Utopia auf Heißluftballons - Meisterwerk oder nur netter Shooter?

„Perfekt! Überragend! Monumental!“ – Ist Bioshock Infinite wirklich so revolutionär, wie viele Besprechungen glauben machen?

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Kein Spiel der auslaufenden Generation scheint derzeit ekstatischere Lobeshymnen zu provozieren, wie der Ego-Shooter Bioshock Infinite (PC, Playstation 3, Xbox 360) es schafft. „Ein Triumph in Kunst, Technik und Design“, schreibt das australische Hyper Magazin, Gameplanet attestiert die Definition des Mediums und manch ein Rezensent ärgert sich, dass er nur zehn von zehn Sternen vergeben kann. Ums noch mal zu untermauern, schwört er, dass jede Verherrlichung richtig sei. Auch so schon grassieren nirgendwo sonst der Superlativismus und die Kunst des Überredens so sehr, wie wenn‘s um Spiele geht – doch hier erreicht der Hype die Wolken.

Die kreativen Köpfe des interaktiven Mediums wagen sich zuweilen an die Erschaffung abgedrehtester Fantasy-Welten. 2K Games schuf 2007 mit Bioshock und 2010 mit dessen Nachfolger die Unterwasserstadt Rapture, deren klaustrophobische Atmosphäre und wahnsinnige Einwohner die Spieler magisch fesselte. Bioshock Infinite, der nun erschienene dritte Teil, spielt auch unter Verrückten – allerdings statt im Meer über den Wolken eines fiktiven Amerikas von 1912: Columbia ist eine fliegende Großstadt, deren Gebäude in unterschiedlich großen Blöcken auf riesigen Heißluftballons ankern, die wie einzelne Landstücke einer Inselgruppe voreinander dahin driften. Ein Schienensystem namens Skylines, an dem Gondeln hin- und herpendeln, verbindet die Stadtteile miteinander.

Der Spieler übernimmt die Rolle des mysteriösen Booker DeWitt, der vom Festland anreist, um das Mädchen Elizabeth aus der Gefangenschaft zu befreien. Weshalb und warum, erfährt der Spieler wie das Protagonistenpaar häppchenweise im Verlauf der zehn- bis zwölfstündigen Story. Eines wird jedoch schnell aufgelöst: Sektenführer und Prophet Zachery Hale Comstock, der Columbia erschaffen hat, hält Elizabeth wie eine Märchenprinzessin in einem Turm fest. Grund dafür sind ihre geheimnisvollen Kräfte.

Der Spieler, alias Booker, befreit Elizabeth nach kurzer Suche und befindet sich von nun an mit ihr auf der Flucht aus diesem schwer zu entkommenden und massiv bewachten Inselkomplex hoch über dem Boden. Spielerisch bleibt sich Bioshock treu und versucht mit kleinen Veränderungen den variablen Einsatz seines Kampfsystems zu fördern. Wie in den Vorgängerteilen darf der Held klassische Waffen wie Pistolen, Schrotflinten, Geschütze, Granat- oder Raketenwerfer, Maschinen- oder Scharfschussgewehre benutzen. Allerdings kann er immer nur zwei davon gleichzeitig tragen. Da an jeder zweiten Ecke neue Waffen liegen, ist diese Limitierung nicht weiter tragisch und noch weniger, weil Booker, wie seine Vorgänger aus Rapture, Zauberkräfte hat, von denen er nach und nach bis zu acht verschiedene erlernt.

Die Munition der Waffen ist ebenso wie die Substanz zum Wirken der Kräfte limitiert und muss mit dem ununterbrochenen Durchsuchen von Kisten, Fässern, Leichen, Schränken etc. neu aufgefüllt werden. Kräfte werden mit Salz gefüttert und rein technisch sind sie mit den Plasmiden aus Bioshock 1 und 2 identisch. Es gibt Feuerbälle, Elektroschocks, Schockwellen, Krähenschwärme oder Telepathie zum Umkehren von Geschossen. Der Kampf mit diesen eindrucksvollen wie mächtig wirkenden Kräften und ihre nahtlose Kombination mit herkömmlichen Waffen macht einen Großteil des Spielspaßes von Bioshock Infinite aus. Hinzu kommt die Fähigkeit von Elizabeth, „Risse“ zu öffnen und einzelne Gegenstände aus Parallelwelten, wie automatische Geschütze, Heilmittel oder Schutzwälle, auf Bookers Befehl zu materialisieren. So erhalten die Schussgefechte eine kleine Prise Taktik. Trotzdem zeichnet sich die Action nicht gerade durch Innovationen fürs Genre der Shooter aus. Fest vorgegebene Handlungsziele in einer zwar weitläufigen aber doch nur pseudo-offenen Welt machen Begegnungen mit 08/15-Wachmanntruppen unausweichlich. Den einfältigen Dauergegner von Bioshock Infinite und den Pendants zu Minibossen wie Big Daddy oder Big Sister aus vorigen Teilen haftet nicht annähernd mehr die Bedrohlichkeit an, die einem einst kalte Schauer über den Rücken jagte.

Doch Bioshock Infinite ist mehr als bloß ein Shooter und wäre sein marginales Rollenspielelement der gezielten Aufrüstung einzelner Gegenstände noch tiefgründiger, hätte es neue Maßstäbe in Sachen Immersion setzen können. Denn wo der Held des Vorgängers Bioshock 2 nur in gelegentlichen Escort-Missionen von einer Little Sister begleitet wird, folgt ihm in Bioshock Infinite mit Elizabeth ein recht lebendig wirkendes Wesen. Auch wenn 2K’s verantwortliches Entwicklerstudio Irrational Games dem einflussreichen US-Onlinemagazin IGN einmal vor Veröffentlichung die vorprogrammierten Animationen des Mädchens in übertriebener Art als „revolutionär“ präsentierte, entsteht durch ihre KI (künstliche Intelligenz) eine verblüffende Bindung zum Spieler: Selbst in Spielunterbrechungen haftet die Präsenz eines Begleiters noch für kurze Zeit im Raum des Bewusstseins – ein witziger psychologischer Effekt, der allerdings leicht erklärt ist. Elizabeth bleibt stets an Bookers Seite, reagiert auf ihre Umwelt und unterhält sich mit ihm über die sich entwickelnden Ereignisse – „live“ im Geschehen, an den richtigen Stellen sowie ohne unterbrechende Zwischenfilme. Schutzbedürftig wenn auch selbständig untersucht sie auf eigene Faust Möbel nach brauchbaren Gegenständen, sammelt sie ein und wirft sie Booker rufend zu. Auch im Gefecht hilft sie aus: mit frischer Munition oder Salz für seine Kräfte. So viel zur großen Stärke des Spiels.

Bioshock Infinites Steampunk-Welt ist zwar gestalterisch schön anzusehen, grafisch aber von gestern. Über drei Jahre sind seit dem Vorgänger vergangen und die Texturen in Columbia wirken von damals. Die unrealistischen Eigenschaften von Hindernissen wie Büschen, an die sich Booker stößt, fühlen sich ähnlich veraltet an. Über hüfthohe Kisten kann der Held nicht hinwegspringen und ebenso wenig Mäuerchen erklettern, wie es in einem zeitgemäßen Actionspiel heute üblich ist. Seit Mirrors Edge wird dieses Feature für mehr Dynamik und Bewegungsfreiheit weiterentwickelt. In Bioshock Infinite beschränkt sich die freie Fortbewegung nur aufs Laufen und dem zugegebenermaßen rasanten, wenn auch relativ seltenen Ergreifen magnetischer Verankerungen oder Gleiten an einem Schienensystem, das dem einer Achterbahn gleicht.

Unterm Strich ist Bioshock Infinite ein zwar gelungenes und unterhaltsames Spiel, überrascht aber von seiner Story nicht mehr in dem Maße, wie der erste Teil der Reihe es einst vermag. Zu monoton sind die linear aufeinander abfolgenden Schusswechsel gegen größtenteils langweilige Gegner. Wer die im September 2010 veröffentlichte erste offizielle Demo von Spielszenen kennt, wird sogar sehr enttäuscht sein. Im Vergleich zum jetzt vorliegenden Endprodukt entsprach Bioshock Infinite damals noch spielerisch wie grafisch dem hohen Niveau aktueller Highlights des Mediums. In der Zeit, in der das Spiel aber mehrmals verschoben wurde, hat Entwickler Irrational das Gameplay eingeschränkt und das einst realistischere Design zu einer Art Disney auf Drogen karikiert.

Wie sich also ein großer Teil der Kritiker und Spieler (die Bioshock Infinite seit seiner Veröffentlichung Ende März 2013 ja inzwischen schon kennen) zu geradezu frenetischen Liebesbekenntnissen hochjazzen konnten, ist zumindest dem Autor dieses Textes bei all der Konkurrenz auf dem Markt leider nicht ganz verständlich.

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