Ukraine: Landwirtschaft in Kriegszeiten
Wie Milchviehhalter und Agrarexperten versuchen, die Produktion am Laufen zu halten
Es fehlt an Saatgut und an Treibstoff, die Milch wurde nicht mehr abgeholt, die Produktion um die Hälfte heruntergefahren – wie kann man unter solchen Umständen Landwirtschaft betreiben? Andrij Pastuschenko leitet einen 1.500 Hektar großen Bauernhof mit Milchviehhaltung in der Süd-Ukraine. Sein Betrieb liegt zwischen Mykolajiw und Cherson, zwei Städten, die im März heiß umkämpft waren. Mitte März sprach er in einem Interview mit der Zeit über den alltäglichen Überlebenskampf.
Die Kämpfe wurden ganz in der Nähe des Betriebes ausgefochten. Obwohl Kampfgeräusche aus der Ferne zu hören waren, blieb zunächst alles friedlich. Dann wurde der Stall von russischen Soldaten besetzt: An einem Montag kamen zehn Lkw voll mit mindestens 200 Soldaten, erinnert sich der Landwirt. Sie waren auf dem Flugplatz südlich von Cherson angekommen.
Nachts schliefen rund fünfzig Leute in seinen Ställen auf auseinander gerollten Strohballen. Der Bauer sorgte sich zunächst um die 13 Frauen, die täglich in den Stall kamen, um seine Kühe zu melken. Immerhin durften sie weiter melken und arbeiten.
Nach zwei Tagen packten die Soldaten ihre Sachen, beschlagnahmten seine zwei Autos mit dem Hinweis, sie würden ab jetzt der russischen Armee gehören und fuhren in ihnen davon. Die Arbeit auf dem Betrieb ging weiter, wenn auch nur mit halber Leistung. Damit die Melkerinnen bei Tageslicht ankommen und zurückfahren konnten, stellte der Betriebsleiter sogar die Melkzeiten um.
Außer 350 Kühen und 400 Kälbern gehören 1.500 Hektar Ackerland zum Betrieb – für ukrainische Verhältnisse eher klein. Normalerweise kommt der Milchwagen regelmäßig, um die Molkereien in Mykolajiw und Cherson zu beliefern. Vor dem Krieg seien pro Kuh durchschnittlich 31,5 Liter Milch gemolken, erinnert sich der Betriebsleiter, bis zu zehn Tonnen Milch täglich.
Bei Kriegsausbruch wurde die Milchabhohlung gestoppt. Am zweiten Tag habe man die Milch an die Nachbarn verschenkt – 20 Liter pro Familie. Freiwillige holten sie ab und verteilten sie. In den ersten Tagen wurden in einem kleinen Milchwagen täglich vier Tonnen an Krankenhäuser, Waisenhäuser und Kinderheime in Cherson geliefert – bis die Stadt eingekesselt wurde und niemand mehr hinein- oder hinausfahren durfte.
Die einzige sinnvolle Verwertung der Milch sah Pastuschenko nun in deren Verarbeitung – zu Butter, Mozzarella, Schlagsahne, Quark. Zunächst verteilte er die Produkte kostenlos. Dann begann er sie zu verkaufen, allerdings 30 Prozent billiger als vor dem Krieg. So konnte er wenigstens seine Mitarbeiter bezahlen. Alle zwei Tage wurde von einer kleinen Molkerei acht Tonnen Milch abgeholt. Da war die Produktion schon von zehn auf fünf Tonnen Milch täglich gefallen.
Versorgung mit Lebensmitteln ist ein Problem
Auf dem Dorf haben die Menschen eigene Reserven, hier halte jeder mindestens zehn bis 20 Hühner, erklärt Pastuschenko. Ihm ist es wichtig, die Leute in der Stadt zu versorgen. Doch das sei schwierig, denn es sei nicht erlaubt, die Stadt oder umliegende Dörfer in Richtung Westukraine zu verlassen.
Auch eine termingerechte Aussaat werde nicht mehr möglich sein. In den ersten Tagen des Krieges habe er es gerade so – mit Unterbrechungen geschafft – Sommergerste zu drillen, erklärt der Bauer. In der Südukraine ist es sehr trocken, Regen gibt es kaum. Um hohe Erträge zu ernten, wolle er früh – Ende März – mit der Aussaat von Mais und Sonnenblumen anfangen. Allerdings war trotz Anzahlung bis Mitte März immernoch kein Saatgut geliefert worden.
Ob Pflanzenschutzmittel zur Verfügung stünden, war zum Zeitpunkt des Interviews noch unklar. Dem Betrieb werden am Ende wohl Hunderttausende Euro fehlen, schätzt der Landwirt. Noch schwieriger sei es, an Diesel zu kommen. Früher gelangte der Treibstoff über die Häfen in Odessa, Mykolajiw und Cherson an seine Abnehmer. Doch die waren Mitte März blockiert. Zudem wurden Diesellager bombardiert. Vorräte gibt es kaum.
Die Bauern kämpfen ihren eigenen Kampf
Die Bauernfamilie ist Mitglied eines der größten Agrarvereine der Ukraine. Ein bis zweimal pro Woche findet ein Zoom-Meeting statt. Man tauscht sich aus über alltägliche Probleme, über das Verhalten der Russen, wenn sie auf die Betriebe kommen. Dies und die moralische Unterstützung der Hofeigentümer im Ausland, mit denen er täglich telefoniert, sei in jedem Fall eine psychologische Hilfe.
Auch an Zucker und Mehl sei der Landwirt auf diese Weise gekommen. Jede Nacht fliegen in zwei Kilometer Entfernung Raketen, Bomben explodieren. Mal fiel der Strom aus, mal lief die Heizung nicht. Immerhin war sie innerhalb von zwei Tagen repariert. Pastuschenko hilft seinen Leuten, wo er kann.
Er verstehe jetzt, was es heisst, in Frieden zu leben, sagt er. Früher seien sie mit allen unzufrieden gewesen – mit den Nachbarn, mit der Regierung – bis der 24. Februar kam und der Krieg ihr Leben veränderte. Heute habe er andere Prioritäten, andere Ziele. Und trotz Krieg gebe es immer wieder positive Nachrichten. Das letzte Mal hat der Bauer im Jahr 2014 erlebt, dass seine Mitarbeiter für einen Krieg eingezogen wurden. Dieses Mal wurden sie vom Landwirtschaftsministerium für die nächsten sechs Monate freigestellt, damit sie sich um ihre Betriebe kümmern können.
Diesel für Panzer anstatt für Traktoren
Im Norden, Osten und Süden, wo das Land von russischen Truppen besetzt ist, findet keinerlei landwirtschaftliche Tätigkeit statt, weder auf den Feldern noch in der Tierhaltung. Dies sei schlicht nicht möglich, erklärt Roman Slaston, im Interview mit Agrarheute.
Besonders schwerwiegend ist, dass kein Getreide ausgesät werden kann. Die Tiere können weder gefüttert noch gemolken werden. Weil es nicht genug Futter gab, habe ein großer Geflügelbetrieb in der Region Cherson seinen gesamten Hähnchenbestand keulen müssen, weiß der Generaldirektor des ukrainischen Agribusiness Clubs.
Zum Glück gelang auf den meisten landwirtschaftlichen Betrieben im Süden und Osten die Frühjahrsdüngung, bevor die russische Invasion begann. In der Mitte und im Westen des Landes konnten die Landwirte ihre Arbeiten sogar noch während der ersten Tage des Krieges erledigen. Normalerweise reparieren sie um diese Jahreszeit ihre Maschinen.
In diesen Frühjahrstagen jedoch reparieren sie Panzer oder heben Panzergräben aus. Auf die eine oder andere Weise unterstützt jeder Landwirt die Kriegsanstrengungen – sei es durch Spenden von Weizen, Zucker, Sonnenblumenöl oder anderen Lebensmitteln. Viele spenden auch Kraftstoff, obwohl sie den für die eigenen Maschinen zwecks Frühjahrsaussaat gebraucht hätten.
In den Gebieten, die unter ukrainischer Kontrolle seien, werde dringend Saatgut, Düngemittel und Pestizide benötigt. Doch das Hauptproblem ist der Mangel an Kraftstoff. Rund 200.000 Tonnen Diesel würden benötigt, um die Frühjahrsaussaat abschließen zu können. Noch zehren die Landwirte von ihren Dieselreserven von vor dem Krieg. Werden die Kämpfe nicht bis spätestens Anfang April beendet, werde es zu großen Problemen und massiven Ernteausfällen führen, befürchtet der Experte.
Ohne Waffenstillstand sind die Ernten gefährdet
Noch gibt es relativ große Getreidevorräte im Land. Vor der Invasion hoffte, man in diesem Jahr 15 Millionen Tonnen Getreide exportieren zu können. Nun ist die Ausfuhr über Schwarzmeerhäfen wie Odessa gestoppt. Weil Handelsschiffe bereits von russischen Streitkräften angegriffen und versenkt wurden, versuche man derzeit, die Transporte von Agrargütern auf die Schiene zu verlagern.
Auf diesem Wege, so schätzt er, könnten 600.000 Tonnen Getreide pro Monat verkauft werden. Mit den Erlösen könnten unsere Landwirte dringend nötige Betriebsmittel kaufen.
Neben Getreide wären in diesem Jahr normalerweise rund eine Million Tonnen Sojabohnen – und fünf bis sechs Millionen Tonnen Sonnenblumenkerne exportiert worden. Weil die meisten Ölpressen ihre Arbeit eingestellt haben, werde wohl in diesem Jahr kein Sonnenblumenöl exportiert.
Die Ukraine habe eine zollreduzierte Einfuhrquote von 100.000 Tonnen in die EU. Mit etwas Glück könne es gelingen, diese Quote zu erfüllen. Reserven gebe es auch noch bei Geflügelfleisch. Die Exportunternehmen arbeiten daran, einen Teil davon in die EU verkaufen zu können.
Sollten die Kämpfe im April weiter andauern oder sogar noch heftiger werden, werden die Ernten um 40 bis 60 Prozent einbrechen, befürchtet Roman Slaston. Ob Mehl, Brot, Milch, Geflügel – bis Mitte März gab es im Land noch genug Lebensmittelvoräte – auch wenn es Logistikprobleme vor allem in den umkämpften Gebieten gab. Sollte der Krieg andauern, werde sich das ändern.
Sanktionen seien der einzige Weg, den Krieg zu stoppen, glaubt der Agrarexperte. Er fordert von den G7-Staaten, auch im Agrarbereich Sanktionen gegen Russland – von landwirtschaftlichen Betriebsmitteln über Lebensmittel bis zu Embargos gegen russische Exporte. Alle Unternehmen sollten ihre Zusammenarbeit mit Russland und Belarus einzustellen, bis sie ihre Truppen von ukrainischem Territorium zurückziehen.
Reicht das Futter nicht, werden Tiere geschlachtet
Die unbesetzten Teile des Landes sind kaum zerstört, weshalb auch die Landwirte dort kaum darunter leiden. Im Norden der Ukraine wurde vor Kurzem noch verlassene Panzer von Traktoren abgeschleppt. Mittlerweile haben russische Soldaten den Norden unter Kontrolle gebracht. Waren die Soldaten anfang noch blutjung und unerfahren, so sind es inzwischen ältere Soldaten, die aggressiver schießen, erklärt Alex Lissitsa.
Der Präsident des Ukrainischen Agribusiness Club berät die ukrainische Regierung und organisiert von Lwiw aus die Grundversorgung seiner Landsleute. Die Versorgung mit Brot funktioniert, wenn die Stadt nicht gerade belagert ist, so wie in Mariupol, erklärt der Agrarvertreter. Der Unternehmer leitet einen Betrieb mit 2000 Beschäftigten. Er bewirtschaftet 120.000 Hektar. Davon liegen rund 100.000 Hektar in den belagerten Gebieten im Nordwesten.
Unweit der Grenze zu Belarus stehen eintausend Milchkühe. Mittlerweile sind die Ställe vom Strom abgeschnitten. Zwei Wochen nach Kriegsbeginn stand es schlecht mit der Futterversorgung. Da wurde bereits mit Silage und Heu gefüttert. Das Futter reiche noch für zwei bis drei Wochen, hieß es Mitte März. Sollte der Krieg andauern, müssen – im besten Fall – Tiere geschlachtet werden.
Innerhalb von drei Wochen kam die Landwirtschaft in der Region zum Erliegen. Es fehlt an Dünger und Treibstoff. Landarbeiter wurden eingezogen. Auf den Feldwegen liegen russische Landminen. Auf dem Betrieb werden normalerweise Sonnenblumen, Winterweizen und Futterpflanzen kultiviert.
Mitte März wäre die Zeit gewesen, um den Boden vorzubereiten für die Aussaat von Sommergetreide oder Sonnenblumen. In drei bis vier Wochen könne man dann aussäen. Angesichts der Lage wären vermutlich nur die Bauern in der Westukraine bereit, diese Arbeit in vollem Umfang zu leisten, glaubt der Experte. Das wären 30 bis 50 Prozent der Fläche, auf der eigentlich ausgesät werden soll.
Der Krieg muss gestoppt werden, um Hungerkrisen zu verhindern
Vor dem Krieg verkaufte die Ukraine Sonnenblumenkerne und -öl, Raps, Roggen, Mais und Weizen an ärmere Länder wie Ägypten, Indonesien und Pakistan. Momentan exportiert die Ukraine kein Getreide, um die Versorgung im Land zu sichern.
Auch in Russland gilt Exportstopp für Getreide, damit Backwaren für die eigene Bevölkerung bezahlbar bleiben, wie es von Regierungsseite hieß. Beide Länder decken rund 30 Prozent des weltweiten Bedarfs an Weizen.
Rund 800 Millionen Menschen sollten durch die Exporte ernährt werden, schätzt Alex Lissitsa. Einer Studie der FAO zu Folge könnten die Preise für Lebensmittel auf dem Weltmarkt zu bis zu 22 Prozent steigen, für Kunstdünger sogar bis zu 25 Prozent. Das hätte in armen Ländern Afrikas, den Nahen Osten und Asien immense Hungerkatastrophen zur Folge.
Andere Länder wären kaum in der Lage, die Defizite auszugleichen. Damit das Katastrophenszenario nicht eintritt, müsste die Ukraine mittelfristig wieder Getreide exportieren. Dann aber müssten Banken im Westen bereit sein, die Bauern finanziell zu unterstützen.
Um Hungerkrisen zu vermeiden und die ukrainische Wirtschaft zu sichern, müsste der Krieg sofort enden. Erst dann können die Traktoren die Felder wieder bewirtschaften.