Unschuldiger Tatverdächtiger in Polizeirevier misshandelt?
Ein Pakistaner, der für den Attentäter vom Breitscheidplatz gehalten wurde, belastet im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin die Polizei schwer
Ein Zeuge hat im Berliner Untersuchungsausschuss zum Anschlag vom Breitscheidplatz berichtet, von der Polizei schwer misshandelt worden zu sein. Der Mann war nach dem Attentat am 19. Dezember 2016 festgenommen und zunächst für den Täter gehalten worden, der den Sattelschlepper in den Weihnachtsmarkt gelenkt haben soll. Das erwies sich schnell als falsch. Trotzdem wurde der Pakistaner 24 Stunden lang festgehalten und allem Anschein nach menschenunwürdig behandelt.
Die Umstände der Festnahme von Navid B., so sein Name, warfen schon immer Fragen auf. Sie sind jetzt nach seinem Zeugenauftritt noch größer geworden. Zeugen sahen aus dem Tat-LKW einen Mann austeigen und Richtung Bahnhof Zoo gehen. Auch zwei Immobilienberater, die durch das Anschlagsgeräusch ans Fenster ihres Büros im 20. Stock des Hochhauses Waldorf-Astoria geeilt waren (Weiteres Indiz gegen die Täterschaft von Anis Amri).
Einer von ihnen ging nach unten, um den Fahrer zu verfolgen, der andere blieb oben am Fenster stehen, um den Kollegen mittels Telefon zu lotsen. Sie verloren den Täter allerdings aus den Augen. Der Kollege auf der Straße informierte die Polizei und suchte zusammen mit den Beamten im Bereich Tiergarten nach dem Flüchtigen. Ein Mann, der aus dem Park kam, soll auf die Beschreibung des LKW-Täters gepasst haben. Er wurde festgenommen und zum nächsten Polizeirevier gefahren. Das war soll zwischen 20:10 und 20:30 Uhr gewesen sein.
Es handelte sich um Navid B. Sehr schnell stellten die befragenden Polizeibeamten fest, dass er nichts mit dem Anschlag zu tun haben konnte. Im Untersuchungsausschuss des Bundestags erklärte im März 2020 der damalige Schichtleiter des Kriminaldauerdienstes, Jörg E., der zu dem Zeitpunkt für den Tatort Breitscheidplatz verantwortlich war: Die Personenbeschreibung habe nicht auf Navid B. gepasst, der Festgenommene habe weder Glassplitter noch Blut auf der Kleidung gehabt, keine Spuren, die darauf hingedeutet hätten, er sei eben in einem 40-Tonner über den Weihnachtsmarkt gefahren. Alles hätte nicht zusammengepasst. "Sehr schnell, zwischen 21 und 22 Uhr", so der Kriminalbeamte E., hätten seine Leute gemeldet, sie hätten nicht den richtigen festgenommen.
Dennoch blieb Navid B. in Polizeigewahrsam. Die Meldung, ein Tatverdächtiger sei festgenommen worden, wurde zunächst nicht korrigiert. Im Gegenteil: Noch nachts um 2:11 Uhr steuerte das Bundeskriminalamt (BKA) an die Sicherheitsbehörden die Information, es gebe Ermittlungen zu einem festgestellten Tatverdächtigen. So steht es im Bericht der Nachbereitungskommission des Berliner Polizeipräsidenten, kurz: Nakom-Bericht. Dass sich der Tatverdacht gegen den Pakistaner schon am Abend des 19. Dezember zerstreut hatte, liest man im Nakom-Bericht, der das Handeln der Polizei kritisch aufarbeiten sollte, nicht.
Auch, nachdem gegen 17 Uhr am 20. Dezember im LKW-Fahrerhaus jenes Papier gefunden wurde, das auf Anis Amri hindeutete, wurde Navid B. immer noch nicht entlassen. Das geschah erst um 20:20 Uhr, also ziemlich genau 24 Stunden nach seiner Festnahme. Nach seiner Entlassung wurde B. noch observiert.
Wenige Tage nach dem Anschlag hatte Navid B. mit der englischen Tageszeitung "The Guardian" darüber gesprochen, wie es ihm im Polizeigewahrsam ergangen war.
Der Fall war danach fast in Vergessenheit geraten. Jetzt schilderte der zu Unrecht Verdächtigte dem Berliner U-Ausschuss diese 24 Stunden in der Polizeiwache. Die Befragung fand auf Wunsch des Zeugen nicht-öffentlich statt. Die Ausschussmitglieder berichteten hinterher auf einer Pressekonferenz davon. Ihre Schilderungen deckten und ergänzten sich.
Nach Aussage von Navid B. sei ihm zunächst ein schwarzer Sack über den Kopf gestülpt worden, als er zur Polizeiwache gefahren wurde. Dort habe er sich nackt ausziehen müssen, sei nackt fotografiert worden und habe keine Ersatzkleidung bekommen. Erst nach Stunden habe er seine Kleidungsstücke zurückbekommen, die offensichtlich keine Tatspuren aufwiesen. Er sei gefesselt und geohrfeigt worden. Man habe ihm keinen Rechtsbeistand angeboten. Er habe nicht genug zu essen und zu trinken bekommen. In Folge seiner Festnahme habe er acht Monate keine staatlichen Sozialleistungen mehr bekommen. Navid B. hatte ein Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft auf dem Tempelhofer Feld in Berlin.
Seine Aussagen stünden zum Teil in Widerspruch zur Aktenlage, sagten Abgeordnete bei der Pressekonferenz. Die Version der Polizei könnte also eine andere sein.
AfD: Mit Tatverdächtigen gehe man eben nicht zimperlich um
Die Bewertungen der Abgeordneten zur Causa Navid B. gingen zum Teil auseinander. Während Abgeordnete von Linkspartei, Grüne, FDP und CDU von einem rechtsstaatlich nicht angemessenen Umgang sprachen und kritisierten, dass es auch hinterher keine Entschuldigung oder psychologische Betreuung für den Pakistaner gab, wollte der Vertreter der AfD die Angelegenheit nicht so kritisch sehen. B. sei zwar nicht gerade gut behandelt worden, aber es habe es sich ja immerhin um den Tatverdächtigen eines Terroranschlages gehandelt. Da werde eben nicht zimperlich mit einem umgegangen.
Benedikt Lux (Bündnis 90/Die Grünen) nannte Navid B. dagegen ein "weiteres Opfer des Terroranschlages". Er stamme aus einer Gegend in Nordpakistan, die selber von islamistischen Terroristen heimgesucht wird. Dann fälschlicherweise verdächtigt zu werden, einen islamistischen Terroranschlag begangen zu haben, damit sei schwer zu leben.
Es war die vorläufig letzte Zeugenvernehmung des U-Ausschusses von Berlin. Der Ausschussvorsitzende Stephan Lenz (CDU) hat den Fraktionen bereits den Entwurf seines Berichtes vorgelegt, der etwa 400 Seiten umfassen soll. Man brauche Zeit für die Abstimmung mit den Fraktionen sowie für die sogenannten "Herabstufungen" von gesperrten Akten und Aussagen durch die Sicherheitsbehörden. Ziel sei es, "keine Geheimteile" zu erstellen und möglichst viel öffentlich zu machen, so Lenz.
Man fragt sich aber, warum bislang derart viel als Verschlusssache behandelt wird, wenn der angebliche Attentäter vom Breitscheidplatz, Anis Amri, doch nur ein einsamer, isolierter, vom Ausland radikalisierter Einzeltäter gewesen sein soll.
Fragwürdig ist auch, dass der Ausschuss sich an seinen Abschlussbericht macht, obwohl er noch nicht alle angeforderten Akten erhalten hat. Lux berichtete, dass die Verwaltung des Innensenators Akten erst nach der letzten Ausschusssitzung geliefert hat, die man für die Befragung der Zeugen benötigt hätte. Mitte September wurden in einer als "geheim" eingestuften Sitzung drei Vertreter des Verfassungsschutzes von Berlin vernommen.
Publikum war wegen Corona seit März nicht mehr zum Ausschuss zugelassen. Öffentlichkeit war lediglich durch ganz wenige Journalisten hergestellt. Opfer und Angehörige von Ermordeten durften nach einigen Monaten Pause wieder die Sitzungen verfolgen. Das hatte auch für die Pressekonferenzen gegolten, auf denen sich die Betroffenen immer wieder selber zu Wort gemeldet hatten.
Jetzt, bei der letzten Sitzung, galt das auch für die Opfer nicht mehr. Andreas Schwartz, der auf dem Breitscheidplatz verletzt wurde und bis heute unter den Folgen leidet, war extra zum Abgeordnetenhaus gekommen. Doch dort wurde ihm der Zutritt verwehrt.