Ukraine-Krieg: "Das ist nicht unser Krieg"
Mediensplitter (31): Die Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und dem Westen ist ein Fehlschlag, so der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. Er plädiert für "Frieden, Frieden, Frieden". Wie ist das einzuschätzen?
Wenn es einen Krieg gibt, dann ist das Reden über den Krieg Teil des Krieges, also ist es nur Propaganda.
Viktor Orban
Dies ist ein Medien-Coup, ein Interview, das es verdient, Schlagzeilen zu machen. Vor allem aber verdient es, aufmerksam und unvoreingenommen gelesen zu werden. Gut möglich, dass beides hierzulande trotzdem nicht geschehen wird, dass es die deutschen Leitmedien – sei es bewusst, sei es aus Unkenntnis – ignorieren.
Zum Schaden für die eigene Analyse und Fähigkeit zur nüchternen Lagebeurteilung.
Denn das Interview, das jetzt von Paul Ronzheimer in der Bild-Zeitung mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban geführt wurde, verdient es nicht, mit den üblichen Vorurteilen – und berechtigten – Abwehrreflexen gegen den Kampagnenjournalismus der Bild und den EU-Störenfied Orban abgetan zu werden.
Denn dort kann man nicht nur zwischen den Zeilen nachlesen oder nachhören, wie sich ein rechtspopulistischer Journalist mit einem rechtspopulistischen Politiker streitet. Wie Ronzheimer, dessen Zeitung innenpolitisch zurzeit gern als "neue APO" gegen die Ampel die AfD in den Schatten stellt, überaus staatstragend im Baerbock-Stil vorgeht.
Wie er alle Argumente der Reihe nach gegen Orban vorbringt, die vermeintlich für eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine und einen Siegfrieden am Krim-Ufer sprechen: Russland hat angefangen; Angreifer dürfen nicht belohnt werden; Russland wolle die Ukraine vernichten; Putin sei ein Diktator und Kriegsverbrecher und so fort.
"Was jetzt zwischen Russland und der Ukraine passiert, ist definitiv schlecht für Ungarn"
Orban wiederum plädiert – nicht anders als führende Vertreter der deutschen Kirchen – für "Frieden, Frieden, Frieden". Er betrachte die Ereignisse in der Ukraine "immer unter dem Gesichtspunkt des Friedens, weil ich der Meinung bin, dass es am wichtigsten ist, einen Waffenstillstand zu erreichen und irgendwie Frieden zu schaffen."
Seine eigene Position skizziert Orban in der Tradition der "Realistischen Schule" als von der Staatsraison und dem nationalen Interesse geleitet:
Was ich tue, sind Positionen und Aktionen, die gut für die Ungarn sind. Was jetzt zwischen Russland und der Ukraine passiert, ist definitiv schlecht für Ungarn.
Eine interessante Aussage, denn der ungarische Regierungschef macht klar, dass es bei politischem Handeln um konkrete Politik geht, nicht um abstrakte Ideen. Es geht um Interessen, nicht um Werte.
Das nationale Interesse, auf der Ministerpräsident Ungarns pocht, wäre hier allerdings noch im Einzelnen zu definieren. Liegt zum Beispiel eine isolationistische Position innerhalb des Westens wirklich im ungarischen Interesse?
"Die Ukraine ist kein souveränes Land mehr"
Seine kühlen Überlegungen führen den ungarischen Ministerpräsidenten allerdings zu einer bemerkenswert nüchternen Einschätzung der politischen und militärischen Lage in der Ukraine:
Ich stehe auf dem Boden der Realität. Die Realität ist, dass die Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und dem Westen ein Fehlschlag ist.
Politiker und Medien im Westen würden einem Missverständnis der Situation der Ukraine unterliegen: "Das Problem ist, dass den Ukrainern die Soldaten früher ausgehen werden als den Russen und das wird am Ende der entscheidende Faktor sein."
Die Ukraine sei komplett vom Westen abhängig und ein Spielball in der Interessenabwägung der USA.
Was wirklich zählt, ist, was die Amerikaner tun möchten. Die Ukraine ist kein souveränes Land mehr. Sie haben kein Geld mehr. Sie haben keine Waffen mehr. Sie können nur kämpfen, weil die Amerikaner sie unterstützen. Wenn die Amerikaner also beschließen, dass sie Frieden haben wollen, wird es Frieden geben.
Schon jetzt hätte die Ukraine eine riesige Menge an Wohlstand und viele Menschenleben verloren, in der Zukunft würden "unvorstellbar Zerstörungen" passieren. Darum sei ein Friedensschluss vor einer kompletten Zerstörung der Ukraine die einzige vernünftige Lösung.
Vielleicht hätte Orban hier allerdings hinzufügen sollen, dass eine solche Entscheidung vor allem für den Westen ein harter Schlag sein würde, weil sie dem Westen moralisch das Rückgrat brechen könnte, nachdem dieser bislang immerzu einem "Sieg" der Ukraine das Wort redet und den ukrainischen Krieg zum Schicksalskampf zwischen Gut und Böse stilisiert.
"Unser Recht ist es, Waffen und Geld zu geben"
Der einzige Weg, die Ukraine zu retten, sei, dass die US-Amerikaner direkte Verhandlungen mit Russland aufnehmen würden. Man müsse "eine Vereinbarung über ihre Sicherheitsarchitektur treffen und einen Platz für die Ukraine in dieser Sicherheitsarchitektur finden".
Orban plädiert dafür, die Verantwortung von den Militärs zurück auf die Diplomaten zu verlagern. Man dürfe den regionalen Krieg nicht zu einem globalen Krieg ausweiten lassen, auch nicht indirekt im Sinne eines globalen Wirtschaftskrieges oder indem man auch vom Süden und der Dritten Welt Parteiennamen verlangt und diese entsprechend mit Wirtschaftsverträgen belohnt oder bestraft.
In all dem, wie auch in der Absage an weitere Waffenlieferungen, stellt sich der ungarische Ministerpräsident deutlich gegen den offiziellen Ukraine-Kurs der EU.
Auf den häufig zu hörenden Einwand, dies sei allein eine Entscheidung der Ukraine, entgegnet Orban kühl:
Die Ukraine hat das Recht über ihre eigene Zukunft zu entscheiden, und darüber, ob sie in den Krieg ziehen oder nicht. Unser Recht ist es, Waffen und Geld zu geben. Ich möchte niemanden von etwas überzeugen. Das ist nicht meine Aufgabe. Es ist nicht unser Krieg.
Viktor Orban
Russische Innenansichten
Einer der wichtigsten Themenbereiche des Gesprächs ist die Frage der Einschätzung Russlands. Der Putschversuch der Wagner-Söldnertruppe vor einer Woche beispielsweise sei relativ bedeutungslos.
Ich sehe keine große Bedeutung in diesem Ereignis. Wir haben Nachrichtendienste, die sind zuverlässiger als andere.
Wenn das überhaupt passieren konnte, sei es zwar ein klares Zeichen von Schwäche, aber wenn es innerhalb von 24 Stunden erledigt wurde, werde das wiederum zu einem Zeichen von Stärke. Orbans Fazit:
Es ist vorbei und der Krieg geht weiter. (...) Wer glaubt, dass Putin als russischer Präsident abgesetzt werden könnte, der kennt das russische Volk nicht.
Also offenbar auch der russische Kriegs-Oligarch Prigoschin. Orban erinnert mit seiner Position auch daran, dass in Russland in den letzten 200 Jahren nur ein einziges Mal ein Herrscher gestürzt wurde: 1917 Zar Nikolaus II. Die anderen Herrscher starben an der Macht. Oder sie traten zurück oder sie wurden abgewählt, aber nicht durch eine Revolution, auch keine Palastrevolution beseitigt.
"Russland arbeitet und funktioniert anders als die europäischen Länder" - mit diesem Satz erklärt uns der ungarische Politiker eigentlich: Russland gehört nicht zu Europa.
Diese Position Orbans gegenüber Russland ist interessant für ein Land, das sehr großen Wert auf nationale Souveränität legt und von großem – viele würden sagen: übertriebenem – Nationalstolz und Nationalismus erfüllt ist, und das unter Russland mindestens zweimal im 20. Jahrhundert schwer gelitten hat: nach 1945 und 1956.
Zum historischen Bewusstsein und der speziellen ungarischen Situation gehört allerdings auch das Wissen darum, dass im Vertrag von Trianon (Teil der Versailler Verträge) 1918 Ungarn als Teil des besiegten Habsburgerreiches große Teile seines Staatsgebiets an das neu gegründete Polen abtreten musste, diese Teile wurden nach 1945 der sowjetischen Region Ukraine zugeschlagen.
Die Ukraine, die einerseits großen Wert auf die eigenen Territorien und ihr Staatsgebiet legt, denkt umgekehrt keineswegs daran, die Versailler Verträge und auch nicht die Nachkriegsverträge nach 1945 zu revidieren.
Denn dies würde bedeuten, dass die Ukraine große Teile ihres Staatsgebiets, und wieder andere Gebiete an Polen, Ungarn und etwa die Krim an Russland abtreten müsste.
"Den Ungarn zu sagen, dass sie Freunde Russland sind, widerspricht unseren historischen Erfahrungen"
Orban wehrt dabei sich gegen die im Westen weitverbreitete Einschätzung, er sei "Russenfreund" und ein politischer Gefolgsmann von Putins Politik:
Provozieren Sie mich mit dieser Frage? Sie wissen schon, den Ungarn zu sagen, dass sie Freunde Russland sind, widerspricht unseren historischen Erfahrungen.
Er besteht nur darauf, dass Russland anders funktioniert als wir. Orban verweist auf die Stabilität der Strukturen aus Geheimdiensten, Polizei, Armee. Es sei ein militärisch orientiertes Land.
Vergessen Sie nicht, dass die Russen nicht so ein Land sind wie wir, wie Deutschland oder Ungarn. Es ist eine andere Welt. Die Struktur ist anders, die Macht ist anders, die Stabilität ist anders. Wenn wir Russland aus unserer Logik verstehen wollen, werden wir uns immer wieder täuschen.
Viktor Orban
Putin sei beliebt und habe starke Strukturen im Rücken. Man müsse "den gesamten russischen Komplex" ernst nehmen.
Der Westen braucht mehr Metternich und weniger Baerbock
Die Ukraine wird Russland nicht besiegen. Mit dieser Kernaussage steht Orban nicht allein. Wichtige außenpolitische Experten, auch regierungsnahe US-amerikanischer Experten für internationale Politik warnen den Westen vor Wunschdenken.
Bei einem Vortrag an dem renommierten US-Think Tank Committee for the Republic, einer Non-Profit-Organisation, die für ihre vom offiziellen Kurs abweichenden Positionen bekannt ist, argumentierte kürzlich der Politikwissenschaftler John Mearsheimer ebenfalls mit nüchternen Erwägungen über Truppenzahlen und Fähigkeit zur nachhaltigen Kriegsführung.
Er kam zu dem Schluss, dass Russland sich nach den frühen Enttäuschungen des Jahres 2022 neu aufgestellt und 2023 alle wesentlichen Kriegsziele erreicht habe.
Eine Mehrheitsmeinung ist das freilich nicht. So ideologisch verbohrt, wie der Westen aus dem Konflikt einen Glaubens- und Weltanschauungskrieg gemacht und sich in den Schützengräben der eigenen Illusionen eingebuddelt hat, so muss man fürchten, dass nichts passiert, bis ein republikanischer Nachfolger von Joseph Biden dann den Ukraine-Konflikt ebenso beendet wie Nixon und Kissinger den von demokratischen Präsidenten vom Zaum gebrochenen und eskalierte Vietnamkrieg beendet haben.
Der Westen braucht aber schon heute mehr Metternich und weniger Baerbock.