Ukraine: Wenn der Rechte Sektor im Gerichtssaal das Sagen hat …

Rechter Sektor zwingt drei Richter des Malinowski-Gerichts in Odessa ihren Rücktritt zu unterschreiben. Bild: accidents news

In der Ukraine kommt es fast täglich zu rechter Gewalt gegen Polizei und Justiz

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Am 30. November 2015 stürmten hundert Mitglieder des Rechten Sektors einen Saal des Malinowski-Gerichts in Odessa. Die wachhabenden Polizisten wurden einfach zur Seite gedrängt. Maskierte Männer und Frauenbauten sich vor den drei Richtern auf. Sie hatten ein Urteil erlassen, fünf wegen der Straßenschlacht am 2. Mai 2014 inhaftierte Anti-Maidanisten gegen Kaution freizulassen. Angesichts der anrückenden Rechten guckten die Richter ängstlich. Und unter Drohungen der Maskierten unterschreiben (Minute 1:23) sie ihren Rücktritt.

Kurze Zeit später wurde das Urteil zur Freilassung der fünf Anti-Maidanisten gegen Kaution von der Staatsanwaltschaft in Odessa wegen "der Nichtberücksichtigung einiger Tatsachen" aufgehoben und die Haft für die Fünf auf zwei Monate verlängert.

Rechter Sektor blockiert Ausfahrt des Malinowski-Gerichts. Bild: odessa.ua

Die Rechtsprechung in Odessa erlebte im Dezember schwarze Tage. Es ist erst einen Monat her, da hatte eine vom Europarat eingesetzte Expertenkommission die ukrainische Justiz wegen der verschleppten Aufklärung der Ereignisse 2. Mai 2014 scharf kritisiert (Tragödie von Odessa: Europarat bescheinigt ukrainischer Regierung Versagen). An dem Tag wurden von Unbekannten bei einer Straßenschlacht zwischen Maidan- und Anti-Maidan-Anhängern auf dem Griechischen Platz in Odessa sechs Menschen aus beiden Lagern erschossen. Danach starben 42 Menschen im brennenden Gewerkschaftshaus, in das sich Regierungskritiker geflüchtet hatten. Kein einziger der Brandstifter ist in Haft. Welchen Stand die Ermittlungen zum Brand im Gewerkschaftshaus haben, ist unbekannt.

Kiew will die Tragödie vom 2. Mai nicht aufklären. Und der Rechte Sektor (RS) in Odessa tut alles, um Ansätze von Aufklärung und gerichtlicherer Untersuchung zu blockieren. Die Rechtsradikalen fürchten selbst Gerichtsverhandlungen gegen ihre Gegner vom Anti-Maidan, denn da könnte ja doch noch herauskommen, dass Rechte Brandsätze geworfen und geschossen haben. Und das käme dem RS nicht gelegen.

Die Rechten fürchten, dass der ukrainische Präsident Petro Poroschenko seine schützende Hand über den Rechten Sektor zurückzieht. Poroschenko fürchtet, dass er die Kontrolle über die sich radikalisierenden ukrainischen Nationalisten verliert. Die Staatsanwaltschaft hat gar Ermittlungen gegen drei führende Swoboda-Mitglieder wegen der Schüsse auf dem Maidan im Februar 2014 eingeleitet (Poroschenko mit eiserner Faust gegen ehemalige Kampfgenossen).

Angeklagter Anti-Maidanist schneidet sich die Venen auf

Für die fünf Inhaftierten von Odessa, die seit eineinhalb Jahren ohne konkrete Beweise und mit gleichlautenden Anklagen (TP-Interview mit Anwalt Kirill Schewtschuk) in Haft sind, war die Aufhebung des Freilassungs-Beschlusses ein Schock. Einer der Inhaftierten, der 32-jährige Jewgeni Mefedow, öffnete sich am 4. Dezember aus Protest im Gerichtssaal die Venen. Die Kaution für Jewgeni in Höhe von 8.500 Dollar war dem Gericht bereits am 30. November übergeben worden.

Unter Bewachung von zehn Nationalgardisten wurde Jewgeni in ein Krankenhaus überführt, wo die Schnittwunde genäht wurde. Wasser habe man ihm nicht gegeben, sagte eine Augenzeugin, die ihn vor Gericht begleitet. Nach der Operation kam Jewgeni wieder ins Gefängnis.

Efgeni Mefedow schnitt sich aus Protest die Venen auf. Bild: privat

Der Rechte Sektor hat erfahren, dass unter den Angehörigen der fünf Inhaftierten Geld für die Kautionen gesammelt wurde. Am 30. November blockierten Mitglieder des RS alle Ausgänge des Untersuchungsgefängnisses von Odessa. Keiner der fünf Inhaftierten Anti-Maidanisten sollte in Freiheit kommen.

Suche nach "russischen Agenten"

Jewgeni Mefedow ist einer von zwei Aktivisten mit russischem Pass, die wegen der Straßenschlacht am 2. Mai 2014 auf dem Griechischen Platz in Odessa vor Gericht stehen. Ukrainische Medien bezeichneten Jewgeni als "russischen Agenten". Doch wie Jewgeni einer Journalistin vom Odessa-Internetportal "Timer" berichtete, stehe in seiner Anklageschrift nichts über eine angebliche Agententätigkeit.

Wie Jefgeni dem Internetportal erzählte, siedelte er 2013 von Russland nach Odessa über, "um näher am Meer zu leben". In Russland habe er sich sein Geld wie in Odessa als Taxifahrer verdient. Am Griechischen Platz sei er nur "kurz vorbeigegangen", wurde dabei aber fotografiert. Die Fotos dienten nun als Vorwurf, er habe sich gewalttätig an der Straßenschlacht beteiligt. Konkrete Fakten gegen ihn gäbe es nicht.

Vom Griechischen Platz ging Jewgeni zum Anti-Maidan-Zeltlager vor dem Gewerkschaftshaus. Als die Rechten kamen und das Zeltlager attackierten, flüchtete er sich mit 300 Anderen in das mehrstöckige Gebäude. Der ukrainische Geheimdienst SBU - so erzählte Jewgeni dem Internetportal - habe ihn nach dem Brand im Gewerkschaftshaus trotz Verbrennungen an der Hand und einer Schädigung der Lunge aus dem Krankenhaus geholt, ihn drei Tage lang verhört und dann auch noch an einen Lügendetektor angeschlossen. Insbesondere haben man von ihm wissen wollen, für welchen Geheimdienst er arbeitet. Sogar nach dem Mossad sei er gefragt worden. Jewgeni hat offenbar Angst, dass man ihn vergisst. Russische Medien berichten nicht über seinen Fall.

Unter dem Druck des Rechten Sektors treten drei Richter des Malinowski-Gerichts in Odessa zurück. Bild: Screenshot 7ter Kanal Odessa

Rechter Sektor droht Richtern mit Granaten

In den letzten Wochen häuften sich in der ganzen Ukraine Angriffe des Rechten Sektors auf Gerichte und hohe ukrainische Beamte.

  • In der zentralukrainischen Stadt Kirowograd spielten sich Mitglieder des Rechten Sektors als Saubermänner auf. Sie zerstörten Computer in einem illegalen Kasino. Sieben Täter vom RS wurden verhaftet. Am 8. Dezember blockierten RS-Mitglieder das Berufungsgericht der Stadt, um die Freilassung ihrer Mitglieder durchzusetzen. Den Richtern drohten sie mit der Zündung einer Granate.
  • In der zentralukrainischen Stadt Kriwoi Rog prügelte (Minute 3:30) der Rada-Abgeordnete und Kommandeur des Freiwilligen-Bataillons Donbas, Semjon Semontschenko am 7. Dezember auf den Leiter der städtischen Polizei mit den Fäusten ein. Der Grund: Der örtliche Polizeichef hatte angeordnet, dass das Stadtrats-Gebäude geräumt wird. Das gefiel den Rechten nicht. Die Polizei sagte, es habe eine Bombenwarnung gegeben. Wohlmöglich hatte die Polizei Angst vor einer Besetzung durch den Rechten Sektor (RS), denn ukrainische Nationalisten erkennen das Ergebnis der Bürgermeisterwahlen von Kriwoi Rog nicht an, bei denen ein Mitglied des Russland-freundlichen Oppositionsblockes gewählt wurde.
  • In Kiew sprang (Minute 0:27) am 19. November der fraktionslose Rada-Abgeordnete und Leiter des Freiwilligenbataillons Dnjepr-1, Wolodimir Parasjuk, auf den stellvertretenden Leiter der Geheimdienstabteilung gegen organisiertes Verbrechen, Wasili Pisnyj, und trat ihm auf den Kopf. Der Vorfall ereignete sich auf einer Sitzung des Anti-Korruptions-Komitees. Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen eingeleitet. Das Opfer verlangt eine Entschädigung "für den moralischen Schaden" in Höhe von umgerechnet 3.800 Euro. Doch Parasjuk verhöhnt sein Opfer als völlig korrupt und will nicht zahlen. Parasjuk kann sich Gewaltattacken gegen angebliche Vertreter des alten Regimes erlauben. Er ist in der Ukraine "National-Held". Er war es, der am 21. Februar 2014 auf dem Maidan ein Ultimatum gegen den gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch verkündete. Bis zum nächsten Tag "um zehn Uhr" müsse Janukowitsch "die Stadt zu verlassen". Für diesen "Mut" gab es viel Beifall westlicher Medien.
Rechtsradikaler Rada-Abgeordneter Wolodimir Parasjuk attackiert stellvertretenden Leiter der Geheimdienstabteilung gegen organisiertes Verbrechen, Wasili Pisnyj. Bild: Screenshot

Odessa-Filmfestival in Berlin

Damit die Tragödie von Odessa nicht in Vergessenheit gerät, die Ermittlungen gegen die Täter fortgeführt und die Personen verurteilt werden, welche den Brand im Gewerkschaftshaus und das Nichteinschreiten von Polizei und Feuerwehr verschuldet haben, findet vom 17. bis zum 19. Dezember im Berliner "Club Reporter" ein Film-Festival statt. Auf dem Festival werden sechs Dokumentarfilme von ukrainischen, deutschen und russischen Regisseuren gezeigt, welche die Tragödie am 2. Mai 2014 aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten.