Ungleiche Maßstäbe: Wie der Spiegel über Kriegsopfer berichtet

Handy mit Überschrift Krieg in der Ukraine vor der Karte der Ukraine, gezeichnet in Farben der Ukraine

Bild: Viacheslav Lopatin / Shutterstock.com

Zwei Nachrichten, zwei Standards: Warum "angeblich" in Gaza und nicht in der Ukraine? Eine Beobachtung zur selektiven Glaubwürdigkeit, die Fragen aufwirft.

Mit "Angeblich viele Tote bei israelischem Angriff auf Schule" überschrieb der Spiegel eine Meldung, bei der die Nachrichtenagenturen dpa und AFP als Quelle angeführt werden. Sie erschien spätabends am vergangenen Dienstag, den 9. Juli.

Einen Tag zuvor gab es mittags im Nachrichten-Magazin eine Meldung über einen Angriff auf ein Kinderkrankenhaus in der Ukraine. Dazu lautete die Überschrift: "Tote und Verletzte bei schweren russischen Luftangriffen in der Ukraine". Als Quelle werden die Nachrichtenagenturen dpa/Reuters/AFP angegeben.

Hier findet sich kein "angeblich" im Titel. Das ist ein Unterschied, der bei einer optischen Gegenüberstellung krass ins Auge sticht.

Screenshot aus der Debattenplattform X

"Behörden sprechen derzeit von mindestens 20 Toten", erfährt die Leserschaft in der Unterzeile zur Überschrift der Meldung, wo über russischen Raketen informiert wird, die "in mehreren Städten eingeschlagen sind".

"Tote und Verletzte in der Ukraine": Quellen und Zahlen

Im Text wird die ukrainische Militärverwaltung als eine Quelle erwähnt. Ihr zufolge seien "in Kiew bei den Angriffen mindestens fünf Menschen getötet und neun weitere verletzt" worden.

Genannt werden in der Spiegel-Meldung zudem der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko sowie der Leiter des Präsidentenbüros, Andrij Jermak, die beide darüber hinaus von einem Raketeneinschlag im Kinderkrankenhaus Okhmatdyt berichten, wie auch Wolodymyr Selenskyj, dessen Posting auf X zitiert wird.

Von Toten beim Raketeneinschlag im Kinderkrankenhaus ist zum Zeitpunkt der Meldung noch nicht ausdrücklich die Rede, auch wenn das Zitat Klitschkos dies bereits nahelegt: "Dies ist einer der schlimmsten Angriffe". Wie auch der Titel "Kinderkrankenhaus getroffen" über der Überschrift mit den Toten die Tragödie bereits andeutet.

Am Ende der Meldung wird von russischen Raketenangriffen auf die südostukrainischen Großstädte Dnipro und Krywyj Rih berichtet. Nach Angaben der Behörden in Krywyj seien "bei einem schweren russischen Raketenangriff zehn Menschen ums Leben gekommen" und 31 Menschen verletzt worden.

Die mindestens zwanzig Toten aus der Unterzeile der Meldung sind demnach ein ungefährer Wert, der zu diesem Zeitpunkt geschätzt wurde. Genaueres war zum Zeitpunkt der Meldung offensichtlich nicht bekannt. Insofern ist die Aussparung der konkreten Zahl in der Überschrift korrekt: "Tote und Verletzte bei schweren russischen Luftangriffen".

Sekundenschnelles Erfassen von Nachrichten-Überschriften

Aber wieso spart man beim Titel zu diesem Beitrag – der, wie das oft gemacht wird, einen Appell zu mehr Hilfe der Verbündeten bei der ukrainischen Luftabwehr herausstellt –, das Wort "angeblich" aus, das bei der anderen Meldung gleich zu Anfang des Titels steht?

Laut Forschungen zum Online-Leserverhalten kann man davon ausgehen kann, dass viele Leserinnen und Leser sekundenschnell nur die Schlagzeilen erfassen. Und da wirkt "angeblich" als relativierender Begriff. Eine Überschrift ohne angeblich lässt den Fakten ihre Wucht.

Gaza: "Angeblich viele Tote bei israelischem Angriff"

In der zweiten Meldung, die mit "Angeblich viele Tote bei israelischem Angriff auf Schule" überschrieben ist, wird in der Unterzeile die Hamas als Quelle genannt. Damit wird sofort klargemacht, dass der Kriegsgegner der Ankläger ist.

Eine tendenzielle Einschränkung der Angriffsnachricht zeigt sich auch darin, dass der Angriff bereits in der Unterzeile als unsicheres Faktum dargestellt wird: "Hat Israel bei einem Luftschlag im Gazastreifen eine Schule getroffen, in der Vertriebene Schutz gesucht hatten?"

Im Text selbst heißt es nachrichtlich: "Nach Darstellung der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde sind bei einem israelischen Angriff auf eine Schule im südlichen Gazastreifen mindestens 25 Menschen getötet worden."

So ist auch hier eine Behörde die Quelle. Mit dem Unterschied, dass hier, anders als in der Ukraine, die Glaubwürdigkeit der Behörde als Kriegspartei mit eigenen Interessen relativiert wird. Daher das "angeblich". Das erscheint auf den ersten Blick plausibel, zumal sich die Informationen nicht überprüfen lassen und die Gegenseite, das israelische Militär, schweigt.

Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Israels Armee äußerte sich auf Anfrage der Nachrichtenagentur dpa zunächst nicht zu dem Vorfall.

Spiegel

Aber auf den zweiten Blick wird es kritisch, wenn es denn um sauberes journalistisches Arbeiten geht.

Besonders wenn es um Werkstatt-Standards geht, die sehr hoch gehängt sind, die sich das Magazin selbst gegeben hat: "Die Mitglieder der SPIEGEL-Redaktion sind höchsten journalistischen Standards verpflichtet."

Was ist wichtiger: Journalistische Standards oder der Blickwinkel?

Es stimmt, dass die Gesundheitsbehörde im Gazastreifen von der Hamas kontrolliert wird. Die Dschihadisten sind Kriegspartei und erfahrungsgemäß haben sie eine eigene Auffassung von Wahrheit im Dienste der Strategie.

Die Zahlen aus der Gesundheitsbehörde nicht verlässlich: Es kommt vor, dass die Zahlen von Opfern bei Angriffen "um die Hälfte herunter- und dann wieder hochkorrigiert" werden, wie RND im Mai dieses Jahres berichtete.

Aber: Dort steht allerdings auch, dass sich die Vereinten Nationen auf die Zahlen der Hamas-Gesundheitsbehörde stützen. Mit einer wichtigen Einschränkung: "Die UN-Teams vor Ort in Gaza können diese Zahlen angesichts der vorherrschenden Situation vor Ort und der schieren Zahl der Todesopfer nicht unabhängig überprüfen", so ein Sprecher des UN-Nothilfebüro OCHA.

Damit lässt sich das "angeblich" begründen. "Nicht unabhängig begründen" lässt sich aber auch zu den Angaben der ukrainischen Behörden sagen. Warum aber fehlt es bei der anderen Meldung?

Weil man dort stillschweigend voraussetzt, dass die Angaben der ukrainischen Behörden auf jeden Fall glaubwürdig sind? Vorbei die Zeiten, da man unter Nachrichtenmeldungen aus der Ukraine lesen konnte, dass sich die Angaben von Kriegsparteien – sei aus die ukrainische Seite oder die russische –, nicht "unabhängig verifizieren" lassen?

Diese Einschränkung ist nach wie vor journalistisch korrekt und nötig, wenn es um die Texte geht, deren Ausrichtung die möglichst sachliche Information ist, wie dies bei Nachrichten der Fall ist.

Wertungen, die schon in der Überschrift einem Motto à la "Wir können Nachrichten nicht ändern, aber den Blickwinkel" folgen, mögen Impulse für interessante und auch qualitativ hochstehende journalistische Arbeiten abgeben, aber in die Nachrichten gehören sie nicht.

Schon gar nicht, wenn man die Leserschaft als nervöses und feinnerviges Publikum mit aufklärerischen Ansprüchen begreift.