Ukraine-Krieg: Die verschwiegene Terror-Gefahr aus dem Osten

Kämpfer des Asow-Bataillons vor einem Schützenpanzer der Nationalgarde der Ukraine. Soldiers_from_the_Azov_Battalion_move_into_position.jpg:Bild: Carl Ridderstråle, CC BY-SA 4.0

Während in Berlin immer mehr Waffen für Kiew gefordert werden, nimmt in Brüssel die Nervosität zu. Manch einer sieht schon eine Gefahr für die innere Sicherheit der EU

Der EU-Koordinator für die Terrorismusbekämpfung, Ilkka Salmi, und EU-Mitgliedsstaaten gehen angesichts des Krieges in der Ukraine von einer erhöhten Terrorgefahr für die Europäische Union aus.

Eine zugespitzte Gefährdungslage sehen Sicherheitspolitiker in Brüssel zum einen, weil Kämpfer aus Mitgliedsstaaten der Union und aus anderen Ländern derzeit in die Ukraine reisen. Kritisch bewertet wird aber auch die unkontrollierte Verbreitung von Waffen aus dem Krieg, wie Telepolis aus Brüsseler Diplomatenkreisen erfuhr.

Demnach zweigten sich Vertreter zweier Facharbeitsgruppen des Europäischen Rates bereits einen Monat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine alarmiert.

Die beiden Gremien, die sich für den Rat der Europäischen Union mit Fragen der Terrorismusbekämpfung beschäftigen, sahen zwar keine akute Terrorgefahr. Mitgliedsstaaten berichteten aber von verschärften Grenzkontrollen und warnten vor der Rückkehr politisch radikalisierter oder traumatisierter Kämpfer aus der Ukraine.

Die Gefahr geht dabei von beiden Seiten aus: Ausländische Söldner und Freiwillige stehen sowohl auf Seiten der russischen Angreifer als auch in Milizen auf ukrainischer Seite an der Front. Einige dieser Gruppierungen sind offen rechtsextrem, antisemitisch – und nun im bewaffneten Kampf ausgebildet.

Auch in Berlin beobachtet man diese Entwicklung aufmerksam. "Der Bundesregierung ist eine niedrige zweistellige Zahl an Rechtsextremisten bekannt, die seit Beginn der Kriegshandlungen in die Ukraine ausgereist sind.

Hiervon ist die überwiegende Anzahl wieder nach Deutschland zurückgekehrt", sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Anfrage von Telepolis. Erkenntnisse zur konkreten Beteiligung deutscher Staatsbürger an Kampfhandlungen in der Ukraine lägen der Bundesregierung nicht vor.

Generell sei davon auszugehen, so der Ministeriumssprecher, "dass die potenzielle Bewaffnung und Kriegsbeteiligung von ausgereisten deutschen Extremisten Schusswaffen- und Kampferfahrung vermitteln und damit die von ihnen ausgehende Gefahr erhöhen könnte". Die Sicherheitsbehörden arbeiteten daher "eng und intensiv zusammen, um Ausreisen von Extremisten zu verhindern".

Ukraine und Terror: EU ohne gemeinsame Linie

Diese Darstellung wirft Fragen auf. Denn selbst wenn deutsche Sicherheitsbehörden die Ausreise von Extremisten – vorrangig handelt es sich Rechtsextremisten – verhindern können: Was ist mit Freiwilligen, die in Milizen auf russischer oder ukrainischer kämpfen, töten, sich radikalisieren und dann nach Deutschland zurückkehren?

Nach Darstellung aus EU-Diplomatenkreisen in Brüssel haben zahlreiche Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, keine rechtliche Handhabe, um die Ausreise von Freiwilligen und Söldnern zu unterbinden – so hätten sich bei einer Aussprache zum Thema Ende März zumindest diplomatische Vertreter von einem halben Dutzend Staaten geäußert.

Zugleich bestätigte Finnland, die dortigen Sicherheitsbehörden beobachteten wie auch Deutschland verstärkte Ausreiseaktivitäten von Rechtsextremisten in Richtung Ukraine. Ein gemeinsames oder gar EU-weites Monitoring gibt es auch hier aber offenbar nicht.

Zerstörung im Ukraine-Krieg (14 Bilder)

Zerbombte Trambahn in Charkiw. Bild: Mvs.gov.ua / CC-BY-4.0

Lettland verbietet grundsätzlich zwar die Ausreise von Bürgerinnen und Bürgern mit dem Ziel, aus Kampfhandlungen im Ausland teilzunehmen. Die Ausreise in die Ukraine werde aber zugelassen.

In Tschechien müssen Freiwillige vor der Ausreise in die Ukraine eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen und eine Einladung des Verteidigungsministeriums vorlegen, heißt es aus Brüssel.

Die Regelungen sind äußerst unterschiedlich und lassen potenziellen Terroristen viele Freiräume. So kann in vielen Fällen offenbar gar nicht geklärt werden, welcher Seite sich Milizionäre anschließen, es gibt keine systematische Erfassung und keine Informationen über Ausbildung und Teilnahme an Kampfhandlungen vor Ort.

Immerhin scheint man sich in der EU des Problems bewusst zu sein. Ausländische Kämpfer könnten ebenso wie die in der Ukraine unkontrolliert zirkulierenden Waffen eine Gefahr für die innere Sicherheit der Unionsstaaten darstellen, sei bei der Aussprache Ende März festgestellt worden. Einzelne EU-Staaten drängen daher intern auf einen systematischen Abgleich von Flüchtling-Personendaten mit Informationen des Schengener Informationssystems (SIS).

Milizionäre aus der Ukraine: Debatte hinter verschlossenen Türen

Nicht nur die Debatte über die drohende Rückkehr radikalisierter und traumatisierter Kämpfer aus einem äußerst brutal geführten Krieg spielt sich in der EU bislang hinter verschlossenen Türen ab. Gleiches gilt für die Diskussion über die unkontrollierte Verbreitung von Waffen.

Weder in Brüssel noch in Berlin scheinen die politisch Verantwortlichen ein Interesse daran zu haben, diesen Meinungsaustausch offen zu führen, um die Bevölkerung somit zu einer eigenen Einschätzung der Folgen der aktuellen Ukraine-Politik zu befähigen.

So sorgte ein Bericht der Deutsche Presse-Agentur in der vergangenen Woche für Unruhe. Die dpa hatte unter Berufung auf ukrainische Regierungsvertreter berichtet, dass alleine Deutschland seit Kriegsbeginn gut 2.500 Luftabwehrraketen, 900 Panzerfäuste mit 3.000 Schuss Munition, 100 Maschinengewehre und 15 Bunkerfäuste mit 50 Raketen an die ukrainische Armee geliefert hat.

Hinzu kämen 100.000 Handgranaten, 2.000 Minen, rund 5.300 Sprengladungen sowie mehr als 16 Millionen Schuss Munition verschiedener Kaliber für Handfeuerwaffen vom Sturmgewehr bis zum schweren Maschinengewehr.

Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die derzeit vehement auf eine Ausweitung der Waffenlieferungen drängt und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wegen dessen Zurückhaltung frontal attackiert, hatte nach der Veröffentlichung dieser Angaben zu den Waffenlieferungen parlamentsintern strafrechtliche Ermittlungen gefordert, wie Telepolis am Samstag berichtete.

Dass eine offene Debatte über die Folgen des personellen und materiellen Eingriffs in den Ukraine-Krieg notwendig wäre, zeigt auch der Blick nach Schweden.

Im dortigen Göteborg hatte ein Gericht Anfang Juli 2017 drei Neonazis zu Haftstrafen bis zu achteinhalb Jahren verurteilt, weil die Männer im Winter zuvor zwei Bombenanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und einen weiteren Anschlag auf das Buchcafé einer Gewerkschaftsorganisation verübt hatten.

Die Verurteilten im Alter von 20, 23 und 51 Jahren waren in der "Nordischen Widerstandsbewegung" (NMR) aktiv, einem der gewaltbereitesten Neonazi-Bündnisse in Skandinavien.

Bewiesen werden konnte 2017, dass die beiden jüngeren Täter eine paramilitärische Kurzausbildung der "Russian Imperial Movement" in St. Petersburg durchlaufen hatten. Dort lernten sie auch, Bomben zu bauen, hieß es damals in der linksliberalen taz.

Extremisten mit Kampferfahrung auf beiden Seiten

Weitgehend ausgeblendet wird in der Ukraine-Debatte derzeit, dass sich solche russischen Extremisten nicht minder radikalen Gruppen auf ukrainischer Seite gegenüberstehen – und ausländische Kämpfer auf beiden Seiten der Front aktiv sind.

Bereits zu Beginn des russischen Angriffskrieges hatte die Linken-Abgeordnete und Innenpolitikerin Martina Renner auf Twitter gewarnt:

Es verdichten sich Erkenntnisse, dass sich deutsche Neonazis schon in der Ukraine aufhalten, um dort an Kampfhandlungen teilzunehmen. Im Waffeneinsatz gewonnene Erfahrung stellt eine große Gefahr für die innere Sicherheit dar.

Martina Renner

Anfang März schon hatte die Bundesregierung auf Anfrage Renners "Erkenntnisse über Aufenthalte deutscher Rechtsextremisten in der Ukraine" bestätigt. Schon damals hieß es im Zusatz aber, es lägen keine "verifizierten Erkenntnisse" über die Beteiligung an Kampfhandlungen vor.

Kämpfer des Asow-Bataillons mit Wolfsangel-Symbol und Mitbegründer Andriy Biletsky. Bild: @Polk_Azov

Die Erkenntnisse der deutschen Sicherheitsbehörden beschränken sich demnach auf ein Social-Media-Posting eines deutschen Neonazis, der die Teilnahme an Kampfhandlungen bestätigte.

Auch wenn die ukrainische Seite derzeit versucht, den rechtsextremen Charakter von Verbänden wie dem Asow-Bataillon herunterzuspielen, ist das Urteil in der internationalen Presse eindeutig.

Selbst das US-finanzierte Radio Free Europe wies auf Kontakte zwischen Alt-Right-Funktionären wie Robert Rundo vom gewaltbereiten Rise Above Movement (RAM) hin.

Ali Soufan, ein Sicherheitsberater und ehemaliger FBI-Agent, der sich mit dem Asow-Bataillon beschäftigt hat, geht – so berichtete das US-Nachrichtenmagazin Time Mitte vergangenen Jahres – davon aus, dass in den sechs Jahren zuvor mehr "als 17.000 ausländische Kämpfer aus 50 Ländern in die Ukraine gekommen sind", um sich ausbilden zu lassen und zu kämpfen.

Menschenrechtler aus der Ukraine warnen seit Jahren vor den Asow-Milizen und bewaffneten Verbänden aus diesem Umfeld, die derzeit, ähnlich wie in Afghanistan, ein Machtvakuum füllen und zu politischen Akteuren werden.

Halya Coynash, eine Menschenrechtsaktivistin aus dem ukrainischen Charkiw, beklagte 2018, diese Milizen stünden "fremdenfeindliche und neonazistische Ideen" und seien "an gewalttätigen Angriffen auf Migranten, ausländische Studenten in Charkiw und alle beteiligt war, die sich ihren Ideen widersetzen".

Und demnächst sind diese Rechtsextremen und ihre ausländischen Kameraden, unter ihnen auch Deutsche, bestens ausgebildet und hochgerüstet. Ebenso wie die ausländischen Kämpfer von der russischen Seite. Keine guten Aussichten für das freie Europa.