Unsichtbare Nobelpreismacher

Heute wird in Stockholm der Physik-Nobelpreis für die sogenannten Neutrino-Oszillationen verliehen. Diese, aber auch die daran hinter den Kulissen beteiligten Figuren werfen einige Fragen auf

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Betrachtet man die Physik auch aus historischer Perspektive, so wurde der Bruch mit der naturphilosophischen Tradition der Vorkriegszeit selten so deutlich wie bei der heutigen Vergabe des Nobelpreises in Stockholm. Während beispielsweise Albert Einstein grundsätzlich verstehen wollte, warum die Natur bestimmte Teilchen erzeugte und nicht andere1, und Paul Dirac schon die Existenz von zwei Elementarteilchen erklärungsbedürftig fand2, gibt sich das heutige Standardmodell mit einer Beschreibung durch Dutzende von Teilchen zufrieden, deren Eigenschaften sämtlich unerklärt sind.

Weil die Experimente zu diesen z.T. extrem seltenen Objekten in den letzten sechs Jahrzehnten immer wieder auf Widersprüche gestoßen sind, ist sowohl ihre Anzahl stetig gewachsen, als auch die Eigenschaften die man Ihnen zuschreibt - etwa die Fähigkeit, sich ineinander umzuwandeln, genannt Oszillationen.

Für den von einigen Großexperimenten behaupteten Nachweis dieser Neutrino-Oszillationen wurde der Nobelpreis 2015 verliehen. Während auf die Merkwürdigkeiten des Super-Kamiokande-Experiments bereits eingegangen wurde (vgl. Physik-Nobelpreis für Geheimwissenschaft), sei nun das zweite große Experiment erwähnt, das als Beleg für die "Oszillationen" angeführt wird, durchgeführt im Sudbury Neutrino Observatorium. Seine Besonderheit liegt im Detektormaterial: aus kanadischen Kernkraftwerken stammendes Schweres Wasser. Dieses enthält zahlreiche Deuteriumkerne, die aus je einem Proton und einem Neutron bestehen.

Mehr Hightech als Deep Reflection

In vielen Materialien machen sich Neutrinos dadurch bemerkbar, dass sie Elektronen einen kräftigen Stoß versetzen, welche dann ihre Energie gut sichtbar abgeben. Die Besonderheit des Deuteriums liegt dagegen darin, dass es durch ein Neutrino in seine Bestandteile Proton und Neutron gespalten wird, und in manchen Fällen hilft das Neutrino dem verbleibenden Neutron sogar, sich unter Aussendung eines Elektrons in ein weiteres Proton zurückzuverwandeln.

Diese drei Prozesse - Stoß, Spaltung sowie Spaltung nebst Umwandlung, konnte man durch entsprechende Detektoren unterscheiden. Dabei stellte sich heraus, dass reine Spaltungen viel häufiger vorkamen als Elektronenstreuung und Spaltungen mit Neutronenumwandlung. Da für Letztere allein die Elektron-Neutrinos verantwortlich seien, so die Interpretation, könne die geringe Häufigkeit nur so erklärt werden, dass das Elektron-Neutrino sich in einen seiner Kollegen, nämlich Myon- oder Tau-Neutrino, umgewandelt habe.

Ein wesentlicher Teil der Argumentation beruht aber auf rein theoretischen Überzeugungen, wie "sensitiv" eine Reaktion für die jeweiligen Neutrino-Typen ist. Es ist etwa so, als wenn man einen Schuster, einen Schreiner und einen Schneider mit unterschiedlich viel Geld in der Tasche antrifft und infolgedessen einen Beteiligten wegen Diebstahls verurteilt: Es sei ja bekannt, was sie normalerweise verdienen und ausgeben. Sensationell ist daher das Ergebnis überhaupt nicht, es liegt lediglich ein technisches Alleinstellungsmerkmal vor.

Es ist schon erstaunlich, welch filigrane Kombination von Schlussfolgerungen heute die Überzeugungen über die elementarsten Naturerscheinungen begründet, und den meisten Beteiligten scheint nicht bewusst zu sein, wieviel theoretische Annahmen durch die Hintertür in die Interpretation vermeintlich experimenteller Ergebnisse einfließen.

Vergessene alte Denker

Die Geschichte der Neutrinophysik ist eine lange Kette von Experimenten, die weniger Signal erhielten als erwartet, was immer durch eine weitere Komplizierung des Modells "gelöst" wurde. Es drängt sich der Verdacht auf, dass schon der zugrunde liegende Prozess des Betazerfalls nicht verstanden ist: Niemand weiß, warum ein Neutron spontan in ein Proton und ein Elektron (und Antineutrino) zerfällt und was dabei wirklich vorgeht.

Niels Bohr, der die Quantenrevolution in der Atomphysik losgetreten hatte, äußerte 1931 auf einer Konferenz in Rom die Ansicht, dass zum Verständnis des Betazerfalls in der Kernphysik nicht neue Teilchen, sondern ein ähnlich schwerwiegender Umsturz der bestehenden Vorstellungen nötig sei wie bei der Quantenmechanik selbst: Er zweifelte den Satz von der Energieerhaltung an, freilich ohne einen konkreten Gegenvorschlag entwickelt zu haben. Gehört wurden Bohrs Gedanken nicht. Umso bitterer wäre es, wenn er Recht hatte.

Das Bizarrste am "Nachweis" der Neutrino-Oszillationen bleibt, dass sie immer nur durch eine Abschwächung, nicht durch eine Verstärkung des Signals belegt wurden. In einem Übersichtsartikel dazu3 wird das Experiment KAMLand erwähnt, das die Oszillationen "als Funktion der Neutrinoenergie" nachgewiesen hatte, was aber überhaupt nichts mit einer realen Verstärkung eines Signals zu tun hat (das sich als Funktion des Ortes bemerkbar machen müsste).

Es handelt sich um einen klassischen Fall dessen, was der Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead fallacy of misplaced concreteness nannte: Das Verwechseln eines Konzepts oder einer Meinung über die Eigenschaft von Dingen mit der Realität selbst.

Expertise, die lieber anonym bleibt

Ich habe dieses Detail erwähnt, weil ein offenbar in der mittleren Hierarchie angesiedelter Neutrinoforscher im Diskussionsforum auf KAMLand darauf hingewiesen hatte, wenn auch der Beitrag als solcher sprachlich nicht zitierfähig war. Dies zeigt aber letztlich nur, dass auch innerhalb der sogenannten "Community" Ergebnisse einfach nacherzählt werden, ohne dass eine genuine Expertise existiert, die noch in der Lage ist, etwas inhaltlich zu hinterfragen, geschweige denn ihre Aktivitäten in einem längeren Kontext der Entwicklung der Nachkriegsphysik zu sehen.

In der Neutrino- und Hochenergiephysik ist die soziologische Komponente der Meinungsbildung besonders ausgeprägt, weil dort so viele Wissenschaftler an einem Experiment beteiligt sind, wodurch es dem Einzelnen unmöglich wird, einen Überblick zu behalten. Und das gilt natürlich auch für das Nobelkomitee. Auch dessen Mitglieder sind nur Figuren eines Forschungsparadigmas, das sich aus methodischer, historischer und wissenschaftsphilosophischer Sicht in einer offensichtlichen Krise befindet.

Stockholmer Rotationsprinzip?

Trotzdem ist es interessant, wie sich manche Figuren hinter den Kulissen bewegen, etwa die jüngere Geschichte der Besetzungen des Nobelkomitees, das der Schwedischen Akademie die Preisträger vorschlägt. Lange Zeit bestand es aus Joseph Nordgren, Lars Brink, Börje Johansson, Björn Jonson, Ingemar Lundström, im Jahr 2010 wurde Nordgreen durch Anne L'Huillier ersetzt. Schließlich war das Komitee im September 2015 fast komplett ausgetauscht und auf sieben Personen erweitert (laut Wikipedia-Seitenhistorie): Anne L'Huillier, Olga Botner, Per Delsing, Claes Fransson, Thors Hans Hansson, Olle Inganäs, Nils Mårtensson.

Im Oktober waren Delsing und Fransson plötzlich wieder verschwunden, während Gunnar Ingelman und Lars Bergström auftauchten. Man fragt sich, ob das Ausscheiden eines langjährigen Mitglieds nicht eine kurze Mitteilung wert wäre oder wer überhaupt die Mitglieder des Komitees bestimmt. Was auch immer die Gründe sein mögen, in Anbetracht der Tragweite der Entscheidungen des Komitees ist so ein fliegender Wechsel doch erstaunlich. Die Teilnehmer scheinen jüngst ähnlich zu oszillieren wie die Neutrinosorten, die von ihnen geehrt wurden.

Besonders originell ist die Rolle von Olga Botner, die die Bedeutung der Nobelpreise von 2013 und 2015 mediengerecht interpretierte. Der diesjährige Nobelpreis etabliert endgültig die sogenannten Neutrino-Oszillationen, denen sich inzwischen weitere Großexperimente widmen wie zum Beispiel ICE CUBE am Südpol, das sicherlich in 6-7 Jahren zu den neuen Kandidaten für die Ehrung zählen wird. Sprecherin des Experiments: Olga Botner. In der Politik würde man dies Drehtür-Lobbyismus nennen. Die Wissenschaft hat noch keinen adäquaten Namen dafür gefunden. Sicher ist nur, dass es heute ganz anders zugeht als zur Zeit der erfolgreichen Physik zu Beginn des 20.Jahrhunderts.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Vom Urknall zum Durchknall" wurde 2010 von "Bild der Wissenschaft" als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet. Im November 2015 erschien sein neues Buch "Einsteins verlorener Schlüssel - Warum wir die beste Idee des 20.Jahrhunderts übersehen haben". In der Kolumne "Hinterfragt" bei Telepolis greift er mit einem kritischen Blick Themen rund um die Physik auf.

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