Verfassungsschutz will NSU-Bericht für 120 Jahre wegschließen
- Verfassungsschutz will NSU-Bericht für 120 Jahre wegschließen
- Das Zeitmaß spiegelt das Maß des Giftes wider, das in der Akte stecken muss
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Was hat der VS-Beamte Temme mit dem Mord in Kassel zu tun? Eine absurd lange Sperrfrist soll vor allem eines signalisieren: "Bei uns kriegt Ihr nichts mehr raus!"
120 Jahre - für diese Dauer hat das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) von Hessen einen internen Bericht gesperrt, in dem es auch um den NSU-Mord von Kassel und die mögliche Verwicklung seines Mitarbeiters Andreas Temme gehen dürfte. Das schürt einerseits den Verdacht: Was derart lange geheim gehalten werden soll, muss brisant sein. Andererseits kann diese absurde Sperrfrist als Botschaft verstanden werden an die Öffentlichkeit und diejenigen, die weiterhin aufklären wollen: 'Von uns erfahrt Ihr nichts mehr. Gebt auf!'
Es ist ein unverblümter Bruch einer Sicherheitsbehörde mit dem Legalitätsprinzip im Rechtsstaat BRD, Ausdruck des verzweifelten Abwehrkampfes gegen die anhaltenden Aufklärungsbemühungen im Mordkomplex NSU.
Mit Irritation und ungläubigem Staunen reagierte die Öffentlichkeit, als vor wenigen Wochen die Nachricht von der 120 Jahre-Sperrfrist bekannt wurde. Er habe zunächst gedacht, es handle sich um einen Tippfehler und müsste "20 Jahre" heißen, so ein Parlamentarier, der im eben zu Ende gegangenen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages saß. Doch langsam weicht die Überraschung dem Widerspruch.
Was ist derart geheim am Mord in Kassel, dass es fünf Generationen nicht wissen dürfen? Zunächst wurde er nicht aufgeklärt. Seit November 2011 rechnet ihn die Bundesanwaltschaft, wie alle zehn Morde, dem Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe zu. Tatsächlich ist er einer der Schlüsselfälle des NSU-Skandals, dessen Hintergründe weiterhin im Dunkeln liegen.
Als der junge Deutschtürke Halit Yozgat am 6. April 2006 in seinem Internetcafé mit zwei Kopfschüssen ermordet wurde, hielten sich fünf Kunden und ein Kleinkind in den Räumen auf. Wer nimmt ein solches Risiko auf sich? Einer der fünf Kunden war der Beamte des LfV Hessen, Andreas Temme. War das wiederum lediglich Zufall?
Zwei Hausnummern neben dem Anschlagsort befindet sich ein Polizeirevier. Wurde das von dem oder den Tätern übersehen oder existiert ein unbekannter Zusammenhang mit der Tat? Der Verfassungsschützer Temme verließ als einziger nach dem Mord unerkannt den Laden. Hat er das Opfer tatsächlich nicht liegen sehen, wie er behauptet? Kam der Täter überhaupt von außen, oder wurde der Mord von innen begangen?
Fragen, die sich bis heute stellen, der amtlichen Version zum Trotz.
Die Verwicklung des hessischen Verfassungsschutzes (VS) geht über die Person Temme hinaus. Ende März 2006, zwei Wochen vor dem Mord in Kassel, schickte eine Abteilungsleiterin des Amtes eine Mail an die Dienststelle des VS in Kassel und wies auf die ungeklärte Ceska-Mordserie hin, der bis dahin bereits sieben Migranten zum Opfer gefallen waren. Der letzte Mord lag neun Monate zurück, im Juni 2005. Warum nun, im März 2006, plötzlich diese Aktivität des Verfassungsschutzes? Warum in Hessen?
Das soll auf das Bundeskriminalamt (BKA) zurückgegangen sein, das sich an das LfV Hessen gewandt und die Ceska-Mordserie thematisiert haben soll. Doch warum wandte sich die Bundesbehörde BKA nicht an das Bundesamt für Verfassungsschutz, sondern lediglich an die Hessen? In Hessen war bis dato kein Ceska-Mord begangen worden. Die Schwerpunkte lagen in Nürnberg und München. Außerdem waren in Hamburg und Rostock türkisch-stämmige Menschen ermordet worden. Allerdings stammte das erste Opfer aus Hessen. Der Blumenhändler Enver Simsek, der im September 2000 an seinem Blumenstand in Nürnberg niedergeschossen wurde, lebte mit seiner Familie in Schlüchtern zwischen Frankfurt und Fulda.
In der VS-Dienststelle in Kassel zeichnete Temme die Mail seiner Vorgesetzten über die Ceska-Mordserie mit seinem Kürzel ab. Nur wenige Tage später wurde in eben dieser Stadt ein Mord mit eben dieser Ceska-Pistole verübt - und dieser Verfassungsschützer war zugegen. Zwei Tage vorher war in Dortmund bereits ein weiterer Mord mit der Waffe geschehen. Hatte sich das BKA, wie in Hessen, auch an den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen gewandt? Darüber weiß man bisher nichts.
Warum Kassel, warum der Verfassungsschutz, warum Temme? Hat die Abteilungsleiterin des hessischen LfV ihre Mail auch an V-Mann-Führer mit Quellen in anderen Teilen des Bundeslandes gesandt? Hatte das Amt Kenntnisse, die auf Kassel hinwiesen? Gab es Rückmeldungen von V-Mann-Führern? Unklar ist unter anderem, wie viele Quellen die Dienststelle in Kassel damals hatte und wo sie eingesetzt waren. Die Mordermittler der Kriminalpolizei durften sie nie befragen.