"Unsere Position ist glasklar!"
Kriegsgeschwätz gegen Deeskalation: Kevin Kühnert und Jürgen Trittin erklären bei "Anne Will" den Ukrainern die Nato
Eine bemerkenswerte und an einigen Punkten verräterische Diskussion gab es am Sonntagabend in der ARD bei "Anne Will". Thema war die Politik in der Ukraine-Krise und hier wiederum die Frage der Waffenlieferungen. Die ernsthafteste Konfliktlinie verlief hierbei zwischen dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, und Jürgen Trittin von den Grünen, der gewissermaßen seine Parteifreundin Annalena Baerbock vertrat.
Während der Botschafter die "Gefahr eines riesigen Krieges in Europa" behauptete und immer wieder etwas hysterische und mitunter auch unverschämte Forderungen aufstellte, gab Trittin den kühlen Realpolitiker: "Die gemeinsame Haltung der NATO ist, dass es eine militärische Antwort des Westens darauf nicht geben wird."
Der Botschafter der Ukraine meinte, die deutsche Bundesregierung müsse "erwachen aus diesem Dornröschenschlaf und erkennen, dass die Lage sehr ernst ist und auch entsprechend handeln". Also Waffen liefern.
Trittin hielt dagegen: "Glaubt man, dass man mit Waffenlieferungen auf den letzten Drücker auf Putin eine abschreckende Wirkung erzielt?" Politische Maßnahmen und Folgen für wirtschaftliche Beziehungen seien das, was abschreckt. "Nicht der symbolische Streit um Waffen."
"Wer die Ukraine bewaffnet, ist für den Frieden. Wer sich verweigert, ist für den Krieg"
Moderatorin Anne Will tat an diesem Abend wieder das, was sie fast immer tut: Sie moderierte einseitig und parteiisch, zudem in diesem konkreten Fall sichtbar geschmeichelt von der Anwesenheit "der Pulitzer Preisträgerin", wie sie gleich mehrfach betonte, Anne Applebaum. So kam Applebaum viermal zu Wort, genauso oft wie der ihre Positionen flankierende Andreij Melnyk.
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert wurde dagegen nur zweimal gefragt - ebenso selten wie Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch, der überdies erst nach 20 Minuten erstmals drankam, die Sendung allerdings auch nur durch Plattitüden bereicherte:
"Alle Möglichkeiten müssen genutzt werden. ... Das Entscheidende ist doch, dass man deeskaliert. ... Waffen werden geliefert, um eingesetzt zu werden, nicht als Ansichtsexemplare."
Schwächer als zu erwarten präsentierte sich auch Anne Applebaum. Eigentlich eine kluge und differenzierte Politikwissenschaftlerin, zwar Amerikanerin, aber auch polnische Staatsbürgerin und verheiratet mit dem ehemaligen polnischen Außenminister, ging sie hier ganz in der Rolle als vor allem pro-polnische und anti-russische Propagandistin auf: "Wer die Ukraine bewaffnet, ist für den Frieden. Wer sich verweigert, ist für den Krieg."
In ihrem Elan wurden Applebaums Beschreibungen allzu primitiv:
Mit Russland und China sind Sie bereit, Geschäfte zu machen. Sie sind selbst im Bereich Energie über Jahre hinweg von Russland abhängig gewesen – viele Leute haben gesagt, das wird schrecklich böse enden. Deutschland wird als ein Land angesehen, das gerne Geschäfte macht und immer die Geschichte als Ausrede benutzt, wenn es sich gerade eignet. ... Hinter der Geschichte kann man sich verstecken, was die Wahrheit ausmacht: Deutschland ist nicht bereit, die Ukraine zu verteidigen. Deutschland hat keine moralische Außenpolitik. Deutschland ist bereit, Waffen in andere Länder zu verkaufen, die sie auch einsetzen.
Anne Applebaum
Eine weitere Gelegenheit für Trittin, zu kontern:
Wer in freien Demokratien so sehr moralisch argumentiert, bekommt immer ein Gegenargument genannt. Ich könnte jetzt viele Gegenbeispiele nennen, aber dann sind wir in so einer Diskussion, die man neudeutsch whataboutism nennt. Deswegen bleibe ich in der konkreten Situation. In der konkreten Situation bin ich nicht davon überzeugt, dass es einen militärischen Hebel gibt, Russland davon abzuhalten, die Ukraine zu erobern. Und die Unterstellung von Frau Applebaum ... muss ich für die Bundesregierung ... deutlich zurückweisen. Diese Schärfe sollte man in diese Diskussion nicht hinein bringen.
Jürgen Trittin
Da sind Menschen mit anderen politischen Interessen unterwegs
Etwas zu nuanciert für den Anlass war demgegenüber Kevin Kühnert (SPD). Er verwies auf "erst sieben Wochen im Amt", die Weihnachtspause und auf den Reiseplan seines Bundeskanzlers: Macron, Washington, die Staaten des Baltikums, das Weimarer Dreieck, nach Kiew, nach Russland...
"Wer allein in Anbetracht dieses Reiseplans wirklich glaubt, der Bundeskanzler habe die Dramatik der Situation nicht erkannt und handle nicht, der kommentiert nicht in guten Absichten, sondern versucht hier auch deutsches Engagement zu diskreditieren."
Es sei "ganz klar dass Deutschland eng an der Seite des ukrainischen Volkes steht", – wohlgemerkt: Nicht der Regierung – es gebe die zwei Milliarden Wirtschaftshilfe.
Präzis und schlagfertig war dann aber Kühnerts Medienkritik:
Es gibt einige, die haben im Moment auch ein Interesse daran, dass der Eindruck entsteht, dass Deutschland ein unsicherer Kantonist sei. Da sind Menschen mit anderen politischen Interessen unterwegs. Wir halten uns in der Demokratie ja nicht eine Regierung, damit sie die Weltlage kommentiert, sondern damit sie die Weltlage in unserem Sinne und im Sinne unserer Werte verändert. Es geht darum jeden Tag zu einer Lösung beizutragen, und nicht jeden Tag vor einer Kamera zu stehen und die Lage zu beschreiben. Unsere Position ist glasklar!
Kevin Kühnert
"Medienbeobachtung" - unter diesem Reihentitel erscheinen hier in loser Folge Notizen aus der Welt der Medien, aktuelle Beobachtungen, Analysen und Kritiken des Autors. Eine Art "Die letzten Tage von Pompeji - Seelenruhe in der Informationsgesellschaft".