Verfassungsschutzbericht 2020: Der Staat und seine Delegitimierer
Der Inlandsgeheimdienst hat seinen offiziellen Jahresbericht vorgestellt und verrät darin mehr über sich selbst, als ihm lieb sein kann
Nachdem das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im April dieses Jahres angekündigt hat, zur besseren Einordnung der "Querdenker" den neuen Phänomenbereich "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" einzuführen, taucht dieser im Jahresbericht des Inlandsgeheimdienstes für 2020 noch nicht als solcher auf.
In den Kapiteln über die Phänomenbereiche "Rechtsextremismus/rechtsextremistischer Terrorismus" sowie "Linksextremismus" ist aber von "Delegitimierung staatlichen Handelns" beziehungsweise "Delegitimierung des Staates und seiner Institutionen" die Rede.
Im Fall der Rechten geht es um deren Beteiligung an Protesten gegen das staatliche Pandemie-Management und die dabei propagierten Verschwörungsmythen. Auf Seite 48 heißt es: "Rechtsextremisten versuchten, über das Protestgeschehen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen Anschluss an die weit überwiegend demokratischen Proteste zu finden."
Anders als demokratischen Akteuren sei es ihnen jedoch nicht um eine sachliche Debatte gegangen, "sondern um die Delegitimierung staatlichen Handelns und demokratischer Institutionen sowie um das Erreichen einer Deutungshoheit". Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte bei der Vorstellung des Berichts an diesem Dienstag, Rechtsextremisten hätten "dem Protestgeschehen leider zu oft ihren Stempel aufdrücken" können, obwohl sie eigentlich in der Minderheit gewesen seien.
"Schlafschafe", gefährliche "Extremisten" – oder nichts davon?
Auch "Linksextremisten" unterstellt das BfV, sie hätten anfangs versucht, eine "Deutungshoheit über Ursachen und Wirkung der Pandemie" zu gewinnen, allerdings bleibt im Dunkeln, welche das sein sollte. Aus der Sicht vieler "Querdenker" waren Linke bekanntlich zu staatstragenden "Schlafschafen" mutiert, weil sie sich mehrheitlich weitgehend an die Schutzmaßnahmen hielten und die Anti-Masken-Fraktion als sozialdarwinistisch und rechtsoffen kritisierten. Auf Seite 123 schreibt der Verfassungsschutz:
Die Coronapandemie und ihre Auswirkungen führten zur Absage fast aller für die linksextremistische Szene bedeutsamen Ereignisse und Veranstaltungen. Nach anfänglichen Versuchen einer ideologischen Einordnung musste die Szene feststellen, dass sie eine Deutungshoheit über Ursachen und Wirkung der Pandemie nicht erreichen konnte.
Allerdings wird wenig später verdeutlicht, dass 2020 sehr wohl für die Szene bedeutsame Ereignisse und Veranstaltungen stattfanden. Im Hinblick auf die Klimaproteste suggeriert der Verfassungsschutz, antikapitalistische Systemkritik werde der Umweltbewegung durch "Linksextremisten" von außen eingeflüstert oder durch deren U-Boote in sie hineingetragen. Und hier kommt wieder die "Delegitimierung des Staates" ins Spiel:
Mit ihrem vermeintlichen Engagement für den Klimaschutz versuchen Linksextremisten aus verschiedenen Teilen der Szene, demokratische Diskurse zu verschieben, sie um ihre eigenen ideologischen Positionen zu ergänzen, gesellschaftlichen Protest zu radikalisieren und den Staat und seine Institutionen zu delegitimieren.
Nun konnten die Beteiligten im Jahr 2020 noch nicht wissen, dass mittlerweile das höchste deutsche Gericht das Regierungshandeln im Hinblick auf Klimaschutz delegitimiert hat - für die Umweltbewegten, die diesbezüglich geklagt hatten, war das aber absehbar. Mit einem Beschluss vom 24. März 2021 erklärte das Bundesverfassungsgericht das deutsche Klimaschutzgesetz in Teilen für verfassungswidrig, weil es mit seinen unzureichenden Vorgaben "die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden" in ihren Freiheitsrechten verletze.
Je später die Emissionen effektiv gemindert würden, desto schneller müsste dies dann erfolgen - und desto stärker wäre "praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen", argumentierte das Gericht.
Konkret ging es Paragraf 20a des Grundgesetzes, in dem es heißt:
Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.
In Prozessen wegen zivilen Ungehorsams bei Klimaschutz-Protesten kann und wird auch die Verteidigung mit diesem Urteil argumentieren. Das BfV hielt es aber nicht für nötig, vor der Veröffentlichung des Jahresberichts seine Einschätzung zu überdenken. Nicht das höchstrichterliche Urteil delegitimiert in seinen Augen die Politik der Bundesregierung, sondern "Linksextremisten", die mit ihrer Vernetzungsarbeit Einfluss auf gutgläubige Umweltbewegte nehmen, delegitimieren den Staat: "Eine maßgebliche Rolle kommt dabei dem von der 'Interventionistischen Linken' (IL) beeinflussten Bündnis 'Ende Gelände' zu", schreibt das BfV. Vorgeworfen wird ihnen vor allem die Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam. Stets wird unterstellt, diesen Kräften gehe es gar nicht um Umwelt- und Klimaschutz.
Dass sich mutmaßliche Linksextremisten zum Teil selbst durch die Umweltkrise politisiert haben und zu der Überzeugung gelangt sind, dass sie im aktuellen Wirtschaftssystem entweder gar nicht gelöst werden kann oder nicht ohne schwere soziale Verwerfungen, kommt dem Verfassungsschutz nicht in den Sinn.
Dabei muss er selbst einräumen, dass er die überwiegend jungen Beteiligten der Waldbesetzung im Dannenröder Forst, mit der sich der Protest gegen den Weiterbau der Autobahn A49 "radikalisiert" habe, noch nicht kannte.
Einige hielten auch in der Untersuchungshaft längere Zeit ihre Identität geheim - was ihnen kaum gelungen wäre, wenn sie zuvor längere Zeit der linksradikalen Szene angehört hätten, weil dann sehr wahrscheinlich Akten über sie existieren würden. Der Verfassungsschutz spricht von "Unbekannten", die am 30. September 2019 die Besetzung des Waldes erklärt hätten.
Die Angst des BfV vor einer Menschheitsfrage
Das BfV fürchtet offensichtlich die Debatte darüber, ob die langfristige Sicherung unserer Lebensgrundlagen mit dem aktuellen Wirtschaftssystem vereinbar ist, weiß aber genau, dass diese Frage gerade sehr viele Menschen beschäftigt - und dass Umweltbewegte in den letzten Jahren viele Sympathien gewinnen konnten. Das BfV interpretiert aber den Schutz der Verfassung nicht zuletzt als Schutz dieses Wirtschaftssystems. Damit verrät das Amt unter Thomas Haldenwang mehr über sich selbst, als ihm lieb sein kann, denn das Grundgesetz schreibt genau dieses Wirtschaftssystem nicht fest.
Das Amt fühlt sich ihm dennoch verpflichtet und nennt freie Meinungsäußerung von Linken in sozialen und ökologischen Bewegungen "linksextremistische Einflussnahme", so bald dort über Alternativen zum Kapitalismus diskutiert wird. So versucht das BfV, die Umweltbewegung zur Ausgrenzung ihres linken Flügels zu bewegen, der nach Logik des Verfassungsschutzes gar nicht richtig dazugehört, sondern das Thema nur benutzt, um den Kapitalismus in ein schlechtes Licht zu rücken.
Die schwedische Initiatorin der Jugendbewegung "Fridays for Future", Greta Thunberg, meidet zwar "Ismen" und klassischen linken Szenesprech - und das nicht nur aus taktischen Gründen, sondern weil sie tatsächlich keiner Szene angehörte, bevor sie mit 15 Jahren als Einzeldemonstrantin aktiv wurde - und weil sie möglichst große Teile der Menschheitsfamilie ansprechen will.
Aber das Wirtschaftssystem, das sie grundsätzlich in Frage stellt, weil es die Lebensgrundlagen der Menschheit gefährdet, ist nun einmal das, was Linke Kapitalismus nennen. Für zivilen Ungehorsam warb Thunberg im britischen Guardian mit dem Satz: "Wir können die Welt nicht dadurch retten, dass wir uns an die Regeln halten."
Wer die Umweltbewegung von allen Inhalten befreien will, die der Verfassungsschutz "linksextremistisch" nennt, will sie im Grunde mundtot machen und den Beteiligten maximal erlauben, sich beim Tierschutzverein oder bei den Grünen zu engagieren, die vielleicht schon bald eine Koalition mit den Unionsparteien im Bund bilden.
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