Ungeduldiges Warten auf eine Verbesserung der Lebensumstände
Ägypten vor der Stichwahl: Die Enttäuschung über den politischen Prozess wächst
Viele Ägypter sehen sich durch keinen der beiden in der Stichwahl antretenden Kandidaten repräsentiert. Die Enttäuschung über den politischen Prozess wächst. Zudem mehren sich Gerüchte über Wahlfälschung zugunsten des zweitplatzierten Ex-Generals Ahmed Shafiq.
Die Straßen von Imbaba, diesem wild gewachsenen Viertel im Norden Kairos, sind voll und laut, die Straßenränder von Müll gesäumt. Die Gesichter der Präsidentschaftskandidaten prangen von den unverkleideten Backsteinwänden. Geschätzte 2 Millionen Menschen leben in diesem engen und überfüllten Viertel. Menschen mit wenig Raum zum Leben, wenigen Aufstiegsmöglichkeiten und wenig Bildung - die Arbeiter- und Unterschicht der Hauptstadt. Imbaba ist dabei unter den wild gewachsenen Armenvierteln nur das größte und bekannteste. Ein Drittel der 20 Millionen Einwohner Kairos lebt in ähnlichen Umständen.
Es sind jene Menschen, die von vielen Beobachtern aus dem Westen gerne als leichtes Futter für die Islamisten gesehen werden. Doch in der Präsidentschaftswahl hat Imbaba mehrheitlich nicht den Kandidaten der Muslimbrüder Mohamed Morsi gewählt. Mit ihrer Ideologie islamischer Erneuerung (An-Nahda) konnte die Bruderschaft unter den Armen der Hauptstadt nicht punkten. Es waren die sakulären Kandidaten Hamdeen Sabbahi und Ahmed Shafiq, die hier am besten abschnitten, wenn auch mit einer völlig unterschiedlichen Agenda.
Kein Triumph für die Muslimbrüder
Auch wenn die Muslimbrüder die politische Landschaft Ägyptens dominieren würden, sollte ihr Kandidat Morsi die Stichwahl (am 16. und 17. Juni) gewinnen, war die erste Wahlrunde keineswegs ein Triumph für die Bruderschaft. Bei einer unerwartet niedrigen Wahlbeteiligung von nur 46% stimmten nur 5,8 der über 50 Millionen Wahlberechtigten für Mohamed Morsi, den Kandidaten der Muslimbruderschaft.
Für die größte muslimische Organisation der Welt, die über beachtliche finanzielle Mittel und eine weit verzweigte Organisationsstruktur verfügt, bedeuten diese knapp 6 Millionen Stimmen für ihren Kandidaten nicht viel mehr als die Mobilisierung ihrere Basis. In den Parlamentswahlen vom Januar konnten die Muslimbrüder bei einer weitaus höheren Wahlbeteiligung noch über 40% der Stimmen auf sich vereinigen.
Vertrauensverlust
Die geringe Wahlbeteiligung spiegelt 15 Monate nach der Revolution und 4 Monate nach den Parlamentswahlen jedoch auch einen Vertrauensverlust in den politischen Übergangsprozess wieder.
Viele Menschen haben den Glauben an den fairen Charakter dieses Prozesses verloren, nachdem sich das von Muslimbrüdern dominierte gewählte Parlament und die vom Militärrat ernannte Regierung in den vergangenen Monaten immer wieder in gegenseitige Handlungsunfähigkeit versetzt haben. Kaum ein neues Gesetz konnte dadurch erlassen werden.
Ökonomische Nöte und Sicherheit als Triebkraft des Wählerentscheids
So stand in dieser Wahl für die meisten Wähler nicht der gottgefällige Staat im Vordergrund, sondern materielle Nöte. In vielen Teilen des Landes kam es in den letzten Monaten wiederholt zu Versorgungsengpässen, z.B. bei Gas für den Küchengebrauch oder Benzin an den Tankstellen. Auch die Straßenkriminalität in den Großstädten ist seit der Revolution gestiegen, wenngleich Kairo immer noch weit unter dem internationalen Durchschnitt vergleichbarer Städte liegt. Beide Aspekte kamen den zweit- und drittplatzierten Kandidaten Ahmed Shafiq und Hamdeen Sabbahi zugute. Beide traten mit einer klar definierten Agenda im Wahlkampf auf, im Gegensatz zu den breit aufgestellten "Konsenskandidaten" Amr Moussa und Abdel Moneim Aboul Fotouh, die lange als die chancenreichsten Präsidentschaftsanwärter galten.
Ahmed Shafiqs Wahlkampf drehte sich primär um das Wiederherstellen der Sicherheit. Dabei kam ihm seine Vergangenheit als Kampfpilot in der Armee und das Image des kompromisslosen Machers zugute. Aus seiner Zeit als Luftfahrt-Minister unter Hosni Mubarak wird ihm die Modernisierung der ägyptischen Luftlinie und die Errichtung des neuen Kairoer Flughafens zugeschrieben. Als letzter Premierminister unter Mubarak wird er außerdem für Gewalt gegen Demonstranten während der Umbruchtage verantwortlich gemacht. Mehr als jeder andere Kandidat verkörperte er die Kaste der "Felool" - der Mitglieder des alten Regimes.
Der andere Überraschungsgewinner, Hamdeen Sabbahi, konnte mit einer Agenda des sozialen Ausgleichs und betonter Volksnähe bei den Wählern punkten. "Einer von uns!", verkünden seine Wahlplakate, auf denen er stets lächelnd abgebildet ist. Das kam nicht nur bei der städtischen Unterschicht gut an: In Kairo und Alexandria konnte Sabbahi mehr Stimmen als jeder andere auf sich vereinnahmen.
Hamdeen Sabbahi war mit seiner Agenda den Triebkräften, die zur Revolution geführt hatten, am nächsten: Der eklatanten sozio-ökonomischen Ungerechtigkeit im Land. Die Perspektivlosigkeit, vor allem der Jugend, hat sich seit der Revolution nicht verbessert, die Jugendarbeitslosigkeit ist nach wie vor extrem hoch. Viele Kleinbauern im Nildelta können durch Landwirtschaft kaum mehr ihren Lebensunterhalt verdienen und wandern in die Slums von Kairo und Alexandria ab.
Zwar laufen Gerichtsverfahren gegen einen kleinen Teil der alten regimetreuen Business-Elite um Mubarak-Sohn Gamal. Doch die Armee kontrolliert nach wie vor geschätzte 25-40% der ägyptischen Wirtschaft.
Das Bedürfnis nach dem starken Mann
Das gute Abschneiden des Ex-Generals Shafiq mag vor diesem Hintergrund überraschen, doch auch dies ist plausibel.
Zu seinen Unterstützern zählen Menschen, die sich unter dem alten Regime besser aufgehoben fühlten als in der gegenwärtigen Umbruchphase mit ungewissem Ausgang - Bevölkerungskreise, die etwas zu verlieren haben: Teile der Mittelschicht, Ex-Mitglieder der alten Regierungspartei Hizb-al Vattani, sowie ein Großteil der koptischen Minderheit, die sich vor einer islamischen Radikalisierung fürchten. Für diese Menschen schien Shafiq am ehesten eine Rückkehr zu den alten berechenbaren Verhältnissen zu repräsentieren. Shafiq war der einzige der Kandidaten, der sich wiederholt offen gegen die Revolution ausgesprochen hat.
Doch auch Menschen in verarmten Vierteln wie Imbaba haben für ihn gestimmt. In manchen Bezirken im Nildelta, die als Bastionen der Muslimbruderschaft gelten, schnitt Ahmed Shafiq sogar am besten ab. Mehr als jeder andere Kandidat verkörperte er das Image des wortkargen "Machers". 15 Monate nach dem Sturz Mubaraks, in einer Phase anhaltendender wirtschaftlicher Unsicherheit, steigt das Bedürfnis nach dem starken Mann wieder.
Gerüchte von Wahlbetrug
Doch es mehren sich Gerüchte, dass dieser starke Mann nur mit Hilfe von Wahlbetrug auf dem zweiten Platz landen konnte.
Laut Sabbahi-Anhängern sollen 900.000 Wehrpflichtige anbeordert worden sein, um Shafiq zu wählen, obwohl Wehrpflichtige per Gesetz von der Stimmenabgabe ausgeschlossen sind. Diese Klage wurde von Sabbahi-Anhängern bei der höchsten Wahlkommission eingereicht. Die Kommission lehnte eine Untersuchung ab, was weitere Spekulationen über die politische Neutralität der Wahlkommission in Gang brachte. In den Augen von Sabbahi-Anhängern und mancher politischer Analysten ist die Kommission nicht frei vom Einfluss des Militärrats.
Szenarien für die Zeit nach der Stichwahl zwischen Shafiq und Morsi sagen eine weitere Polarisierung der politischen Landschaft voraus - eine Situation, in der sich ein Großteil der Ägypter nicht wiederfindet.
Die Mehrheit der Ägypter möchte weder einen islamischen Staat noch eine Restauration des Mubarak-Staates in abgeschwächter Form. Die Mehrheit der Ägypter wartet ungeduldig auf eine Verbesserung der Lebensumstände.
Nun vor die Wahl zweier Kandidaten gestellt zu sein, die nur diese konträren Pole des politischen Spektrums vertreten, droht viele Ägypter weiter vom politischen Prozess zu entfremden. Trotz der Gefahr eines möglicherweise in Eskalationen ausartenden Aufeinandertreffens von Armee und Muslimbruderschaft, besteht jedoch Hoffnung in Ägypten: An scheinbar jeder Straßenecke, in Cafes und in Geschäften, in Bussen und der Kairoer U-Bahn wird derzeit über Politik diskutiert.
Eine neue Diskussionskultur hat sich Bahn gebrochen. Wildfremde Menschen, die gerade erst die Möglichkeit der Mitbestimmung für sich entdeckt haben, befinden sich im Austausch über die Zukunft des Landes. Dieser Geist ist aus der Flasche und - völlig unabhängig vom Ausgang der Wahl - kein Regime wird ihn wieder völlig zurück in die Flasche befördern können.