Und wer hat die Fake News erfunden?
Ukraine-Krieg und Medien: Der US-Publizist und Präsidenten-Berater Walter Lippmann erlebt derzeit eine vielleicht allzu wohlmeinende Renaissance. Noam Chomsky sieht ihn als Paten der modernen Propaganda.
In seinem Beitrag zum Ukrainekrieg kritisierte Noam Chomsky jüngst Walter Lippmann und Edward Bernays als Paten der modernen Propaganda. Das erstaunt, weil Lippmann just eine Renaissance als vermeintlicher Medienkritiker erlebt. Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News (erschienen bei Edition Buchkomplizen)1 vereint drei ältere pressekritische Lippmann-Artikel, darunter Liberty and the News.
Die Herausgeber Graupe und Ötsch feiern Lippmann als Kämpfer für Qualitätsmedien, Demokratie und Freiheit. Der Autor erlaubt sich, die Frage aufzuwerfen, ob die Lippmann-Aufsätze nicht anders zu deuten wären: als abwiegelnde Reaktion auf die 1919 erfolgte Veröffentlichung von The Brass Check.2
Damals war der Sozialist Upton Sinclair ein berühmter Enthüllungsautor und allein seine Arbeit an einem Buch über die Presse dürfte das Establishment der USA in helle Panik versetzt haben. 1906 hatte sein Buch The Jungle die mächtige Fleischindustrie attackiert und zu ersten Hygienegesetzen geführt. The Brass Check: A Study of American Journalism wurde von der Presse verbissen totgeschwiegen.
Sinclair publizierte es im Selbstverlag. Doch seine Kritik an ebenso korrupten wie sensationslüsternen Zeitungen und machtgierigen Pressezaren traf einen Nerv der Zeit. "Die These dieses Buches ist, dass der amerikanische Journalismus eine Klasseninstitution ist, die den Reichen dient und die Armen verschmäht", schrieb Sinclair, und es drohte eine weite Verbreitung dieser Sicht der US-Presse.
Während der aus kleinen Verhältnissen stammende Upton Sinclair an der Seite der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung der USA kämpfte, hatte Walter Lippmann sich den Reichen und Mächtigen seiner Zeit angedient.
Der Sohn aus gutem Hause war in Jugendjahren noch in der sozialdemokratischen Fabian Society. Gerade volljährig kritisierte Lippmann 1910 für das Enthüllungs-Magazin Everybody‘s die Finanzmacht von J.P. Morgan. Sinclair zeigt 1919 in The Brass Check am Beispiel Everybody‘s wie Sensationsmagazine mit kritischen Artikeln ihre Auflage steigern, dann aber auf Mainstream-Kurs umschwenken, um mit Anzeigen aus Industrie und Gewerbe Kasse zu machen.
Lippmann, Eugene Debs und die Freiheit in Amerika
Das 20. Jahrhundert beginnt in den USA mit den wilden Jahren der Reform-Ära. In blutigen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit steht die Regierung meist auf Seite der Konzerne gegen die Gewerkschaften. Doch es rumort auch in den bürgerlichen Parteien. Der mit Lippmann befreundete Ex-Präsident Teddy Roosevelt spaltet die Republikaner, unterliegt in der Wahl 1912 aber dem Demokraten Woodrow Wilson.
In dieser Wahl erzielt der US-Sozialist Eugene Debs, obwohl man ihn vorsorglich inhaftiert hatte, an die eine Million Stimmen. Ein für die USA sensationelles Ergebnis, den Republikaner Taft wählten auch nur 3,5 Millionen US-Bürger. Sinclairs Studie beweist 1919 knallhart, dass die US-Presse mehrheitlich tendenziös gegen Debs und überhaupt gegen alles, was sozialistisch war, gehetzt hatte. Von fairen und freien Wahlen konnte folglich keine Rede sein.
Lippmann dagegen rechtfertigt noch 1920 die Inhaftierung von Debs und bezichtigt den Sozialisten der "Agitation" – wofür er, anders als Sinclair, keinerlei Beweise vorlegen zu müssen meint. Kein Wunder, denn Lippmann wurde schnell zu einem der Drahtzieher der Unterdrückung sozialer Bewegungen.
Lippmann, der es zuvor mit dem republikanischen Volkstribunen Roosevelt gehalten hatte, lief 1914 ins Lager des siegreichen Präsidenten Wilson über und wurde Propaganda-Berater für seine Wiederwahl 1916. Im Zeichen des Ersten Weltkriegs lullte Wilson die wenig kriegsbegeisterten Amerikaner mit pazifistischen Parolen ein, um nach seiner Wiederwahl auf Kriegskurs umzuschwenken.
Lippmann erfindet für ihn die "Atlantic Community" mit Briten und Franzosen und organisiert eine beispiellose Propaganda-Kampagne, um die US-Bevölkerung für militärische Maßnahmen zu gewinnen. In Public Opinion3 wird Lippmann später auf die Bedeutung von Bildern, Symbolen und Begriffen bei der Manipulation von Menschen hinweisen.
Vom Creel-Committee zum Espionage Act
Der deutsche "Hunnen"-Kaiser und seine Verbrechen werden mit oft erlogener Kriegspropaganda in Wort, Schrift und Film zum Hassobjekt gemacht. Das auf Initiative Lippmanns installierte Committee on Public Information (CPI) verbreitet z.B. gestellte Filmaufnahmen von deutschen Soldaten, die Müttern ihr Baby entreißen und in die Flammen werfen.
Das CPI, nach einem berühmten Mitglied auch Creel-Committee genannt, druckt Millionenauflagen von Propagandaschriften und heuert eine Armee von Agitatoren an, die etwa bei Filmvorführungen das Publikum mit vorbereiteten Hassreden aufhetzen. In der Propagandaforschung gilt dies als Beginn der modernen Kriegspropaganda.
Doch es bleibt nicht bei reiner Propaganda. Mit einer Serie von Gesetzen werden die USA militarisiert und entdemokratisiert, ähnlich wie 2001 nach den 9/11-Anschlägen. Woodrow Wilson erlässt etwa den berüchtigten Espionage Act, angeblich gegen deutsche Spione, vor allem aber gegen sozialistische Kriegsgegner, mit dem derzeit Julian Assange politisch verfolgt wird.
Upton Sinclair schreibt nach Kriegsende in The Brass Check, die US-Industrie-Autokratie habe gelernt, Propaganda zu organisieren: "the art of hate". Sie wende dies nun gegen die Arbeiter-Bewegung an, wie auch die (uns heute totalitär anmutenden) Gesetze nebst "spy-system", die zuerst "against the Kaiser" gerichtet waren (S.381).
Für Sinclair ist die kapitalistische Presse Teil eines Systems der Unterdrückung der Arbeiter durch Unterdrückung von Nachrichten. Er plädiert für Gesetze gegen verlogene Hass- und Schmierkampagnen, für das Recht auf Gegendarstellungen der davon Betroffenen und für Journalisten-Gewerkschaften.
Die sollen verhindern, dass Autoren zu willigen Bütteln der Medientycoone gemacht werden. Eine bessere Qualität von Informationen soll durch genossenschaftlich organisierte Nachrichtenagenturen erreicht werden.
Sinclairs Kritik an der miesen Qualität vieler US-Medien
Walter Lippmann und seinen Freunden dürfte das nicht gefallen haben. Sinclairs Kritik an der miesen Qualität vieler US-Medien, an ihren widerwärtigen, korrupten und kriminellen Machenschaften war aber 1919 in The Brass Check so gut belegt, dass Lippmann ein einfaches Ableugnen nicht aussichtsreich erschien.
So griff Lippmann 1920 in seinen Artikeln einige wenige Punkte von Sinclairs Pressekritik abwiegelnd auf. Die "aktuelle Krise der westlichen Demokratie" sei "eine Krise des Journalismus", aber: "Ich stimme nicht mit denen überein, die meinen, dass Korruption der einzige Grund ist." (S.21) Zielte Lippmann damit auf Upton Sinclair, ohne ihn beim Namen zu nennen?
Sinclair beschränkt sich keineswegs auf Korruption im engeren Sinne, wie Lippmann zu unterstellen scheint. Sinclair weist an zahllosen konkreten Fällen die Unterdrückung von Nachrichten, die Verbreitung tendenziöser Verdrehungen und verleumderischer Lügen nach, meist gegen die sozialistische Linke gerichtet.
Lippmann lässt sich 1920, ohne im Mindesten auf Sinclair einzugehen, gerade einmal zum Geständnis herab, dass ein Herausgeber der US-Presse "die jeweiligen Nachrichten unter Bezugnahme auf die in seiner gesellschaftlichen Gruppe vorherrschenden Konventionen behandelt." (S.45)
Dieses abwiegelnde Eingeständnis heute rückwirkend zu grandioser Medienkritik aufzuwerten, scheint reichlich übertrieben. Besonders angesichts der von Lippmann verschwiegenen Study of American Journalism Upton Sinclairs, die weit eher einen Meilenstein der Medienforschung darstellt. Auch wenn das Schwadronieren über "gesellschaftliche Konventionen" in akademischen Ohren heute gefälliger klingen mag als Sinclairs Kritik an der korrupten, unappetitlichen und kriminellen Durchsetzungen knallharter Klasseninteressen in der Presse.
Lippmann versucht 1920 wohl noch, Upton Sinclair totzuschweigen und behauptet, "Politologen" debattierten das Thema Presse, "ohne eine einzige signifikante Studie über den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung hervorzubringen" (S.26). Das sieht nach einer Nebelkerze aus, geeignet, den Blick auf Sinclairs bahnbrechende, 450 Seiten starke "Study of American Journalism" zu verstellen.
Von Lippmann zu Bernays
Lippmann schiebt in seiner dürftigen Analyse die Verantwortung für die Presse-Misere der USA auf schlecht ausgebildete Journalisten, fordert eine Akademisierung des Berufsstandes und müht sich dann um Psychologisierung des Themas. Nebenher rechtfertigt Lippmann die eines totalitären Regimes würdige Inhaftierung von Sozialisten wie Eugene Debs, weil diese "Aufreizung zu einer Übeltat" begangen hätten (S.36):
...kein Entrinnen für Männer wie den Sozialisten Eugene Debs, den Gewerkschafter William Dudley Haywood oder alle, die Kriegsanleihen boykottieren.
Die US-Justiz solle "der Agitation nicht nachgeben" (S.38). Agitation ist für Lippmann offensichtlich vor allem das, was Sozialisten und Gewerkschaften, Anarchisten und Pazifisten sagen.
Die drei jetzt unter dem bombastischen Titel Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News neu aufgelegten Artikel reichten 1920 jedoch nicht, um The Brass Check dauerhaft Paroli zu bieten. So legte Lippmann zwei Jahre später nach: Sein Buch Public Opinion, wird heute als Standardwerk von Psychologie, Soziologie und Publizistik gehandelt, um nicht zu sagen überschätzt.
Es psychologisiert die Problematik von Liberty and the Press und kippt dabei von Medienkritik in die Rechtfertigung einer auf Propaganda gestützten Eliten-Herrschaft. Dieser Propaganda werden Theorien und Instrumente bereitgestellt, wie die psychologische Manipulation zu optimieren sei.
Es blieb dem Lippmann-Jünger Edward Bernays vorbehalten, diese Ansätze weiter zu entwickeln und ein Millionengeschäft aus der Massenmanipulation zu machen. So verkaufte Bernays der US-Bevölkerung etwa fette Speisen ("American Breakfast") und Zigaretten ("Fackeln der Freiheit") als heroisch und gesundheitsförderlich.
Bernays benannte Propaganda dafür in "Public Relations" um, da der Begriff belastet war, nicht zuletzt durch die Kriegs- und Gräuelpropaganda von Lippmanns Committee on Public Information.
Was Bernays nicht davon abhielt, unter dem Label PR ebenfalls Kriegspropaganda zu machen, etwa für den blutigen "Regime Change" der CIA in Guatemala 1954. Er hetzte die US-Öffentlichkeit gegen den demokratisch gewählten Jacob Arbenz auf, dessen Landreform ihn nun zum verhassten „Kommunisten“ abstempelte. Die Brüder Dulles, einer CIA-Chef und Ex-Jurist der United Fruit (heute Chiquita), der andere US-Außenminister und Bananen-Aktionär, organisierten den Putsch.
Beide standen mit Walter Lippmann in Verbindung, der den CIA-Chef J.F.Dulles in seinem ersten TV-Auftritt 1962 gegen Kritik verteidigte, dem Außenminister "Dear Allan" gab Lippmann 1958 Tipps zu China.
Nach außen blieb Lippmann dagegen der honorige Ostküsten-Intellektuelle und Qualitäts-Journalist. Bernays Kunden bei der mächtigen United Fruits Company bekamen ihre Bananen-Plantagen zurück, das vormals demokratische Guatemala wurde zu einer blutigen Militärdiktatur, die 100.000 Opfer forderte.
Quellen
Walter Lippmann: Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News. Aus dem Amerikanischen von Karim Akerma. Hg. Walter Otto Ötsch, Silja Graupe. Frankfurt am Main: Edition Buchkomplizen (Westend) 2021
Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung. Wie sie entsteht und manipuliert wird, Hg. Walter Otto Ötsch, Silja Graupe, Frankfurt am Main: Westend 201
Upton Sinclair: The Brass Check. A Study of American Journalism, Original im Selbstverlag 1919, Nachdruck 2015 von Forgotten Books