"Um die Gewalt in den Griff zu bekommen, müssen wir das Patriarchat abschaffen"
Ein Gespräch mit der Regisseurin Christiane Mudra - über die gefährlichsten Orte für Frauen, das große Schweigen und ihr Theaterstück "The Holy Bitch Project"
"The Holy Bitch Project" ist ein Theaterstück über häusliche, sexualisierte und digitale Gewalt gegen Frauen, das am 20. Juni in München Premiere hat. Wie kam es zu seinem Namen - und was haben die Schubladen "Heilige" und "Hure" mit Gewalt gegen Frauen zu tun?
Christiane Mudra: Der Name soll Ironie, Kampfgeist und die Wiederaneignung eines Begriffs implizieren, der als Schimpfwort benutzt wird. Das passiert ja auch in der Musikszene. "Bitch" soll aber auch an "Witch" erinnern - die Hexenverbrennung, durch die Frauen in großem Umfang getötet wurden, ist ein Thema, das wir im Stück nicht aufgreifen, aber die Assoziation ist beabsichtigt.
"Heilige" und "Hure" sind stark verfestigte Rollenbilder, die nicht nur in männlichen, sondern auch in weiblichen Köpfen vorhanden sind. Und ich habe inzwischen verstanden, dass sich die Gewalt an diesen Rollenbildern und diesen erschreckend veralteten Sichtweisen auf Geschlechter festmachen lässt. Expertinnen, Experten mit denen ich gesprochen habe, Männer wie Frauen, haben ziemlich klar gesagt, um die Gewalt in den Griff zu bekommen, müssen wir das Patriarchat abschaffen. Wir müssen als Gesellschaft an einen Punkt kommen, wo das Geschlecht keine sozialen Konsequenzen mehr hat.
Einige Männer würden bestreiten, dass es in Deutschland noch ein Patriarchat gibt. Manche fühlen sich sogar benachteiligt, verweisen auf Länder wie Saudi-Arabien und meinen, dass Frauen sich hier nicht beschweren sollten. Was macht heute das Patriarchat in westlichen Ländern aus?
Christiane Mudra: Ich war ehrlich gesagt im Laufe der Recherche selbst schockiert, weil ich auch dachte, dass wir da schon an einem anderen Punkt sind. Aber im Kern geht es bei dieser Gewalt immer darum, dass Frauen klein gemacht werden sollen. Frauen sollen zum Schweigen gebracht werden. Der Mann will die Kontrolle haben. Aktuell sehen wir das an den sogenannten Hate Storms im Netz, mit denen Frauen, die sich politisch betätigen, die sich öffentlich äußern und eine gewisse Reichweite haben, durch Drohungen zum Schweigen gebracht werden sollen.
Die Organisation Hate Aid, mit der ich ein Interview geführt habe, hat meinen Eindruck bestätigt, dass ein großer Teil dieser Online-Hater aus dem rechten Spektrum kommt. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn in deren Weltbild sind natürlich auch diese alten Rollenbilder tief verankert.
Und gesamtgesellschaftlich?
"Auch in der jungen Generation eine Spaltung"
Christiane Mudra: Im Alltagsleben spaltet sich das gerade auf. Es gibt sehr viele, gerade auch junge Männer, die die Dinge ganz anders sehen. Ich habe einige Vorträge auf Grundlage der Recherchen zu diesem Stück gehalten - und da saßen sehr viele Männer im Publikum, die ganz schockiert waren und sehr offen für das Thema sind. Auch bei jungen Frauen zeigt sich eine neue feministische Bewegung - aber ich sehe da auch in der jungen Generation eine Spaltung, ein Teil von ihr ist auch empfänglich für einen Backlash. Und das kennzeichnet für mich eine umkämpfte Zeit, in der sich die Werte in unserer Gesellschaft verändern. Übrigens nicht nur im Geschlechterdiskurs, sondern zum Beispiel auch in puncto Rassismus. Die Gegenwehr derer, die Veränderungen verhindern wollen, zeigt, dass es sich um die entscheidenden Themen handelt.
Haben Sie für das Stück auch in den Foren sogenannter Incels recherchiert, also der "unfreiwillig zölibatären" Männer, die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen ablehnen?
Christiane Mudra: Ja, das war einer der ausschlaggebenden Punkte, wie ich zu diesem Thema kam. Ich bin schon vor einigen Jahren in den USA zufällig in so einem Incel-Forum gelandet, als ich zur "Alt Right" recherchiert habe. Ich habe dort sehr viel gelesen und war damals schon sehr alarmiert, weil ich diese Bewegung für sehr gefährlich halte. Meines Erachtens wird sie in Deutschland noch stark unterschätzt.
Hatten Sie denn in diesem Forum einen Account mit einem männlich klingenden Namen?
Christiane Mudra: Anfangs hatte ich keinen Account, weil man wirklich viel mitlesen konnte, dann hatte ich Accounts mit männlichen Namen. Die Incel-Bewegung und ihre Symbole sind in The Holy Bitch Project auch tatsächlich Thema. Der Comic-Frosch "Pepe", den Unterstützer von Donald Trump für sich entdeckt und zweckentfremdet haben spielt ebenso eine Rolle wie Motive aus der "Matrix"-Filmreihe. Im Stück überschreibe ich die von der "Alt Right" und anderen vereinnahmte "Red Pill"-Ideologie und etabliere ein feministisches Gegen-Narrativ.
Das ist ein Spektrum, das neben dem Feminismus den Islam als Feindbild hat. Aber sind Incel-Foren nicht auch der ideale Rekrutierungsort für Gruppen wie den "Islamischen Staat", dem sich auch schon westliche Konvertiten angeschlossen haben?
Christiane Mudra: Ich selbst habe so etwas nicht beobachtet, aber die Abwertung von Frauen und die Überzeugung, Frauen seien minderwertig und daher zu unterdrücken, gibt es bei Männern unterschiedlichster Milieus und verschiedener religiöser wie politischer Überzeugungen. Trotzdem ist nach wie vor das Klischee verbreitet, häusliche Gewalt sei in erster Linie ein Problem in prekären Lebensverhältnissen oder in Familien mit Migrationshintergrund.
Die erfassten Zahlen bestätigen das absolut nicht, im Gegenteil: Etwa 70 Prozent der Täter haben keinen Migrationshintergrund; und Gewalt kommt sehr wohl auch in der Oberschicht und in der Mittelschicht vor. Zwei Drittel der Familien, in denen häusliche Gewalt vorkommt, haben ein mittleres bis hohes Einkommen; und ein Drittel der Täter hat einen Hochschulabschluss oder Abitur. Mit dem Klischee, das sei ein Prekariats- und Migrantenproblem, muss unbedingt aufgeräumt werden, denn die meisten Leute denken wirklich, das sei so.
Könnten die Zahlen nicht dadurch verzerrt sein, dass Frauen aus ärmeren Schichten und Migrantinnen seltener zur Polizei gehen, weil viele von ihnen denken, der Staat sei sowieso nicht für sie da?
Christiane Mudra: In meinen Interviews hatte ich den Eindruck, dass die betroffenen Frauen quer durch alle sozialen Schichten in diesem sensiblen Kontext der Polizei nur sehr bedingt vertrauen. Frauen in einem privilegierten Lebensumfeld haben manchmal ganz andere Ängste als Unterprivilegierte. Zum Beispiel vor dem drohenden Statusverlust für die ganze Familie. Hinzu kommt, dass solche Täter in der Regel sehr gute Anwälte und Netzwerke haben. Das gilt auch für Vergewaltiger. Täter aus einem prekären Lebensumfeld werden schneller verdächtigt und verurteilt - privilegierte Männer finden leichter ihre Auswege.
Auch der Fall Harvey Weinstein zeigt, dass es schwieriger ist, Leute, die Macht haben, juristisch zur Verantwortung zu ziehen.
An "The Holy Bitch Project" haben Sie schon vor der Pandemie gearbeitet. Welchen Einfluss hatte sie auf das Stück?
Christiane Mudra: Die Pandemie hat natürlich das Problem verstärkt. Inzwischen gibt es aktuelle Zahlen: Häusliche Gewalt hat in Deutschland 2020 um sechs Prozent zugenommen. Aber - und das ist wichtig zu erwähnen - sie war schon vorher sehr, sehr hoch. Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Expartner getötet - und jeden Tag versucht das ein Mann. In Vorbereitung auf das Stück habe ich die Fälle des letzten Jahres im Einzelnen recherchiert: Was die Versuche angeht, muss ich sagen, es ist da meist purer Zufall, dass die Frau überlebt hat. Das Ausmaß der Brutalität ist schockierend.
Die Proben für das Stück mussten unter Pandemie-Bedingungen stattfinden. Wie lässt sich Gewalt auf der Bühne mit Abstand darstellen?
"Wir lösen die Rollenbilder auf und lassen sie verschwimmen"
Christiane Mudra: Ich habe mich von Anfang an dafür entschieden, dass wir auf gar keinen Fall Gewalt auf der Bühne nachstellen, weil ich das respektlos bis albern finde. Das Stück funktioniert sehr stark auditiv: Die Zuschauer tragen Kopfhörer; wir arbeiten mit räumlichem Sound, mit Schauspielern und Schauspielerinnen. Ich habe mit Absicht beide Geschlechter besetzt, weil ich es auch wichtig finde, dass Männer und Frauen darüber ins Gespräch kommen. Wir haben während der Proben sehr viel diskutiert. Männer spielen auch Frauen, Frauen spielen auch Männer, 3D-Animation und Kostümbild spielen mit Cyborg-Anleihen. Wir lösen die Rollenbilder auf und lassen sie verschwimmen, um die Gewaltstrukturen zu verdeutlichen.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind in der Rolle "akustischer Voyeure", sie lauschen - damit will ich die Intimität und das Private der Geschichten betonen; und ein sehr wichtiger Punkt ist das Schweigen. Wie gesagt, Frauen sollen durch Gewalt zum Schweigen gebracht werden. Das funktioniert auch wesentlich über eine konstruierte Scham. Dieser Mechanismus ist in unserer Gesellschaft historisch tief verankert. Man bemerkt das an Redewendungen wie der durch eine Vergewaltigung "entehrten" Frau. Der Täter wird unsichtbar, die Frau stigmatisiert.
So direkt wird das aber heute im deutschsprachigen Raum selten gesagt.
Christiane Mudra: Diese Vergewaltigungsmythen mit Täter-Opfer-Umkehr sind aber noch sehr präsent - und erschreckender Weise auch bei Frauen vorhanden, sodass immer wieder eine Mitschuld bei der Frau gesucht wird. Der Großteil meiner Interviewpartnerinnen, die selbst von Gewalt betroffen waren und im Stück anonymisiert sind, gehört zur Dunkelziffer. Sie waren nie bei der Polizei. Und die wenigen, die dort waren, haben negative Erfahrungen gemacht. Viele haben mir gesagt, sie hatten immer das Gefühl, ihnen werde nicht geglaubt, selbst in ihrem Freundeskreis - oder es wird beschwichtigt und der Täter in Schutz genommen. Das ist ein gesellschaftliches Problem.
Deshalb ist es wichtig, auch hierzulande - wie etwa in Spanien - möglichst früh mit der Aufklärung darüber zu beginnen, wo Gewalt beginnt, wo man Grenzen ziehen muss - und dass die Geschlechter gleichwertig sind, absolut gleichwertig. Schon in Kita und Grundschule sollte das vermittelt werden.
Schämen sich denn heute nicht gerade Frauen, die beruflich und nach außen hin emanzipiert sind, wenn ihnen trotzdem "so etwas" passiert, weil sie sich am ehesten vorwerfen, auf die Masche des Täters hereingefallen zu sein?
Christiane Mudra: Ja. Das gibt es ganz oft. Es ist auch wichtig zu wissen, dass Gewaltbeziehungen nicht sofort nach dem Kennenlernen eskalieren. Im Gegenteil, oft beginnen diese Beziehung sehr romantisch und emotional. Das ist eine Entwicklung, deren Dynamik in den allermeisten Fällen mit einer zunehmenden Kontrolle des Partners über die Frau zu tun, mit einer mitunter sogar charmant wirkenden Manipulation, durch die aber die Frau zunehmend von ihrem Umfeld isoliert wird. Mal passiert das über Komplimente wie "Deine Freunde passen nicht zu dir, die sind doch gar nicht auf deinem Niveau" - mal dadurch, dass der Mann klammert und sagt: "Ich kann nicht so lange ohne dich sein".
Früher oder später wird der Selbstwert der Frau untergraben. Viele betroffene Frauen fühlen sich mit der Zeit klein, schuldig und trauen oft sogar ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr. Gerade nach außen hin starke und selbstbewusste Frauen führen manchmal eine Art "Doppelleben".
Fällt es dann leichter oder eher noch schwerer, sich Freundinnen anzuvertrauen, die feministische Positionen vertreten und damit eine Art Standard setzen?
Christiane Mudra: Es gibt eine sehr große Hemmschwelle, überhaupt darüber zu sprechen. Mich hat es auch erschreckt, als mir klar wurde, in welchem Ausmaß häusliche Gewalt in Deutschland stattfindet. In den letzten Jahren wurde ich in meinem Umfeld und meiner Nachbarschaft immer wieder mit dem Thema Gewalt konfrontiert, aber die Zahlen haben mich trotzdem noch einmal schockiert. Und ich merke, dass Menschen aus meinem Bekanntenkreis aus allen Wolken fallen, wenn ich mit ihnen darüber spreche.
Ich bin über das Ausmaß des Schweigens erstaunt - und darüber, wie wenigen bewusst ist, dass der überwiegende Großteil der Gewalt gegen Frauen in der Familie und den eigenen vier Wänden stattfindet. Auch die sexualisierte Gewalt. Wir lernen von klein auf, dass wir auf der Straße vorsichtig sein sollen. Aber der Großteil der sexualisierten Gewalt findet in der Familie und im Bekanntenkreis statt. Also zu Hause. Dort ist die Frau in Gefahr.
The Holy Bitch Project - häusliche, sexualisierte und digitale Gewalt gegen Frauen.
Uraufführung am 20. Juni 2021 im Pathos München
Weitere Vorstellungen: 21., 23.-27. und 29. Juni 2021 Tickets: pathosmuenchen.de
Christiane Mudra ist Autorin, Regisseurin und Gründerin des Projekts investigative theater. Nach dem Schauspielstudium und Engagements an diversen Theatern wie dem Schauspielhaus Bochum, der Volksbühne Berlin und den Salzburger Festspielen konzipierte sie eigene Stücke auf Grundlage langer Recherchen zu Themen wie Überwachung, Rechtsterrorismus sowie Geheimdienst- und Justizskandale. Für die Trilogie "Wir waren nie weg. Die Blaupause", "Off the record-die Mauer des Schweigens" und "Klein Kläger" beobachtete sie unter anderem über Jahre den Münchner NSU-Prozess.
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