent der Menschen zwischen Karpaten und Donbass gingen während der drei Monate Euromaidan wenigstens einmal zu einer Pro-Maidan-Demonstration (egal wo) oder spendeten etwas, um Demonstranten zu helfen (Lebensmittel, Sachgüter, Geld). 16 Während in der Westukraine mehr als 53 Prozent der Bewohner den Maidan aktiv unterstützten, waren es im deutlich bevölkerungsreicheren Osten und Süden des Landes nur rund vier Prozent.17

Die politischen Folgen der Differenzen ließen sich zuletzt auch bei der Parlamentswahl beobachten. Während in der Region Lwiw mehr als 71 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben, gingen im südukrainischen Gebiet Odessa gerade mal 39,75 Prozent der Menschen zur Wahl. In anderen südlichen und östlichen Gebieten sah es ähnlich trist in den Wahllokalen aus.18 Es sei einfach von Beginn an klar gewesen, dass die Westanhänger diese Wahl gewinnen, erläutert Viktor Timtschenko. Viele Menschen in den südlichen und östlichen Landesteilen wollten diese aber nicht wählen. Darum seien sie gleich zu Hause geblieben.

Vergessener Anti-Maidan

Besonders der Bürgerkrieg in der Ostukraine befeuert den Mythos vom Freiheitskampf gegen einen äußeren Aggressor. Timtschenko ist sich zwar sicher, dass aufseiten der neuen Republiken Donezk und Lugansk "massiv" russische Kämpfer aktiv seien - allerdings keine regulären Truppen.

Das sind größtenteils Freiwillige sicherlich mit Kriegserfahrung und mit technischem Nachschub aus Russland.

Aber auch bei diesem Bürgerkrieg vergesse man hierzulande gern die unterschiedlichen Ansichten in der Ukraine. Der aus Charkiw stammende Autor erinnert an den "Anti-Maidan", der vor mehr als einem Jahr als innerukrainische Gegenbewegung zum Euromaidan entstand. Dieser wurde in deutschen Leitmedien regelmäßig ignoriert oder als "von Janukowitsch gekauft" diffamiert.19 Viele Ukrainer machten dort jedoch aus freien Stücken mit, sagt Timtschenko. Sie wollten etwas gegen die Kiewer Ereignisse tun. "Und diese Leute sind weiterhin da und zum Teil kämpfen sie in diesen neuen Republiken."20

Ukrainer gegen Ukrainer

Der ukrainischstämmige Autor Roman Danyluk sagt, der Anti-Maidan sei eine Reaktion der Ukrainer im Süden und Osten auf den Maidan und den Machtwechsel gewesen. Mit der anti-sozialen Kürzungspolitik der neuen Regierung hätte sich der Anti-Maidan immer weiter radikalisiert. Obwohl auch "russisch-chauvinistische" Kräfte ihr Süppchen auf den Protesten kochten, sei der Anti-Maidan ursprünglich eine soziale Basisinitiative gegen die "miesen Lebensbedingungen" gewesen.21

Die hauptstädtische Mittelschicht und die westukrainischen Meinungsführer waren auf derartigen Protest nicht vorbereitet und organisierten den Waffengang gegen die eigene Bevölkerung, erläutert Danyluk.

Nach dem Umsturz am 22. Februar gingen prowestliche und prorussische Ukrainer aufeinander los.

Erst später seien die Proteste von separatistischen und russisch-nationalistischen Gruppen übernommen und instrumentalisiert worden. Die Separatisten gehen mit Gewalt gegen öffentliche Arbeiterproteste vor und agieren nur im Sinne lokaler Oligarchen- und russischer Staatsinteressen, kritisiert der Gewerkschafter.

Enttäuschung über parteiische Medien

Die Bezeichnung des Euromaidan als Freiheitskampf eines Volkes gegen einen Diktator kann nach den vorangegangenen Betrachtungen nur als (gelungener) PR-Spin bezeichnet werden.22 In diesem Falle eine öffentlichkeitswirksame Interpretation der Ereignisse, die dabei half, die demokratischen und sozialen Reformhoffnungen vieler friedlicher Maidan-Teilnehmer in der Ukraine zugunsten von Nationalismus und neoliberaler Reformpolitik vollständig zu verdrängen.

Die große Mehrheit hiesiger Medien trägt die These vom Freiheitskampf des Volkes trotzdem unreflektiert mit. Mehr noch: Die Simplifizierung wird von Leitmedien derart forciert, dass der Mythos mittlerweile zur absolut vorherrschenden Interpretation des Maidan in der westlichen Öffentlichkeit geworden ist.

Besonders enttäuscht zeigt sich der ukrainische Journalist Viktor Timtschenko deshalb auch von deutschen Leitmedien. Deren Berichte seien trotz der langen Präsenz des Ukraine-Konflikts einseitig und oberflächlich. Vor allem die Korrespondenten zeigten sich weder unabhängig noch unparteiisch. Viele berichteten nur aus ihren Überzeugungen heraus.

"Ich dachte es gibt da mehr Distanz", kritisiert Timtschenko. "Aber die deutschen Medien haben Partei ergriffen und kämpfen für ihre Seite." In Berichten werde meist ein Teil der Wahrheit verschwiegen. In politische Sendungen hierzulande würden auch fast nur Ukrainer mit anti-russischer Haltung eingeladen. Es solle eben ein homogenes Bild von Ukrainern präsentiert werden.

Aufklärung statt PR

Dabei könnten die großen deutschen Medien ihre Ressourcen ganz anders einsetzen: Der ukrainische Machtwechsel im Februar 2014 war eines der wichtigsten politischen Ereignisse des vergangenen Jahres. Und auch wenn es in einigen Medien zum Jahrestag manch kritische Töne zu den neuen Herrschern gab, bleiben die wichtigsten Fragen des damaligen Geschehens zwölf Monate später noch immer offen. Die Verantwortlichen der Scharfschützenmorde vom 20. Februar sind heute genauso unbekannt wie die Initiatoren des bewaffneten Sturms auf Regierungsgebäude am Tag danach. Ebenso wenig wird beleuchtet, dass und warum westliche Politiker so wenig an Antworten hierauf interessiert sind.

Die deutschen Leitmedien besitzen die notwendigen Ressourcen, für aufklärende Recherchen oder zumindest für öffentlichen Druck zur Ermittlung in diesen und weiteren schweren Verbrechen des Konflikts. Statt in ihrer Mehrheit eine mythisch-simplifizierende PR-Geschichte zu erzählen, könnten Medien mit der Aufklärung der brisanten und entscheidenden Fragen verlorenes Vertrauen in der Gesellschaft zurückgewinnen. Die Verantwortlichen müssten beides nur wollen.