Umfragen: Immer mehr Ukrainer wollen Kriegsende durch Diplomatie

Seite 2: Der Unwille zu kämpfen

Eine Umfrage der ukrainischen Forschungsagentur InfoSapiens ergab jüngst, dass nur 35 Prozent der Männer, die noch nicht kämpfen, bereit sind, zu dienen. Das ukrainische Militär muss deswegen zu immer härteren Maßnahmen greifen, um sicherzustellen, dass es noch fähige Soldaten an der Front gibt.

18- bis 60-Jährige dürfen das Land nun nicht mehr verlassen und müssen, wenn sie im Ausland sind, ihre Personaldokumente in der Ukraine erneuern lassen.

Harsch vorgehende Militär-Anwerber haben gleichzeitig damit begonnen, Männer im wehrpflichtigen Alter von Veranstaltungen wie Hochzeiten und auf der Straße aufzufangen. Das führt dazu, dass Männer sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, um nicht einberufen zu werden.

Vor dem Hintergrund von Rückschlägen im Zuge von russischen Vormärschen und des Abnutzungskriegs mit hohen Verlusten und vielen Verletzten sind 11.000 ukrainische Männer bereits vor einer Teilnahme am Krieg geflohen, indem sie illegal nach Rumänien, einem der sieben an die Ukraine angrenzenden Länder, eingereist sind.

Flüchtlinge und Donbas-Ukrainer

Die Opposition gegen Weiterkämpfen ohne Verhandeln könnte zudem noch deutlicher ausgeprägt sein, als die Umfrageergebnisse suggerieren. Denn in Kriegszeiten gibt es – auch aufgrund von politischem und öffentlichem Druck – den Hang, sich um die Fahne zu versammeln sowie Kritik an der politischen und militärischen Führung abzudämpfen (die sogenannte "Schweigespirale").

Dazu kommen methodologische Einschränkungen, die die Ergebnisse verändern.

So sind nicht alle Ukrainer in den Umfragen befragt worden. Die rund 6,5 Millionen Geflüchteten in anderen Ländern sowie diejenigen, die in den von Russland besetzten Ostgebieten leben, sind von den Befragungen ausgeschlossen worden.

Auch wenn man nicht sagen kann, wie die Flüchtlinge gegenüber den maximalistischen Kriegszielen eingestellt sind, haben sie doch in gewisser Weise mit den Füßen abgestimmt und sich gegen eine aktive Teilnahme am Krieg entschieden.

Die neue Realität

Und bei den Ukrainer:innen im Donbas ist traditionell eine stärker pro-russische Haltung anzutreffen. Zudem sind Ukrainer, die an der Front leben, in Umfragen unterrepräsentiert, da sie schlechter zu erreichen sind. Man weiß nun aber, dass in den aktiven Kriegszonen die Zustimmung zu einem Waffenstillstand und Verhandlungen höher ist als im wenig umkämpften Westen der Ukraine.

Die Ukrainer haben sich über zwei Jahre lang mutig gegen die russische Invasion gestellt. Aber die düsteren Aussichten auf dem Schlachtfeld und die Zerstörungen nagen an ihrer Zuversicht und dem Wunsch nach einem Verhandlungsfrieden, was nicht überraschend ist.

In den westlichen Unterstützerstaaten sollte diese neue Realität, was die Einstellung der Ukrainer angeht (sie ist ja dynamisch und unterliegt Veränderungen), zur Kenntnis genommen werden.

Ist der Westen an allen Ukrainern interessiert?

So zu tun, als ob Selenskyj mit seinen Kriegszielen heute und in Zukunft alle Ukrainer repräsentiere und sie geschlossen hinter ihm stehen, entspricht nicht dem, was Umfragen hervorbringen. Es ist wenig mehr als Wunschdenken.

Sicherlich ist es nicht so, dass die ukrainische Bevölkerung die russischen Bedingungen für einen Kompromissfrieden einfach so akzeptiert. Denn es ist am Ende ein ungerechter und krimineller Kriegsakt, der ihnen einen Kompromiss und Verluste abverlangt.

Aber Ukrainer sind zunehmend offen für Verhandlungen und zum Teil auch für eine unfaire Lösung, insofern damit Frieden erreicht und die Zerstörungen gestoppt werden kann. Das sollten Washington, Brüssel, Paris und Berlin nutzen, um mit der Ukraine eine Friedensperspektive zu finden, die der Bevölkerung die Chance gibt, das Land wiederaufzubauen.