Umfrage: Kompromissbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung wächst

Zerstörtes Haus: Zunehmende Vertreibung war ein Faktor für das veränderte Stimmungsbild

(Bild: Shutterstock.com )

Ukrainer zeigen wachsende Kompromissbereitschaft im Krieg. Umfrage offenbart sinkende Unterstützung für vollständige Gebietsbefreiung. Was steckt hinter dem Stimmungswandel?

In einer aktuellen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS), die in Zusammenarbeit mit norwegischen Sozialwissenschaftlern ausgewertet wurde, zeichnet sich ein Stimmungswandel in der ukrainischen Bevölkerung ab. Angesichts des anhaltenden Krieges mit Russland steigt die Bereitschaft, für einen Frieden auch territoriale Zugeständnisse in Betracht zu ziehen.

Stimmungsbild der Bevölkerung

Die zwischen Juni und Juli 2024 durchgeführte Telefonumfrage unter 2.200 repräsentativ ausgewählten Erwachsenen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Ukraine zeigt, dass die Unterstützung für die Befreiung aller ukrainischen Gebiete, einschließlich der Krim, seit Oktober 2022 von 71 auf 51 Prozent gesunken ist.

Die Forscher gaben an, dass dies "die größte Veränderung" im Antwortverhalten im Vergleich zur Erhebung von 2022 war.Gleichzeitig stieg die Unterstützung für einen sofortigen Waffenstillstand und intensive Verhandlungen von 11 auf 31 Prozent.

Kriegsmüdigkeit und Verluste

Die Umfrage zeigt auch, dass 58 Prozent der Befragten "sehr" und 28 Prozent "etwas" besorgt über die Kriegsmüdigkeit ihrer Mitbürger sind.

Nur 10 Prozent äußerten diesbezüglich keine Besorgnis. Obwohl die meisten Befragten nicht körperlich verletzt wurden (12 Prozent), hat etwa die Hälfte Gewalt durch russische Streitkräfte erlebt, und die meisten haben einen nahen Verwandten oder Freund verloren (62 Prozent). Ein Drittel der Befragten wurde aus ihrer Wohnung vertrieben.

Dies macht sich auch im Antwortverhalten bemerkbar. So ist die Unterstützung für die Fortsetzung des Krieges "bis zur Befreiung sämtliche Territorien" unter denjenigen, die nicht Vertrieben wurden, um mehr als 10 Prozent höher.

Westliche Unterstützung weiterhin erwartet

Die Umfrage macht darüber hinaus deutlich, dass die Ukrainer weiterhin optimistisch in Bezug auf anhaltende militärische Unterstützung des Westens sind, auch wenn das Vertrauen seit Oktober 2022 abgenommen hat.

Etwa 19 Prozent glauben, dass die Unterstützung zunehmen wird (im Vergleich zu 29 Prozent 2022), während 35 Prozent glauben, dass sie gleich bleibt (2022: 41 Prozent). Fast ein Viertel der Befragten (24 Prozent) rechnet mit einer anhaltenden, aber schwächeren Unterstützung (16 Prozent im Jahr 2022), und 13 Prozent halten es für unwahrscheinlich, dass die Unterstützung anhalten wird (3 Prozent im Jahr 2022).

Leben oder Territorium?

Vergleichbare Erhebungen zu Beginn des Krieges haben gezeigt, dass die Ukrainer damals Strategien bevorzugten, die die politische Autonomie des Landes und die Wiederherstellung des gesamten Territoriums sicherstellten, selbst wenn dies mit höheren zivilen oder militärischen Verlusten oder der Gefahr eines nuklearen Angriffs verbunden war.

Die aktuelle Umfrage deutet jedoch darauf hin, dass der Gedanke an den Verlust von Menschenleben die Einstellung zu Verhandlungen beeinflussen könnte. Auf die Frage nach der Bereitschaft, "einige Gebiete abzutreten, um den Krieg zu beenden", stimmten 24 Prozent der Befragten zu.

Wurde die Frage jedoch mit dem Zusatz gestellt, dass territoriale Zugeständnisse Leben retten könnten, stieg die Zustimmung auf 34 Prozent.

Unnachgiebig gegenüber russischer Kontrolle

Trotz der gestiegenen Verhandlungsbereitschaft lehnten es 90 Prozent der Befragten in der Umfrage 2024 ab, Russland die Kontrolle über die seit 2022 besetzten Gebiete zu überlassen.

Dies deutet darauf hin, dass die territorialen Annexionen Russlands bei den Ukrainern niemals Legitimität erlangen werden.

Regierungsumbildung und militärische Offensiven

Die Umfrageergebnisse kommen zu einer Zeit, in der Präsident Wolodymyr Selenskyj eine umfassende Kabinettsumbildung vorgenommen hat, bei der neun Minister, darunter Außenminister Dmytro Kuleba, ersetzt wurden.

Selenskyj erklärte, er wolle eine "aktivere" Regierung, die sich stärker um die Unterstützung der westlichen Verbündeten bemühe. Diese Neuausrichtung der Regierung fällt mit den ukrainischen Offensiven im russischen Gebiet Kursk zusammen, die laut Selenskyj Kiew Verhandlungsmacht für künftige territoriale Verhandlungen mit Russland verschaffen sollen.