Unsere Interessen, unsere Werte und der Ukraine-Krieg

Seite 2: Deutschland entdeckt das nationale Interesse

Im Gegensatz zu den USA, die bei ihren weltweiten Aktionen gern und oft das "nationale Interesse" bemühen und sich mindestens seit der Krim-Annexion 2014 intensiver in Kiew engagiert hatten, blieb eine entsprechende deutsche Debatte überschaubar.

Von einem "nationalen Interesse" im Kontext der Lage der Ukraine war konkret kaum die Rede. Zum einen, weil der Begriff ohnehin nicht gern benutzt wurde, zum anderen, weil das Transitland die Gasimporte mit Durchleitungsgebühren in Milliardenhöhe verteuerte und für die deutsche Exportindustrie keine besondere Priorität hatte.

Weizen und Futtermittel wurden importiert, aber Getreide wird schließlich ausreichend in der EU produziert und die eigene Agrarwirtschaft kostet ohnehin erhebliche Subventionen.

Die ukrainische Innenpolitik wurde weitgehend als chaotisch und korrupt wahrgenommen, die Orange Revolution erschien rätselhaft und vielleicht am ehesten mit den dunklen Seiten der slawischen Seele zu erklären.

Mit den beiden Minsker Abkommen schien die europäische Mitwirkungspflicht als Friedensstifter erfüllt. Wenn man den nachträglichen Kommentaren von Angela Merkel und François Hollande folgt, sogar übererfüllt, nämlich als indirekte, wenn auch nicht – wie von Russland behauptet – intendierte Hilfe zur Selbstverteidigung der Ukraine.

Äußerungen der Ex-Kanzlerin und des französischen Ex-Präsidenten zu den Minsk-Abkommen heizten die Debatte dennoch an. Damit fing bereits eine Zeitenwende der besonderen Art an, und mit dem Überfall Russlands am 24. Februar 2022 entdeckte Deutschland plötzlich doch sein nationales Interesse an der Ukraine.

Dass es dabei weniger um materielle wirtschaftliche Interessen ging, liegt auf der Hand. Mit 5,4 Milliarden Euro 2021 lag die Ukraine auf Rang 41 der deutschen Handelspartner.

Die Ampel-Koalition und die neue Wertedebatte

Während der deutschen Teilung wurden im Westen Freiheit und Demokratie als die entscheidenden Werte hervorgehoben, im Osten die egalitären Errungenschaften des Sozialismus. Mit der Wiedervereinigung war die ideologische Debatte beendet, das nationale Interesse lag im materiellen Bereich, bei der Infrastruktur und Angleichung der Lebensverhältnisse.

Im Koalitionsvertrag von Ende November 2021 hat die "Ampel" sich programmatisch zum Ziel gesetzt, dass die Bundesregierung sich für die "Bewahrung unserer freiheitlichen Lebensweise in Europa und den Schutz von Frieden und Menschenrechten weltweit einsetzen" wird. Zusätzlich heißt es: "Dabei leiten uns unsere Werte und Interessen."

Wenn nicht die neue Außenministerin immer wieder betont hätte, dass sie für eine werteorientierte und feministische Außenpolitik eintreten wolle, wäre diese Zielableitung aus dem Koalitionsvertrag vielleicht nicht weiter in die öffentliche Diskussion gelangt.

Dann wären auch die möglichen Konflikte zwischen Interessen und Werten nicht besonders augenfällig geworden. Aber die Ukraine-Invasion, kaum war die Ampel-Koalition in der Regierungsverantwortung angekommen, veränderte die Situation fundamental und verschob jede Priorität von den Interessen zu den Werten.

Selbstverständlich verstieß Russland gegen das Gewaltverbot der Vereinten Nationen und genauso selbstverständlich hat die Ukraine das Recht, sich zu verteidigen.

Deutschland schloss sich den US-amerikanischen und europäischen Sanktionen gegen den Aggressor an und nahm dafür wirtschaftliche Einbußen bewusst in Kauf, nicht gerade wenige mit dem Verzicht auf russisches Öl und Gas.

Der komplexe Vorgang markierte den Start für eine zur "Zeitenwende" erklärten Anpassung der Sicherheitspolitik, deren Umsetzung sich allerdings hinzieht. Aber er setzte auch eine Welle der Empörung gegen Russland in Gang, die in den Medien und besonders in den sozialen Medien eine bisher nicht gekannte Intensität erreichte. Diese Empörung erscheint insofern als werteorientiert, als alle nicht konformen Debattenbeiträge mit inquisitorischem Furor zurechtgewiesen werden.

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