Ukraine schränkt strafrechtliche Immunität von Abgeordneten ein
Kritiker warnen vor kambodschanischen Folgen
Der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj hat gestern ein letzte Woche von der neu gewählten Werchowna Rada mit qualifizierter Mehrheit verabschiedetes Gesetz unterschrieben, das die strafrechtliche Immunität von Abgeordneten aus Artikel 80 der ukrainischen Verfassung streicht. So eine Änderung der Rechtslage gehörte zu seinen Wahlversprechen (vgl. Friedlicher Machtwechsel in der Ukraine).
Für die Zeit nach dem Inkrafttreten der neuen Rechtslage am 1. Januar 2020 sehen das ukrainische Abgeordnetengesetz und die ukrainische Strafprozessordnung nur noch dann eine Nichtverfolgung von Vorwürfen vor, wenn sie Reden oder Stimmabgaben in der Rada betreffen. Abgeordnetengesetz und Strafprozessordnung können zudem ohne das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit geändert werden.
Aktuell verfügt die Selenskyj-Partei Sluha Narodu mit 254 von insgesamt 450 Mandaten nicht über eine solche Zweidrittelmehrheit. Die von ihr beantragte Verfassungsänderung zur Aufhebung der Immunität kam letzte Woche zustande, weil die Forderung als so populär gilt, dass auch Abgeordnete anderer Parteien zustimmten.
Zwischen zwei Übeln
Das Instrument der parlamentarischen Immunität soll Abgeordnete in der Theorie davor schützen, dass ein Monarch oder eine Regierung Druck auf sie ausübt, um ihr Abstimmungsverhalten zu kontrollieren. In der Praxis hatten viele Ukrainer in den letzten Jahrzehnten den Eindruck, dass es Abgeordnete darüber hinaus vor Korruptionsermittlungen schützt.
Kritiker des Streichens der parlamentarischen Immunität aus der ukrainischen Verfassung widersprachen diesem Eindruck nicht unbedingt, warnten aber vor einer Entwicklung wie in Kambodscha. Dort hatte Staatspräsident Hun Sen den Schutz 2017 kurz vor einer drohenden Parlamentswahlniederlage faktisch abgeschafft. Danach strengte seine Staatsführung zahlreiche umstrittene Hochverratsprozesse gegen Oppositionsabgeordnete an.
Weil auf der einen Seite einschüchterbare und auf der anderen bestechliche Abgeordnete drohen, haben viele Länder versucht, bei der Ausgestaltung ihrer Schutzregel einen Mittelweg zu finden. In Italien hatte man beispielsweise 1948 nach negativen Erfahrungen unter Mussolini so umfassende parlamentarische Immunitätsregeln verabschiedet, dass man sie 1993 wieder deutlich einschränkte, nachdem herauskam, dass die Bestechlichkeit von Parlamentariern zu einer Selbstverständlichkeit geworden war (vgl. Korrupte Demokratie und Italien: Die Geschichte wiederholt sich).
Eher in Monarchien und Präsidialsystemen sinnvoll
In Deutschland verhindert die parlamentarische Immunität aus Artikel 46 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes strafrechtliche Verurteilungen und Ermittlungen gegen Bundestagsabgeordnete - außer es geht dabei um "verleumderische Beleidigungen" oder sie werden "bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen". Praktisch macht der Bundestag aber regelmäßig vom Artikel 46 Absatz 2 Gebrauch, der es ihm ermöglicht, die Verfolgung anderer Delikte zu genehmigen.
Da dies durch Mehrheitsbeschluss möglich ist, nutzt die Regel potenziell eher Regierungs- als Oppositionsparteien, was ihren oben geschilderten Sinn etwas infrage stellt. Tatsächlich wurde vor der Verabschiedung des Grundgesetzes debattiert, ob eine parlamentarische Immunität überhaupt noch nötig ist, wenn das Parlament keinen starken Monarchen oder Präsidenten als Gegenspieler hat, sondern selbst über die Regierung entscheiden kann.
Angelsächsische Tradition schützt eher Äußerungen
In Großbritannien, den USA und in anderen Ländern, die sich an der englischen Parlamentstradition orientieren, ist die Rechtslage zur parlamentarischen Immunität auf den ersten Blick nicht nur anders als in Deutschland, sondern umgekehrt: Hier genießen die Abgeordneten ein "Privileg", das ihre Parlamentsreden vor allem vor Verleumdungsklagen schützt. Das bewahrte den damaligen kanadischen Oppositionsführer Stephen Harper beispielsweise vor einer Klage der damals (und heute wieder) regierenden Liberal Party, nachdem er ihr im Unterhaus vorwarf, sie betreibe "einen gewaltigen Korruptionsring" und "benutz[e], das Organisierte Verbrechen, um Steuerzahler zu betrügen".
Das manchmal mit der enger gefassten Indemnität verglichene Parlamentsprivileg ist älter als die auf einer französischen Tradition beruhende Immunität (die die dortige Nationalversammlung am 23. Juni 1789 aussprach). Das erste Mal schriftlich erwähnt wird sie 1399, als Heinrich IV. eine Enteignung zurücknimmt, die sein Vorgänger Richard II. gegen Sir Thomas Haxey angeordnet hatte. Anlass für die Enteignung war, dass Haxey die Verschwendungssucht Richards kritisierte, für die er und seinesgleichen gradestehen sollten. In der Begründung der Rücknahme heißt es dazu, die von Heinrich verhängte Strafe für die Äußerung Haxeys habe den Gebräuchen im Parlament widersprochen.
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