Verfassungsschutz-Skandal egal: Lernen Linke, den Inlandsgeheimdienst zu lieben?
Angeblich vertrauen mehr Linke als Rechte dem Verfassungsschutz. Was dagegen spricht – und warum in die Selbstverortung nicht viel aussagt. Ein Kommentar.
Das Ergebnis einer aktuellen Insa-Umfrage zum Ver- oder Misstrauen in den Verfassungsschutz wäre vor zehn bis zwölf Jahren wahrscheinlich anders ausgefallen: Demnach überwiegt heute eine positive Bewertung des Inlandsgeheimdienstes bei "Umfrageteilnehmern, die sich selbst im politischen Spektrum links verorten".
Dort befanden 47 Prozent nach Insa-Angaben die Arbeit des Verfassungsschutzes für gut und nur 36 Prozent für schlecht, während im rechten Spektrum 51 Prozent schlecht auf den Verfassungsschutz zu sprechen seien.
Linke und Geheimdienst: Regelanfragen und Berufsverbote passé?
Erstaunlich ist das nicht nur, weil seit dem "Radikalenerlass" 1972 weitaus mehr Linke als Rechte nach Regelanfragen beim Verfassungsschutz von Berufsverboten betroffen waren. Linke Berufsverbotsopfer wandten sich später zum Teil sogar ausdrücklich dagegen, dass nun im Namen der Bekämpfung des Rechtsextremismus das Disziplinarrecht verschärft werden soll, um "Extremisten" schneller aus dem Beamtendienst zu entfernen.
In Bayern versucht der Verfassungsschutz nach wie die Anstellung von kapitalismuskritischen Linken an Universitäten zu verhindern.
Die kritische Öffentlichkeit nach dem NSU-Skandal
Es waren Linksliberale und Linke, die den Verfassungsschutz infrage stellten, nachdem Ende 2011 die Urheberschaft des "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) für zehn überwiegend rassistisch motivierte Morde in den Jahren 2000 bis 2007 sowie zwei Sprengstoffanschläge und mehrere Raubüberfälle publik geworden war.
Völlig zu Recht wurde die Frage aufgeworfen, ob es stimmen kann, dass Verfassungsschutzämter in Bund und Ländern nicht früher gewusst hatten, wo die Täter zu suchen sind. Schließlich waren sich die V-Leute in der militanten Neonaziszene schon fast auf die Füße getreten.
Wenn der Verfassungsschutz wirklich nichts gemerkt hat, ist er überflüssig. Wenn er doch etwas bemerkt, aber nicht eingegriffen hat, ist er gefährlich.
Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung), Januar 2012
Betreute Radikalisierung: Verfassungsschutz und NSU
Radikalisiert hatten sich die mutmaßlichen Haupttäter der Mord- und Anschlagsserie bis zu ihrem Untertauchen 1998 im "Thüringer Heimatschutz", den der Neonazi und V-Mann Tino Brandt geleitet hatte. Der THS hatte zu seinen Hochzeiten rund 140 Mitglieder. Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern rechneten später zusammen, dass mehr als ein Viertel der Mitglieder dieser NSU-Brutstätte V-Leute gewesen waren.
Als der Geheimdienst Angst hatte, dass ihm keiner glaubt
Dank geschwärzter oder geschredderter Akten sind aber bis heute nicht alle Klarnamen öffentlich bekannt. Der für die Aktenvernichtung im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) verantwortliche Mitarbeiter gab später an, dies sei zwar eine bewusste Entscheidung gewesen, aber nicht, weil die Behörde frühzeitig etwas gewusst habe, sondern weil ihr angesichts der zahlreichen Quellen wahrscheinlich niemand geglaubt hätte, dass sie ahnungslos gewesen sei.
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Sie ist wieder da, die Fünfte Kolonne Moskaus!
Im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer versuchten die Anwältinnen und Anwälte der Geschädigten und Hinterbliebenen immer wieder, die Rolle der Verfassungschutzämter in Bund und Ländern zu thematisieren.
Verdacht einer Anwältin: Verfassungsschützer handelten strafbar
Und es fehlt vollständig an Verfahren gegen Ermittler, gegen Polizeibeamte, gegen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, gegen Präsidenten und Abteilungsleiter von Verfassungsschutzbehörden. Verfahren, die nicht nur wegen Inkompetenz und Untätigkeit, sondern auch wegen aktiver Unterstützung geführt werden müssten.
Auf diese Anklagebank gehören nicht fünf, sondern 50 oder noch besser 500 Personen, die alle mitverantwortlich sind für diese Mordtaten.
Rechtsanwältin Angelika Lex, Nebenklagevertreterin im Münchner U-Prozess, auf einer Demonstration zum Start der Hauptverhandlung 2013
Etliche Beweisanträge zum Thema Verfassungsschutz wurden in dem fünfjährigen vom Gericht auf Empfehlung der Bundesanwaltschaft abgelehnt, weil sie „nicht schuld- und strafrelevant für die fünf Angeklagten“ seien.
Manchmal mussten dennoch Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes in den Zeugenstand treten. Vor Gericht wie in Untersuchungsausschüssen beriefen sie sich oft auf Erinnerungslücken und wirkten zum Teil mehr als unglaubwürdig.
Die Ära Maaßen: Als der Verfassungsschutz Besserung gelobte
Die besondere Tragikomik besteht im Nachhinein darin, dass 2012 wegen des NSU-Skandals der BfV-Chef ausgewechselt wurde und ausgerechnet mit Hans-Georg Maaßen angeblich alles besser werden sollte. Maaßen, der sechs Jahre an der Spitze der Behörde blieb, tritt mittlerweile offen rechtsextrem auf und wurde auch von seiner Ex-Behörde so eingestuft.
Für die AfD mag das den "politischen Missbrauch" des Verfassungsschutzes belegen – für manche Linksliberale belegt es vielleicht eher dessen verspätete Läuterung nach dem NSU-Skandal, falls sie den nicht schon wieder vergessen haben.
Aufmerksame Beobachter ahnen aber, dass sich die Behörde nicht von Grund auf verändert hat, nur weil 2018 erneut deren oberster Chef ausgetauscht wurde und nun kein Blatt mehr vor den Mund nimmt. Schließlich wurden unter Maaßen Personalentscheidungen getroffen und auch Mitarbeiter rekrutiert oder befördert, die naturgemäß weniger in der Öffentlichkeit stehen.
Das strukturelle Problem des Inlandsgeheimdienstes
Die rechten Terroranschläge auf die Synagoge in Halle 2019 und an mehreren Tatorten in Hanau 2020 sowie der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 zeigten nach Einschätzung der Linke-Politikerin Martina Renner, dass das Problem mit dem Führungswechsel im BfV und dem Amtsantritt von Thomas Haldenwang noch lange nicht erledigt war.
Im Juni 2020 beschrieb sie nach mehrjähriger Erfahrung in Untersuchungsausschüssen das strukturelle Problem in einem Interview mit dem Jacobin-Magazin so:
Man muss sich klarmachen, dass alle diese rechten Netzwerke durchsetzt und umstellt sind von Spitzeln. Die haben zu allen Anschlagsplänen, Waffenbeschaffungen und Vorbereitungen auch intensiv berichtet.
Diesen Hinweisen ist aus der Logik des Geheimdienstes heraus aber nicht nachgegangen worden. Und das ist der Moment, wo die Schuld auf sich geladen haben. Weil wenn Sie das getan hätten, hätten sie Tote verhindern können. Aber ein Geheimdienst will ja seine Informationen gar nicht preisgeben, sondern sie ganz im Gegenteil exklusiv für sich behalten.
MdB Martina Renner (Die Linke), Juni 2020
Warum rechter Terror kein Versagen des Geheimdienstes ist
Deshalb sei es kein Versagen, sondern die Konsequenz aus der Arbeitsweise der Geheimdienste, dass rechter Terror passiere.
Den Missbrauch des Verfassungsschutzes für politische Zwecken halten heute neben Maaßen aber vor allem Wähler der AfD (74 Prozent), der FDP (62 Prozent), des BSW (60 Prozent) und der Freien Wähler (58 Prozent) für wahrscheinlich.
Vor allem Grünen-Wähler vertrauen dem Inlandsgeheimdienst
Unter Anhängern der Partei Die Linke tun dies 49 Prozent. Wähler von SPD (43 Prozent wahrscheinlich zu 42 Prozent unwahrscheinlich) und der CDU/CSU (41 Prozent wahrscheinlich zu 40 Prozent unwahrscheinlich) sind in dieser Frage gespalten.
Nur bei Grünen-Wählern, die sich zum Teil immer noch links verorten, gibt es mit 45 Prozent eine relative Mehrheit, die es für unwahrscheinlich hält, dass der Verfassungsschutz in Deutschland zu politischen Zwecken missbraucht wird.
Im Hinblick auf die Parteienpräferenz zeigt sich also, dass es nicht unbedingt Vertreter klassisch linker Positionen sein müssen, die dem Verfassungsschutz ein gutes Zeugnis ausstellen und sich möglicherweise links verorten.
Staatstragende Grüne vs. antikapitalistische Linke
Es sind maßgeblich Anhänger der Grünen, die traditionell oft immer noch zum linken Spektrum gezählt werden, als Teil der Ampel-Regierung aber auch staatstragend sind und außenpolitisch sogar stärker als Teile der SPD auf militärische Lösungen geopolitischer Konflikte setzen.
Wer das tut, muss logischerweise auch nach innen ein gewisses Grundvertrauen in den eigenen Staatsapparat haben – allen Skandalen um Rechtsextreme auch in Polizei und Bundeswehr zum Trotz.
Schon vor der Bundestagswahl 2021 schlossen die Grünen eine Koalition mit der Linken aus, falls sie sich nicht zur Nato bekenne. Klassisch links ist dagegen eher eine kritische Haltung zum militärischen-industriellen Komplex und der Waffenlobby.
Die Nato galt unter Linken immer auch als bewaffneter Arm des Metropolen-Chauvinismus, hatte nie nur demokratische Mitgliedsstaaten und wird nicht plötzlich zur demokratischen Wertegemeinschaft, wenn auch Russland Großmachtambitionen zeigt.
Untersuchungsausschuss soll Maaßen-Ära aufarbeiten
Antimilitaristische und kapitalismuskritische Linke wissen auch nach wie vor, dass sie vom Verfassungsschutz nichts Gutes zu erwarten haben. Viele Gruppen dieses Spektrums werden auch selbst vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft.
Dabei stellt sich in manchen Fällen auch die Frage, wie viel Maaßen in solchen Einschätzungen steckt. Nicht umsonst fordern Linke wie Martina Renner einen Untersuchungsausschuss zur Amtsführung des ehemaligen Geheimdienstchefs.