Ukraine: Ist das schon die neue Offensive?

Seite 2: Russische Kriegsziele sind nun klar

Wesentlich klarer als die militärische Strategie der nächsten Tage und Wochen sind die Kriegsziele der russischen Seite. Wohl nicht ohne Rückendeckung von oben hat diese der stellvertretende Kommandeur des russischen Militärbezirks Ural, Rustam Minnekajew, auf einer verteidigungspolitischen Tagung in Jekaterinburg geschildert. Es ist nicht mehr die Rede von einer reinen "Befreiung" des Donbass. Die gesamte Süd- und Ostukraine, fast die Hälfte des gesamten Landes, solle erobert werden.

Dadurch werden Landkorridore zwischen dem russischen Mutterland und der Krim, sowie der Krim und Transnistrien, einem mehrheitlich russischsprachigen Teil des Nachbarlandes Moldawien geschaffen. Der ukrainische Reststaat würde komplett von der Küste des Schwarzen Meeres abgeschnitten. Auch wie es nach der militärischen Eroberung weiter ginge, zeigt sich schon sehr deutlich an der südukrainischen Region Cherson, die bereits unter russischer Kontrolle steht.

Mit diesen Waffensystemen führt Russland den Ukraine-Krieg (14 Bilder)

Russische 152-mm-Haubitze 2A65. Bild: Mil.ru / CC-BY-4.0

In einem ersten Schritt werden kollaborierende Verwaltungen von prorussischen Politikern vor Ort geschaffen. Diese könnten dann nach dem Vorbild des Donbass sogenannte Volksrepubliken ausrufen und den "Wunsch der Bewohner" formulieren, Teil Russlands zu werden, wie es etwa die Kreml-Nachrichtenagentur RIA Nowosti ausdrückt.

Untermauert wird das Szenario von sogenannten Volksabstimmungen, deren Ergebnis jedoch durch russische Aufsicht und die Tatsache, dass der den Russen feindselig gesinnte Bevölkerungsteil inklusive seiner politischen Elite bereits geflohen ist, vorprogrammiert ist.

Kompromisse könnten der russischen Führung schaden

Russland von diesem Kriegsziel abzubringen, dass von der Ukraine wohl nur im Wege einer Kapitulation akzeptiert werden würde, wird schwer sein. Eine Verhandlungslösung, in der Russland plötzlich im Wege eines Kompromisses wesentlich kleinere Brötchen backt, sei der eigenen, aufgeputschten Bevölkerung kaum zu vermitteln, glaubt der russische Journalist und Analyst Andrej Perzew.

Er beruft sich auf Quellen im Umfeld des Kremls, die festgestellt hätten, dass die eigene Pro-Kriegskampagne in der Bevölkerung gut anschlage, aber auch hohe Erwartungen an das Kriegsergebnis geweckt habe:

In einem Krieg muss man bis zum Sieg gehen, wenn er bereits begonnen hat. Hier nach Kiew oder sogar nach Lwiw. Du kannst Dich nicht zurückziehen.

Anonymer Gesprächspartner aus der russischen Regierung gegenüber Andrej Perzew von Meduza

Dementsprechend sind laut einer Umfrage der Firma Russian Field eine große Mehrheit der russischen Befürworter des Krieges aktuell gegen Friedensverhandlungen.

Ein Zurückgehen auf einen Kompromiss würde entsprechend Enttäuschung auslösen und Putins Rating schaden. Insbesondere wer der Regierungspropaganda von einer nötigen "Entnazifizierung der Ukraine" glaube, habe laut Meduza für einen solchen Friedensschluss kein Verständnis. Man müsse kämpfen bis zu einem Ergebnis, das man problemlos der eigenen Bevölkerung als "Sieg" verkaufen könne.

Mariupol russisch kontrolliert - außer einem Stahlwerk

Bei der Lage an der Front gibt es aber nicht nur Unklarheiten, sondern auch Fakten, die klar der Darstellung in einigen deutschen Zeitungen widersprechen, vor allem bei Thema Mariupol. So erweckt etwa t-online.de immer noch den Eindruck, die Stadt werde nur von russischen Truppen "belagert", sei also eingeschlossen, aber noch in ukrainischer Hand.

Tatsächlich wird jedoch nur noch das Gelände des großen Industriebetriebs Asowstal, also ein industrielles Firmengrundstück, von den eingeschlossenen etwa 2.000 ukrainischen Soldaten kontrolliert. Alle häufig stark zerstörten Wohngebiete der Stadt sind fest unter russischer Kontrolle.

Das ist mitnichten Propaganda. Die Lage der umzingelten Ukrainer ist dabei aussichtslos, wie Vertreter der gegen sie in Mariupol kämpfenden Separatisten zufrieden feststellen.

Die nationalen Bataillone [der Separatisten] haben den Wunsch durchzubrechen (…) Aber wenn die Blockade von Asowstahl richtig organisiert ist, werden die Militanten entweder vernichtet oder ergeben sich.

General Netkatschew von der "Volksrepublik Donezk" in der Nesawisimaja Gaseta vom 21.04.2022

Auch Gerhard Mangott bezeichnet die Eroberung dieser letzten ukrainisch kontrollieren Exklave in Mariupol gegenüber der Tagesschau als "Frage der Zeit". Die Nesawisimaja Gaseta sieht die Eroberung der Stadt als wichtigen Erfolg für Putin, der bei den alljährlichen Maifeierlichkeiten in Moskau eine zentrale Rolle spielen wird. Denn die kriegsbegeisterte Mehrheit der Russen darf nicht bröckeln und Siegesmeldungen sind dafür ein zumindest kurzfristig erfolgversprechendes Konzept.

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