Ukraine-Krieg: Ist die Nato-Osterweiterung der Kern des Konflikts?
Eine zentrale Frage wird gemeinhin vom Tisch gewischt. Das ist ein Fehler, wenn man den Krieg verstehen und einen Ausweg finden will. Essay.
Zweieinhalb Monate bevor Russland die Ukraine angriff, forderte der russische Präsident Wladimir Putin wiederholt "verlässliche, rechtliche Garantien" bezüglich der Nato und ihren Grenzen.
Im Dezember 2021 übergab Russland den USA zwei Vertragsentwürfe, in denen die Regierung in Moskau vorschlug, die Nato solle garantieren, die Ukraine und weitere ehemalige Sowjetstaaten nicht in das Bündnis aufzunehmen und keine militärischen Operationen auf ukrainischem Gebiet durchzuführen.
In seiner jährlichen Pressekonferenz im Dezember 2021 erhob Putin dann erneut schwere Vorwürfe, der Westen habe sein Versprechen gebrochen, die Nato nicht nach Osten auszuweiten:
Wie würden die Amerikaner reagieren, wenn wir an ihrer Grenze zu Kanada unsere Raketen stationieren würden (...) das ist eine Frage der Sicherheit und sie kennen unsere roten Linien. (…) Sie haben uns einfach unverhohlen getäuscht. Fünf Wellen der Nato-Erweiterung. Und jetzt sind sie in Rumänien und Polen, mit Waffensystemen.
Wladimir Putin, Dezember 2021
Westliche Kernprinzipien gegen russische Kernforderungen
Die USA zeigten sich unbeeindruckt und übersandten Ende Januar 2022 ihre Antwort auf die russischen Vertragsentwürfe. Die drei russischen Kernforderungen wurden abgelehnt. US-Außenminister Antony Blinken erklärte:
Wir haben klargestellt, dass es Kernprinzipien gibt, die wir zu wahren und zu verteidigen verpflichtet sind, darunter die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine und das Recht der Staaten, ihre eigenen Sicherheitsvereinbarungen und Bündnisse zu wählen.
Antony Blinken, Januar 2022
Am 17. Februar übergab Russland dann einen zehn Seiten langen Antwortbrief, in dem die Regierung den USA vorwarf, ihre Bedenken hinsichtlich eines möglichen Nato-Beitritts der Ukraine nicht ernst genommen zu haben. Russland würde nicht näher bezeichnete "Maßnahmen militärisch-technischer Art" ergreifen müssen.
Am 24. Februar griff Russland dann die Ukraine an.
Vorwurf des Imperialismus
Die Frage steht seither im Raum, inwiefern das Thema der Nato-Osterweiterung für den russischen Entschluss zum Krieg entscheidend war. Eine ganze Reihe Politikern und Experten bezweifelt das. Schon am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine erklärte US-Präsident Joe Biden sehr deutlich:
Es ging (...) immer um nackte Aggression, um Putins Wunsch nach einem Imperium mit allen Mitteln.
Joe Biden
Auch der Historiker Timothy Snyder stellte wenige Monate später kategorisch fest:
Die Nato kann nicht das Problem gewesen sein.
Putin wolle "einfach nur die Ukraine erobern, und der Verweis auf die Nato war eine Form der rhetorischen Tarnung für sein koloniales Vorhaben".
Der ehemalige US-Botschafter in der Ukraine, Steven Pifer, versicherte, Putins Versuch, "die Krise, die Moskau vor der Invasion mit der Ukraine ausgelöst hat, als Streit zwischen der Nato und Russland darzustellen (…) hält einer ernsthaften Prüfung nicht stand".
Aus den genannten Gründen ist für Biden keine Frage, dass der Krieg "unprovoziert" gewesen sei. Eine Einschätzung, der sich die Nato uneingeschränkt anschließt und die eigenen "unermüdlichen diplomatischen Bemühungen" betont.
Konsens
Heute ist die Einschätzung, der eigentliche Kriegsgrund sei russischer Imperialismus, fast allgemeiner Konsens. Daher gilt oftmals der russische Angriff der Ukraine als eindeutiger Beleg, dass die Entspannungspolitik des Westens gescheitert sei, und die Schlussfolgerung des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton lautet: Der russische Einmarsch stelle die Erweiterungspolitik der Nato keinesfalls infrage, sondern sei im Gegenteil vielmehr gerade der Beweis ihrer Notwendigkeit.
Es liegt nahe, bei einem unprovozierten Angriffskrieg die Frage nach den Motiven des Krieges und dessen Vorgeschichte bewusst zu ignorieren. Die wiederholten Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Nato-Osterweiterung seien der Kern des Konflikts, wären dann entsprechend lediglich russische Propaganda.
Eine Auseinandersetzung mit dem Thema würde daher schlicht Gefahr laufen, das "Spiel des Kremls" zu spielen, denn der eigentliche Kriegsgrund ist eben russischer Imperialismus.
Keine Nebelkerze
Aber ein genaueres Hinsehen zeigt: Es finden sich deutlich überzeugendere Aussagen für die These, dass die Nato-Osterweiterung für die russische Entscheidung, die Ukraine anzugreifen, eine ganz zentrale Bedeutung gespielt hat.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte beispielsweise im Sommer 2023:
Er (Putin, Einf. d. A.) wollte, dass wir dieses Versprechen unterschreiben (der russische Forderungskatalog im Dezember 2021, Einf. d. A.), die Nato niemals zu erweitern. Er wollte, dass wir unsere militärische Infrastruktur in allen Ländern, die der Nato seit 1997 beigetreten sind, entfernen, d. h. die Hälfte der Nato, ganz Mittel- und Osteuropa, wir sollten die Nato aus diesem Teil unseres Bündnisses entfernen und eine Art B-Mitgliedschaft oder Mitgliedschaft zweiter Klasse einführen.
Das haben wir abgelehnt.
Also zog er in den Krieg, um die Nato, mehr Nato, an seinen Grenzen zu verhindern. Er hat genau das Gegenteil erreicht.
Jens Stoltenberg
Fast identisch argumentierte auch Avril Haines, Direktorin der Defense Intelligence Agency der USA.
Die Russland-Expertin Fiona Hill, Sicherheitsberaterin unter den US-Präsidenten George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump, teilt diese Meinung:
Es war immer klar, dass die Nato-Erweiterung um die Ukraine und um Georgien eine Provokation für Putin war. Wir hätten also schon immer etwas tun müssen, um dieses Sicherheitsdilemma zu lösen - 2008, aber auch schon früher.
Fiona Hill
Auch niemand anderes als Joe Biden selbst sagte nach einem Treffen mit Putin im Sommer 2021, er glaube, Putin sei immer noch besorgt darüber, eingekreist zu sein.
Der dreimalige Pulitzer-Preisträger Thomas Friedman gab drei Tage vor Kriegsbeginn seinem ausführlichen Kommentar in der New York Times die Überschrift:
Das ist Putins Krieg. Aber die USA und die Nato sind keine unschuldigen Zuschauer.
Thomas Friedman
Konzessionen
Gewichtiger ist aber noch, dass die nun bekannt gewordenen Vertragsentwürfe vom 12. und 15. April 2022 der Friedensverhandlungen in Istanbul belegen, dass Russland bereit war, auf eine rote Linie zu verzichten (EU-Mitgliedschaft der Ukraine), wenn ihre wichtigste rote Linie – Neutralität der Ukraine – schriftlich berücksichtigt worden wäre.
Auch ukrainische Unterhändler bestätigen diesen Punkt, wie Davyd Arakhamia. Im November 2023 erklärte er, Russland habe in Istanbul …
"… bis zum letzten Moment gehofft, dass sie uns zur Unterzeichnung eines solchen Abkommens zwingen könnten, dass wir die Neutralität annehmen würden. Das war das Wichtigste für sie. Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir, wie Finnland (während des Kalten Krieges, Einf. d. A.), die Neutralität annehmen und uns verpflichten würden, nicht der Nato beizutreten".
Die Geschichte kennen
Die Belege, dass die russische Entscheidung zum Angriff insbesondere durch das Thema der Nato-Osterweiterung motiviert war, sind zahlreich und schwer von der Hand zu weisen.
Gerade daher ist ein unvoreingenommener Blick auf dieses Thema nötig, denn, wie Günter Verheugen und Petra Erler in ihrem lesenswerten Buch "Der lange Weg zum Krieg" schreiben: "Wer die Ursachen einer Entwicklung nicht kennt, kann auch ihre Folgen nicht überschauen und korrigierend eingreifen."
Die US-Historikerin Mary Elise Sarotte, die mit "Nicht einen Schritt weiter nach Osten" vermutlich das Standardwerk zum hochkomplexen Thema der Nato-Osterweiterung verfasst hat, betonte in einem Interview mit dem Autor drei Jahre vor dem Beginn des Ukraine-Krieges:
Wenn wir den Grund für die Zerrüttung der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland nach dem Kalten Krieg verstehen wollen, müssen wir diese Abfolge von Ereignissen – so wie sie nach historischer Faktenlage sind – und nicht so wie unser selektives Gedächtnis es uns einreden will – das müssen wir vor Augen haben, selbst wenn diese Enthüllungen unbequem sind.
Mary Elise Sarotte
Die rote Linie
Wenige Tage, bevor im Jahr 2008 auf dem Nato-Gipfel in Bukarest entschieden wurde, dass die Ukraine und Georgien Mitglied der Nato werden würden – wobei allerdings kein genaues Datum festgelegt wurde – hatte Michael Burns, heutiger CIA-Direktor und damaliger US-Botschafter in Russland, in einem Telegramm vor den Konsequenzen einer ukrainischer Nato-Mitgliedschaft gewarnt.
In seinen Memoiren "The Back Channel" schreibt er hierzu:
Der Beitritt der Ukraine zur Nato ist für die russische Elite (nicht nur für Putin) die klarste aller roten Linien. In den mehr als zweieinhalb Jahren, in denen ich Gespräche mit den wichtigsten russischen Akteuren geführt habe - von Scharfmachern in den dunklen Winkeln des Kremls bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern - habe ich noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der Ukraine in die Nato als etwas anderes betrachtet als eine direkte Herausforderung für die russischen Interessen.
Michael Burns
Vorwurf mit Vorgeschichte
Die russische Angst vor der Osterweiterung der Nato ist also keineswegs neu, sondern eine historische Konstante. Putin ist auch nicht der erste russische Präsident, der sehr deutlich macht, dass Russland eine Ausbreitung der Nato als Sicherheitsproblem auffasst. Entsprechend kann man diesen Vorwurf auch nicht einzig mit Mutmaßungen über Putins Charakter und seiner politischen Agenda erklären.
Sein Vorgänger Boris Jelzin bat 1995 den damaligen Präsidenten Bill Clinton inständig:
Ich möchte ein klares Verständnis für deine Idee der Nato-Erweiterung bekommen, weil ich jetzt nichts anderes als Demütigung für Russland sehe, wenn du weiter machst. Was meinst du, wie es für uns aussieht, wenn ein Block weiterbesteht, während der Warschauer Pakt abgeschafft wurde?
Es ist eine neue Form der Einkreisung, wenn sich der eine überlebende Block des Kalten Krieges bis an die Grenzen Russlands ausdehnt. Viele Russen haben ein Gefühl der Angst. Was wollt ihr damit erreichen, wenn Russland euer Partner ist, fragen sie. Ich frage es auch: Warum willst du das tun? Wir brauchen eine neue Struktur für die gesamteuropäische Sicherheit, nicht die alte! (...)
Für mich wäre es ein Verrat am russischen Volk, wenn ich zustimmen würde, dass sich die Grenzen der Nato in Richtung Russland erweitern.
Boris Jelzin
Michail Gorbatschow, der letzte Generalsekretär der UdSSR, erhob einen vergleichbaren Vorwurf in seinem letzten Buch:
Russland hatte das volle Recht zu verlangen, dass die Gegenseite nicht nur getreu den Buchstaben, sondern im Geiste der damaligen Vereinbarungen und Verpflichtungen handelt. Doch das gegenseitige Vertrauen, das mit dem Ende des Kalten Krieges gewachsen war, wurde dann einige Jahre später schwer erschüttert – durch die Entscheidung der Nato, sich nach Osten auszudehnen. Und Russland konnte darauf keine Antwort finden.
Michail Gorbatschow
Grundsätzlich andere Sichtweisen ganz zentraler Fragestellungen
Berücksichtigt man die grundlegende Bedeutung des Themas der Nato-Osterweiterung für den russischen Angriff und reduziert den Kriegsgrund nicht einfach auf einen möglichen Imperialismus, ergeben sich generell andere Sichtweisen ganz zentraler Fragen.
Dann ist "die Entspannung (…) kein gescheitertes politisches Konzept. Gescheitert ist vielmehr eine Politik, die glaubt, auf Entspannung verzichten zu können und es notfalls auch auf einen Krieg ankommen zu lassen", wie Verheugen und Erler betonen.
Und es ist nicht der russische Angriff, der die Osterweiterung rechtfertigt, sondern ist auch die Sichtweise des Politikwissenschaftlers Richard Sakwa denkbar:
Die Nato-Erweiterung hat ein europäisches Sicherheitsdilemma ausgelöst, auf das Russland mit Gewalt reagierte. Der Krieg hat gezeigt, dass man die russischen Bedenken ernster hätte nehmen müssen.
Richard Sakwa
Die Anerkennung der fundamentalen Bedeutung der Nato-Osterweiterung bei der russischen Entscheidung zum Angriff – was selbstverständlich keine Entschuldigung für die Invasion sein kann, as gilt es zu betonen –, würde zu einer anderen Kriegsstrategie führen.
Während die Überzeugung, Russland handele ausschließlich aufgrund eines unstillbaren Imperialismus, einzig die Option des militärischen Widerstandes und der damit einhergehenden – aber unausweichlichen – Eskalationsgefahr offen lässt, eröffnen sich andere Möglichkeiten, wenn man das Thema der Osterweiterung berücksichtigt.
Denn dann gebe es zumindest denkbaren Spielraum für Verhandlungen und ein gewisses Potenzial für Kompromisse: etwa eine Nato-Sicherheitsgarantie für die Ukraine, womit diese ihr wichtigstes Ziel erreichen würde, und eine schriftliche Zusicherung an Russland, die Nato-Militärstützpunkte nicht auf das Territorium der Ukraine auszuweiten und dort ebenfalls keine Nato-Militärübungen stattfinden zu lassen, womit Russland vermutlich sein Hauptziel erreichen würde.
Blick zurück und Blick nach vorn
Selbstverständlich ist die Anerkennung des Problems der Nato-Osterweiterung für Russland nicht zwingend eine Garantie, dass mögliche Friedensverhandlungen zu einem diplomatischen Erfolg führen.
Eindeutig unterstrichen werden soll hier auch, dass aus dem Gesagten nicht gefolgert werden kann, dass russischer Imperialismus nicht auch zur Motivation beigetragen hat.
Dennoch ergibt sich eindeutig, dass das Verkürzen der Diskussion über den russischen Kriegsgrund auf Imperialismus und damit das Ignorieren der Osterweiterung Gefahr läuft, nicht nur die Ursachenforschung sträflich zu simplifizieren, sondern auch den Kriegsgrund nicht zu verstehen und damit letzten Endes auch mögliche Wege aus dem Krieg nicht erkennen zu können.
Das Thema der Nato-Osterweiterung und eines möglichen Versprechens seitens des Westens ist extrem kompliziert und keineswegs so eindeutig, wie oftmals wiederholt wird (und einen eigenen Artikel wert).
Davon unabhängig kommt Sarotte zu dem Schluss, dass die Osterweiterung, so wie sie konkret verlaufen ist, den Keim des Konflikts in sich trug. Sie fragt:
Wäre es angesichts der Tatsache, dass Russland, sobald es sich vom politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch erholt hat, aufgrund seiner Größe und seines Atomwaffenarsenals mit ziemlicher Sicherheit ein wichtiger Akteur bleiben würde, nicht besser gewesen, diesem Problem im Voraus vorzugreifen, indem man Moskau ein größeres Mitspracherecht und einen sicheren Platz in einer gemeinsamen Sicherheitsstruktur einräumt?
Die Antwort ist ein eingeschränktes Ja.
Mary Elise Sarotte
Vom Autor gibt es zum Thema ein dreiteiliges Feature im Deutschlandradio.
Teil 1: Wurzeln des Misstrauens
Teil 2: Samen des Misstrauens
Teil 3: Von Kooperation zum Krieg.
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