Ungefragte Meinungsäußerungen von Undankbaren
Was berechtigt eigentlich jeden Computerbesitzer, ungefragt seine Meinung abzusondern?
Eigentlich will man nur ein kleines Präsent überreichen - aber die Miesepetrigen haben dafür nur Spott über, statt sich artig zu bedanken. Grund genug für Jean-Remy von Matt, ein kleines Klagelied anzustimmen über die "Klowände des Internet". Und sich an Netzthesen zu erinnern.
Spätestens zu Weihnachten wird der Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und dem Drang, alles ohne Rücksicht auf Folgeschäden zu sagen, gewahr. Zwar hätte man durchaus die Möglichkeit, sich für die selbst gestrickten Wollsocken, die neuen Unterhosen in Feinripp und dergleichen mehr eben nicht zu bedanken, aber da man einerseits höflich ist, andererseits auch die Folgen bedenkt, übt man sich lieber in Contenance.
Je nach dem Gegenwert des Geschenkes fällt dann auch das Lächeln schmallippig oder breit aus, schließlich hat man ja eine gute Erziehung genossen, die sich eben in solchen Verhaltensweisen manifestiert. In Beziehungen dürfte so manches Mal ein Streit daraus resultieren, dass das gut gemeinte Geschenk alles andere als willkommen ist, und der Beschenkte eventuell sogar hofft, es noch rechtzeitig umtauschen zu können. Zu der höflichen Pflicht, sich zu bedanken, gesellen sich also sowohl praktische Erwägungen als auch ein Drang zur Ehrlichkeit.
Wenn beide Parteien (Schenkender als auch Beschenkter) mit solcher Ehrlichkeit umgehen können, geht dies problemlos vonstatten. Fühlt sich aber derjenige, der mit Bedacht ein möglicherweise auch noch kostspieliges Geschenk ausgedacht hat, durch die Kritik am Geschenk persönlich angegriffen, so setzt er diese auch schon einmal mit Unhöflichkeit und Undankbarkeit gleich.
Du bist Miesepeter
Wie muss es da erst jemandem gehen, der "etlichen Millionen Menschen ein Geschenk macht" (vgl.30 Millionen Euro gute Laune)? "Bunt verpackt in schwarz-rot-goldenen Farben" (vgl. Hurra, ich bin Deutschland!), die bei anderen nur die (un)rechten Assoziationen hervorrufen, soll das Geschenk Freude bereiten in miesepetrigen Zeiten und was passiert? Es stößt eben nur auf Miesepeter, die daran herumnörgeln oder es "ins Lächerliche ziehen" (vgl. Du bist geklaut!).
So ist es dann auch kein Wunder, dass sich derjenige, der dieses wunderbare Geschenk an all diejenigen, die nun auf die eine oder andere Weise "ein deutscher Baum", "ein deutscher Einstein" oder eben nur Deutschland sind, traurig zurückzieht und seiner Frustration Luft macht indem er auf eben die Tugenden hinweist, die seine Mutter ihm noch beibrachte:
Meine Mutter hat mir beigebracht, dass man sich für ein Geschenk bedankt, selbst wenn man damit nichts anfangen kann.
Derart beklagt sich Jean-Remy von Matt über das (Medien)Echo auf die "Du bist Deutschland"-Kampagne. Denn der mit Yvonne Catterfeld und anderen Promis (u.a.) auf ein Deutschlandgefühl eingeschworene Kampagnenrezipient zeigte sich bisher in Blogs, Foren und Mailinglisten nicht genug dankbar für eben die "größte gemeinnützige Kampagne aller Zeiten und ein riesiges Geschenk". Doch damit nicht genug. Von Matts Wehklage enthält auch einen Satz, der bereits jetzt das Zeug hat um in die Zitatesammlung 2006 aufgenommen zu werden:
Was berechtigt eigentlich jeden Computerbesitzer, ungefragt seine Meinung abzusondern?
Unabhängig von der "Du bist Deutschland"-Problematik, die bereits oft genug thematisiert wurde, stellt sich beim Lesen dieser Frage wahlweise Heiterkeit oder Empörung ein. "Was berechtigt... ungefragt seine Meinung abzusondern?" - diese Frage zielt direkt auf Artikel 5, Satz 1 des deutschen Grundgesetzes ab, der da lautet:
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Artikel 5 Grundgesetz
Kritik an mir? Undenkbar
Wie auch die anderen Grundrechte, finden sich die Einschränkungen dieser Meinungsfreiheit in den nachfolgenden Sätzen und Absätzen. Keine dieser Teile des Artikel 5 behandelt jedoch die Frage, ob Undankbarkeit bzw. Unhöflichkeit bei Geschenken die Meinungsfreiheit einschränken sollen. Die Entscheidung hierüber liegt im Ermessen desjenigen, der ein Geschenk annimmt, nicht jedoch im Ermessen des Schenkenden oder gar des Gesetzgebers.
Von Matts Worte in der im Blog des Jens Scholz zitierten Email lassen jedoch die Frage aufkommen, inwiefern Kampagnenleiter oder -initiatoren überhaupt damit rechnen, ihre Kampagne könne nicht bei der Zielgruppe ankommen. Die Email, deren Authentizität mittlerweile laut Jens Scholzes Blog verifiziert sein soll, zeigt zumindest ein ähnliches Verhalten in Bezug auf Kritik, wie es auch diverse Politiker (vgl. Auf Schilys Spuren) in der letzten Zeit aufwiesen.
Nicht mit dem Gegenstand der Kritik befasst man sich sondern mit der sie äußernden Person - oder aber man weicht darauf aus, Kritik an sich wahlweise als Undankbarkeit oder als Kompetenzüberschreitung zu deklarieren. Von Matt bringt zusätzlich noch eine andere Komponente ins Spiel: den Drang, sich im Internet zu artikulieren.
Ich will da etwas anmerken
Seit sich die Blogszene gebildet hat und außer den "dies ist mein Hund und dies bin ich"-Homepages auf Geocities und Co. auch die virtuellen Tagebücher sich weiterentwickelten, werden diese elektronischen Logbücher gleichermaßen angefeindet wie über den grünen Klee gelobt. In vielen Ländern wie beispielsweise Iran (vgl. "Ich möchte kotzen, zerspringen, explodieren")hat sich eine sehr politische Blogszene herausgebildet, die Informationen über aktuelle Geschehnisse und Problematiken behandelt und auch für die herkömmlichen Medien als Informationsquelle (vgl. Weblogs und die große Freiheit) dient.
Wie auch Meinungsäußerungen außerhalb des Internets werden Verstöße gegen Rechtsvorschriften entsprechend verfolgt und geahndet, was bereits zu den üblichen Diskussionen rund um die Meinungsfreiheit im Internet sowie die Möglichkeit der Anonymität führt. Insbesondere geht es hier auch um Kritik an Arbeitgebern (vgl. Kritik am Chef im Weblog führt leicht zur Kündigung) oder Firmen im allgemeinen, aber auch, gerade in Ländern, in denen sich die Blogszene erst herauskristallisiert, um die Möglichkeit, sich überhaupt an einen großen Kreis Interessierter zu wenden und sich politisch zu betätigen.
Die "Klowände des Internet"
Wenn von Matt von den "Klowänden des Internet" spricht und damit Blogs, Foren, Mailinglisten und Webseiten gleichermaßen aburteilt nur weil sich diese auf die ein oder andere Art mit der "Du bist Deutschland"-Kampagne befassen, so lässt er eines außen vor: Die Kampagne war nicht nur dafür gedacht, die Eigeninitiative zu fördern, sie sollte auch eine Diskussion anregen. Diese beinhaltet nun einmal viele Formen der Artikulation und ist für denjenigen, der seine Arbeit im Zentrum der Aufmerksamkeit sieht (wo sie ja auch sein sollte) nicht immer schmeichelhaft.
Blogs bieten eine Möglichkeit sich zu artikulieren und insofern stellt jegliche Auseinandersetzung mit der Kampagne auch nicht zuletzt eine Reaktion dar. Eine solche Reaktion zeigt anschaulich, dass "Du bist Deutschland", das teure Geschenk an Deutschlands Bevölkerung, nicht ignoriert wird. Insofern ist es unverständlich wieso nunmehr über die undankbare miesepetrige Bevölkerung geschimpft wird ,nur weil diese sich ihre Art der Reaktion nicht von den Kampagnenurhebern vorschreiben lässt.
Die vielen verschiedenen Reaktionen zeigen, dass nachgedacht wird und sich eine hohe Anzahl von Menschen mit dem Sinn oder Unsinn des "Geschenkes" befasst, mit den Hintergründen und den Vor- und Nachteilen solcher Kampagnen. Mit der Abmahnung der Seite "Wieder Deutschland" wegen "Diebstahls des Layouts" sowie der Verunglimpfung des Logos jedoch wird in die gleiche Kerbe der Kritik an der Kritik geschlagen. Zusätzlich beschwert man sich noch über eine "erhebliche Beeinträchtigung des Geschäftsbetriebes" durch automatisch generierte Beschwerdefaxe, welche das Ansehen der Kampagne sowie der beteiligten Unternehmen verletzte.
Einfach geschmeidig bleiben
Und noch eines bleibt außen vor: Die Tatsache, dass sich auf Klowänden (abgesehen von diversen Telefonnummern) nur selten interessante Fakten finden lassen. Blogs jedoch werden bereits als alternative Medienquelle anerkannt und somit zeigt sich, dass es von Matt nicht schlecht zu Gesicht stünde, einmal ein paar Thesen zum Thema Internet zu lesen.
"Menschen dürfen sich im Netz dumm verhalten." heißt es dort unter anderem. Und wie auch im realen Leben zeigt sich dann, wenn jemand sich einem dumm gegenüber verhält, auch die Gelassenheit des Kritisierten bzw. seine Empfindsamkeit. Auch im Leben außerhalb des Internet wird man Menschen treffen, die auf die eigene Person, das Auftreten oder auch auf Geschenke nicht so reagieren, wie man dies gerne hätte.
Gegen Beleidigung, Verleumdung und dergleichen mehr gibt es rechtliche Möglichkeiten, doch es wäre müßig, jeden, der einen einen Tölpel nennt, nun vor Gericht zu zerren. Hier gilt dann auch die alte Weisheit "Was kümmert es die Eiche, wenn sich die Wildsau an ihr reibt". Firmen wie auch Privatpersonen zeigen im Internet wenig Gelassenheit, wenn es um Kritik geht. Vielleicht resultiert dies aus der Tatsache, dass die Kritik nun viel mehr Menschen erreicht als sie es beispielsweise durch eine Stammtischdiskussion könnte.
Gerade die Art, wie mit Kritik umgegangen wird, stellt den Kritisierten jedoch dann erneut an den virtuellen Pranger, wenn Abmahnungen Argumente ersetzen und statt Diskussionsbereitschaft nur Empörung folgt. Somit wäre der in Foren so beliebte Spruch "bleib geschmeidig" auch jenen anzuraten, welche sich oft genug durch ihre Kritikunfähigkeit erst recht ins Zentrum der (negativen) Aufmerksamkeit begeben. Ansonsten gilt nicht nur für Jean-Remy von Matt noch eine der anderen Netzthesen:
Menschen werden im Laufe ihres Netzlebens viel falsch machen. Sie werden es einsehen. Oder auch nicht. Aber sie alle haben das Recht auf Vergebung - und auch ein Recht auf das Vergessen. In Netzen kann öffentlich und privat kundgetanes bis in die Unendlichkeit hinein aufbewahrt werden. Und wir sind uns sicherlich einig, daß es unfair ist, einem grünen Politiker noch nach 40 Jahren einen Ausspruch vorzuhalten, den er im zarten Alter von 14 Jahren getätigt hat. Die Aufgabe ist: Wir müssen über elektronisches Vergessen und Vergeben - oder auch Vergeben und Vergessen - Gedanken machen.