Unterschiede zwischen West und Ost beim weniger Kinder-Kriegen

Im Osten der Republik liegt der Anteil nichtehelicher Geburten mehr als doppelt so hoch wie im Westen. Mit der jüngeren deutschen Geschichte hat dieser Unterschied allerdings nur bedingt zu tun

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Die Bevölkerung der Europäischen Union wächst, doch die Deutschen tragen wenig dazu bei. Auf 1.000 Einwohner kommen hierzulande 8,5 Geburten - ähnlich geringe Werte verzeichnen nur noch Griechenland, Italien und Portugal. Für die Jahre nach 2020 rechnet das Statistische Bundesamt mit einem weiteren deutlichen Rückgang. Unterschiede zwischen den alten und den nicht ganz so alten Bundesländern spielen dabei eine wichtige Rolle, doch die mitunter völlig gegensätzlichen Entwicklungen hängen nicht immer mit der deutschen Teilung zusammen.

Die Verkürzung der fertilen Lebensphase

Das Statistische Bundesamt weiß, dass die Kinderlosenquote der 40- bis 44-jährigen Frauen im Westteil der Republik 2012 bei beunruhigenden 23 Prozent lag und dass drei von vier der westdeutschen Akademikerinnen im Alter zwischen 45 und 49 Jahren überhaupt kein Kind geboren haben. "Träger der westdeutschen Kinderlosigkeit sind vor allem die hochgebildeten Frauen", resümiert das Demografie-Portal des Bundes und der Länder und verweist auf lange Ausbildungszeiten und die Gewöhnung an einen Lebensstil ohne Kinder. Aber im Osten und in nicht-akademischen Berufsgruppen zeichnet sich ebenfalls keine grundsätzliche Trendwende ab.

Die sogenannte "zusammengefasste Geburtenziffer" lag in den neueren Bundesländern (1,45 Kinder je Frau) zuletzt höher als im übrigen Bundesgebiet (1,37 Kinder je Frau). Ein Blick auf die "endgültige Kinderzahl als Maß der Kohortenfertilität", die erst nach Ende des gebärfähigen Alters ausgewertet werden kann, zeigt aber vor allem einen gesamtdeutschen und schichtübergreifenden Rückgang. Die Geburtsjahrgänge 1963 bis 1967 bekamen 1,5 bis 1,6 Kinder, die Geburtsjahrgänge 1937 bis 1942 noch 1,9 bis 2,1.

Das Ergebnis ist, dass sich in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Muster der Geburtenfolge etabliert haben. Im Westen ist die durchschnittliche Kinderzahl niedrig, weil der Anteil kinderloser Frauen einen sehr hohen Wert von 21 % erreicht (Osten: 11 %). Im Osten ist sie niedrig, da 35 % der Frauen nur ein Kind haben (Westen: 23 %).

Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung auf demografie-portal.de

Wirtschaft, Religion, Rechtsprechung

In der Tendenz zu immer weniger Kindern haben der Osten und Westen Deutschlands viel gemeinsam, doch der Familienstand der Kinder unterscheidet sich signifikant, wie eine Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Entwicklung beweist. 59 Prozent aller Kinder werden im Osten der Republik nichtehelich geboren - mehr als doppelt so viele wie im Westen (28 Prozent).

Wer dafür allein unterschiedliche Berufsstrategien, Kinderbetreuungsangebote oder Lebensmodelle während der Trennung in DDR und Bundesrepublik verantwortlich macht, liegt falsch, sagt Autor Sebastian Klüsener, der für seine Untersuchung Daten aus den vergangenen 350 Jahren ausgewertet hat.

Selbstredend lag die Anzahl nichtehelicher Geburten im 19. Jahrhundert weit unter den heutigen, doch Osten (12 Prozent) und Westen (2-8 Prozent) unterschieden sich schon damals. Klüsener führt diesen Umstand auf die Besonderheiten der ostdeutschen Landwirtschaft zurück, die nicht durch bäuerliche Dorfstrukturen und die mit Erbrechtsfragen befassten kleinen Familienbetriebe, sondern durch verstreute Gutshöfe mit vielen landlosen Saisonarbeitern gekennzeichnet gewesen sei.

Außerdem habe im Osten schon im 19. Jahrhundert die kirchliche Bindung nachgelassen, während durch die örtliche Rechtsprechung etwaige Unterhaltsansprüche gegen Väter nichtehelich geborener Kinder begünstigt worden seien.

Demnach spielten die wirtschaftliche Situation, die religiöse oder weltanschauliche Ausrichtung oder der Fortschritt des Justizwesens bei der Entscheidung für oder gegen eine Hochzeit vor der Geburt der Kinder mitunter eine größere Rolle als die persönlichen Befindlichkeiten der Erzeuger. Alle drei Faktoren haben sich mittlerweile verändert - doch die Ost-West-Differenzen in Sachen Familienstand bleiben bestehen. Eine rundum überzeugende Begründung liefern sie deshalb auch dem modernen Demografie-Forscher nicht.

Auch wenn sich die ökonomische Situation und der Anteil der Konfessionslosen in Ost und West angleichen, würden Unterschiede im Geburtenverhalten auf Basis unserer Berechnungen bestehen bleiben.

Sebastian Klüsener

Das schließt freilich nicht aus, dass die wirtschaftliche und soziale Lage (ungleiche Einkommensverteilung, prekäre Arbeitsverhältnisse oder unstete Erwerbsbiografien) erheblichen Einfluss auf den gesamtdeutschen Rückgang der Geburtenraten haben.

Weimarer Republik, Drittes Reich und der Sonderfall Bayern

Die Unterschiede im Geburtenverhalten verfestigten sich über die Jahrzehnte und setzten sich auch in völlig konträren Staats- und Gesellschaftssystemen durch. Während der Weimarer Republik lag der Anteil nichtehelich geborener Kinder im Westen wie immer niedriger als im Osten (9 Prozent/bis zu 18 Prozent) und auch im Dritten Reich blieb der Unterschied - trotz massiver Propaganda für die arische Musterfamilie - im Grundsatz bestehen (6 Prozent/10 Prozent) Nur Bayern hielt mit den ostdeutschen Landstrichen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Schritt. Ungewöhnlich für die katholisch geprägte Region, doch Klüseners Analyse zeigt sehr anschaulich, dass der Anteil nichtehelicher Geburten sogar 1937 mancherorts die 30-Prozent-Marke touchierte.

Als Hauptursache gilt eine spezielle Erbtradition: So sollte ein bäuerlicher Erbe erst heiraten, nachdem er im Alter von 34 Jahren den Hof seines Vaters übernommen hatte. Da viele Paare nicht so lange warten wollten, bekamen sie schon vor der Ehe ihre Kinder, die den ehelichen Kindern im bayerischen Erbrecht gleichgestellt waren.

Max-Plack-Institut für demografische Forschung

Mittlerweile sind die Bayern mit einem Anteil von 27 Prozent nichtehelichen Kindern in dieser Statistik allerdings knapp unter den westdeutschen Durchschnitt gefallen.

Im europäischen Vergleich

Die jüngsten Daten der Statistikbehörde Eurostat zeigen, dass der ostdeutsche Trend zu nichtehelichen Geburten kein europäischer Einzelfall ist. In Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Slowenien, Schweden, Island oder Norwegen liegt der Anteil der Kinder, die ohne Hochzeit ihrer Eltern das Licht der Welt erblicken, bei über 50 Prozent.

Der westdeutsche Wert wird aber auch von vielen anderen Ländern, darunter solche mit klarer konfessioneller Prägung, deutlich übertroffen. Kein Wunder also, dass sich mittlerweile sogar die Konrad-Adenauer-Stiftung über brüchige Leitbilder Gedanken macht und in einer aktuellen Studie eine zeitgemäße Familienpolitik fordert, die durch "Toleranz und wohlwollende Offenheit gegenüber der Vielfalt der Lebensentwürfe und Lebensverläufe" geprägt ist.

Prozesshafte Leitbilder beinhalten Vorstellungen von zeitlichen Abläufen, d.h. sie definieren ideale Zeitpunkte und Phasen im Familienbildungsprozess. Dazu zählen etwa das ideale Alter für das erste Kind, der ideale Geburtenabstand zwischen dem ersten und dem zweiten Kind, jedoch auch als notwendig erachtete Bedingungen, die erfüllt sein müssen, bevor eine Elternschaft überhaupt möglich oder verantwortbar ist. (...)

Solche skript-artigen Vorstellungen sind sehr stabil, unterliegen aber dennoch auch einem Wandel. So ist die zunehmende Anzahl von nichtehelichen Lebensgemeinschaften, in denen Kinder geboren werden, ein Beleg dafür, dass sich das Familienleitbild des "optimalen Timings" dahingehend gewandelt hat, dass die Ehe nicht mehr als notwendige Voraussetzung für eine Familiengründung gilt.

Christine Henry-Huthmacher: Familienleitbilder in Deutschland

Für Sebastian Klüsener hat das Thema eine wirtschaftliche Dimension, die klar erkenn- und bezifferbar ist. Auch zukünftig dürften nichteheliche Geburten gerade im Westen des Landes unter dem Europatrend liegen. Mindestens solange wie "die Ehe als Strategie zur materiellen Absicherung für Frauen wichtig bleibt".

Klüsener gründet diese These auf die immer noch eklatanten Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen, die vom deutschen Steuersystem begünstigt würden. Zum Beispiel durch das Ehegattensplitting, jenen viel diskutierten und immer länger werdenden "Schatten der Hausfrauenehe", der nach seiner Einschätzung die formal beschlossene und offiziell anerkannte Zweisamkeit subventioniert - und damit wohl auch als gesellschaftliches Vorzeigemodell ausweist. Warum dieses für viele ostdeutsche Paare offenbar nicht besonders attraktiv ist, werden vielleicht weitere Untersuchungen zeigen.