Vegas, virtuelle Stadt
Seite 2: Gebaute Illusionen
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Weder die technische Heraufkunft fotorealistischer Gegenwelten konnten Kritiker der sechziger und siebziger Jahre wie Boorstin oder Eco natürlich erahnen noch den gleichzeitig eskalierenden Ausbruch der Hyperrealitäten aus dem Ghetto der Themenparks, ihr Eindringen in den städtischen Raum, in restaurierte Innenstädte und Shopping-Malls, und vor allem ihre massive Okkupation des legendären Strip.
Initiator dieser bislang letzten, postmodernen Verwandlung von Las Vegas, seinem Aufstieg von einer amerikanischen Glücksspielmetropole zur Welthauptstadt der Unterhaltung, war Steve Wynn, heute ein Endvierziger, der es nach dem abgeschlossenen Literaturstudium zum Immobilienmillionär und schließlich zu einem der erfolgreichsten Kasinobetreiber gebracht hatte. Mitte der achtziger Jahre, als Vegas ökonomisch stagnierte, imaginierte er ein neues Las Vegas und realisierte seine gewagte Vision mit Hilfe von Michael Milken und dessen berüchtigten Junk-Bonds. "Ich kann Neon nicht mehr ertragen", erklärte Wynn auf die Frage, warum er alles auf eine Karte setzte: "Neon ist billig. Für mich, verkörpert es das Las Vegas von gestern."
Wynns zukunftsträchtige Fantasie, das Mirage, wurde 630 Millionen Dollar teuer und eröffnete 1989. Mit 30 Stockwerken und über 3000 Zimmern war die betongewordene Fata Morgana das größte Hotel, das bis dahin je am Strip gebaut worden war. Und es war in der spektakulären Mischung aus Hawaii und Disneyland zweifelsfrei auch das Ungewöhnlichste. In seinem irrealen Innern wucherte Regenwald und rauschten Wasserfälle. In der Lobby rekelten sich hinter Glaswänden weiße Tiger, und in einem gewaltigen Aquarium lauerten ausgewachsene Haie. Für den privaten 37-Millionen-Dollar-Golfplatz ließ Wynn 10 000 Pinien aus North Carolina in die Wüste karren. Der obligatorische Betonparkplatz an der Vorderfront und die gewaltigen Neonzeichen, die gen Strip zu werben pflegen, wurden durch einen 17 Meter hohen Vulkan ersetzt, der bis heute in regelmäßigen Abständen feuerspeiend ausbricht - und der den Gästen des Hotelkasinos den Ausblick auf den realexistierenden Rest-Neon des alten Vegas gezielt verstellt.
Wynns Wagnis, in der Stadt der Neonfassaden ein dreidimensionales, begehbares Fantasieland zu errichten, das nicht nur nachts, sondern rund um die Uhr die Sinne betörte, wurde von einem ökonomischen Erfolg belohnt, der alle Erwartungen übertraf. Der größte und luxuriöseste Bauboom in der an Verschwendung nicht armen Geschichte von Las Vegas brach aus. Zwischen 1989 und 1999 wurden am Strip für über zehn Milliarden Dollar neue Fantasy-Hotels hochgezogen. An die Stelle der kargen, vom sekundären Zeichensystem der Reklamen überlagerten Moderne trat eine immersive Wunderwelt, ein herbeigebautes Sammelsurium steingewordener Träume. In der Nachbarschaft des Mirage drängeln sich heute:
eine römische Piazza samt Seufzerbrunnen (Caesar's Palace Forum Shops, 1992, Erweiterung 1998); ein Piratennest, in dessen Bucht sich zwei Galeonen regelmäßig Seeschlachten liefern (Treasure Island, 1993); eine ägyptische Glas-Pyramide, groß genug, um in ihrem Innenraum sieben Jumbos zu parken (Luxor, 1993); König Arthurs Schloss mit bonbonbunten Zinnen und Türmen (Excalibur, 1993); Freiheitsstatue, Empire State Building und Coney-Island-Rollercoaster (New York, 1997); ein pittoreskes Dorf samt Comer See (Bellagio, 1998); die Raumstation Deep Space Nine (Star-Trek-Hilton, 1998); ein Komposit-Venedig in Originalgröße (Venetian, 1999); ein 50 Stockwerke hoher Eiffelturm, umgeben von Triumphbogen und Opernhaus (Paris, 1999); eine versunkene Südseeinsel samt künstlichen Wellen, die mit sechs Metern hoch genug für sportliche Surfwettbewerbe in der Wüste sind (Mandalay Bay, 1999).
Vehemente Kritik an dieser ebenso innovativen wie anti-modernen und postrealen "Architektur der Illusion" konnte nicht ausbleiben. Der Architekt Michael Sorkin etwa nennt sie in Variations on a Theme Park (1992) "Architektur der Täuschung". Und Ada Louise Huxtable, langjährige Architekturkritikerin der New York Times, stellt in ihrem vielbeachteten Buch The Unreal America (1997) ratlos fest: "Ich weiß nicht, wann wir unseren Sinn für Realität oder unser Interesse an ihr verloren haben. Aber an einem gewissen Punkt wurde entschieden, daß Realität nicht die einzige Wahl war. Es war möglich, erlaubt und sogar wünschenswert, sie zu verbessern; man konnte sie durch ein angenehmeres Produkt ersetzen."
Alles Moralisieren freilich verkennt Architektur als subjektive Kunst, als Ausdruck guten oder schlechten Willens. Zeitstile entstehen jedoch als objektive Entsprechung technischer Möglichkeiten und wirtschaftlicher Kräfte. Die um den Markt gebaute Ordnung der mittelalterlichen Städte gestaltete die Strukturen lokalen Handels; die Metropolen des 19. Jahrhunderts entsprachen der industriellen Ökonomie. Über die Wolkenkratzer, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der US-Ostküste in den Himmel wuchsen, urteilte Sigfried Giedion, ihre Form sei "so wesentlich und aussagekräftig für unsere Zeit wie der monolithische Obelisk Ägyptens oder die gothischen Kathedralen für ihre Zeit." Nicht anders banden die wuchernden, von Reklamezeichen verstellten Vorstadtlandschaften des amerikanischen Westens in der zweiten Jahrhunderthälfte die automobile und von Massenmarken geprägte Zivilisation städtebaulich ein.
Auch die Illusionsarchitektur, ihre vielbeklagte "Entrealisierung" der Siedlungsräume, kann daher nicht als individuelles Versagen, als "Geschmacklosigkeit", sondern nur als Ausdruck zeitgenössischer Tendenzen begriffen werden. Wie etwa die Stahl-Glas-Bauten des 19. Jahrhunderts die Eisenbahn-Erfahrung von Bewegung und Aussicht ästhetisch umsetzten, so geht die entrealisierende Illusionsarchitektur offensichtlich auf eine wesentliche Konsequenz der Digitalisierung zurück: auf die ebenfalls entrealisierende digitale Bildmontage.