Vergessene Träume in 3D

Seite 2: Künstlerischer Urknall

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Von vornherein steht der Verdacht einer Fälschung im Raum, denn die Grotte Chauvet mit ihren künstlerisch perfekten, dynamischen Zeichnungen und Gravuren erschüttert die Wissenschaftswelt. Selbst Jean Clottes hat anfangs Zweifel, die sich aber durch die mineralischen Ablagerungen, die einige der Wandbilder bedecken, schnell zerstreuen.

Er selbst kratzt winzige Proben vom Felsbild der sich gegenüberstehenden Nashörner ab, die unverzüglich vom französischen Labor für Klima- und Umweltforschung LSCE (Laboratoire des Sciences du Climat et l'Environnement) mit der Radiokohlenstoffmethode auf 30.000 bis 32.000 Jahre vor unserer Zeit datiert werden.3

Die Kunst aus der Chauvet-Grotte ist damit doppelt so alt wie die qualitativ vergleichbaren frühen Kunstwerke aus den Höhlen Altamira und Lascaux. Diese Erkenntnis revolutioniert das Weltbild der Urgeschichte.

Ein Teil des Löwenrudels in der Chauvet-Höhle. Bild: Ascot Elite Filmverleih

Die Zweifel einiger Experten dauern trotz der inzwischen mehr als 45 vorliegenden Datierungen bis heute an, denn damit steht am Anfang der Kunst eine Art Urknall 4. Aus dem Nichts erscheinen plötzlich Künstler, die mit großer Ausdruckskraft ganze Panoramen meisterlicher Bilder an Höhlenwände malen. Oder wie Jean Clottes es bereits in der ersten Veröffentlichung über Chauvet ganz trocken formulierte: "Die Idee von der Entwicklung der Kunst war ein Irrtum."

Ein Traum für die Wissenschaft

Jean Clottes wird zum Kopf einer Wissenschaftlergruppe ernannt, die gleichzeitig zwei Ziele im Auge hat: einerseits den Schutz der Höhle und ihrer Meisterwerke zu gewährleisten, andererseits möglichst viel Erkenntnisse zu sammeln.

Dort, wo die drei Entdecker ihre Plastikplanen ausgelegt hatten, wird nun ein Metallsteg erbaut, auf dem sich alle Forscher in Spezialanzügen bis heute bewegen, um den Boden mit seinen über die Jahrtausende bewahrten Spuren nicht zu beschädigen.

Um das Klima in der Grotte nicht zu gefährden, bleibt der Zugang auf einen sehr kleinen Personenkreis beschränkt, konstant werden Temperatur (13,5 Grad C), Feuchtigkeit (99%) und Kohlendioxid (3%) überwacht. Unter keinen Umständen sollen sich die Katastrophen von Lascaux und Altamira wiederholen, wo sich das Höhlenklima durch die Besucher derartig veränderte, dass Pilz- und Bakterienbefall die Bilder zu zerstören drohten 5.

Das interdisziplinäre Team (seit 2006 unter der Leitung des Archäologen Jean-Michel Geneste) besteht aus zwölf Experten für prähistorische Felskunst, für die Fauna der Eiszeit, für Fuß- und Pfotenspuren (Ichnologie), aus Archäologen und Höhlenforschern. Dazu kommen u.a. Paläontologen, sowie Gäste, die sich z.B. fachlich mit prähistorischer Kunst oder Tier-Verhaltensforschung beschäftigen - insgesamt etwa 30 Personen, die ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse untereinander abgleichen 6.

Botaniker untersuchen die Pollen und Samen, die sich auf dem Höhlenboden in Kalzit gehüllt als Negativ erhalten haben, und ziehen daraus Schlüsse auf die damalige Vegetation.

Spezialisierte Geologen ergänzen das Bild der Umweltbedingungen, indem sie die Wachstumsringe der Tropfsteine analysieren, die das lokale Klima (vor allem Temperatur und Regenmengen) im Zeitverlauf spiegeln. Hydrologen beschäftigen sich mit der Rolle des Wassers, das die Chauvet-Höhle entscheidend geformt hat. Nach der ersten Felsbilder-Phase überflutete es den feuchten Lehmboden, die Fußspuren der frühesten Maler verschwanden, und auf dem Boden Liegendes wie Knochen schwemmte es quer durch die Grotte.

Bären und Menschen

Nur zweimal pro Jahr dürfen die Forscher für jeweils 15 Tage in die eiszeitliche Kunstgalerie, pro Tag nie mehr als zwölf Personen für maximal acht Stunden. Sie fotografieren, vermessen und analysieren weitgehend aus der Distanz. Die erste große Aufgabe war das Erstellen eines kompletten Inventars aller annähernd mit Kohle oder rotem Ocker gezeichneten oder gravierten fast 450 Felsbilder, die Pferde, Auerochsen, Rentiere, eine Horde mähnenloser Löwen, Bären, Steinböcke und Riesenhirsche, Mammut, Wisente (und ein Mensch-Wisent-Mischwesen), sowie Uhu und Panther darstellen (vgl. virtueller Rundgang oder Bildergalerie der Chauvet-Grotte).

Jedes der Kunstwerke wurde abgelichtet - auch im Infrarot- und Ultraviolett-Spektrum, um für das bloße Auge nicht Erkennbares wie sich überlagernde Striche, oder unter mineralische Ablagerungen verborgene Motive sichtbar zu machen.

Es zeigte sich, dass die Künstler und Künstlerinnen an einigen Stellen vorab den Fels mit ihren Händen reinigten. Sie hatten ihre Kompositionen bereits vorab fest im Kopf, sie arbeiteten nach Plan, schnell und präzise, es gibt kaum Korrekturen. Einige der Vorzeitmaler setzten gezielt Wischtechniken ein, um ihren Figuren mehr Plastizität zu verleihen. Die Wissenschaftler können bei einzelnen Motiven sogar nachvollziehen, wie die schwungvollen Striche im Einzelnen erfolgten, und welche Bereiche zunächst ausgespart wurden, um später weitere Tierfiguren hinzuzufügen 7. Nicht nur die Felskunst wird analysiert, sondern alle anderen Fundstücke, und die Ichnologen nehmen die mehr 4.000 Fuß- und Pfotenabdrücke auf dem Boden genau unter die Lupe.

Die Pferdeköpfe wurden von einer Person gezeichnet, unterhalb stehen sich seit mehr als 30.000 Jahren zwei Nashörner Kopf an Kopf gegenüber.

Die Chauvet-Höhle war von Bären bewohnt, bevor und nachdem der Mensch sie bemalte, wie Kratzspuren von Bärenkrallen unter und über dem Farbauftrag beweisen. Die von Biologen eingehend (inklusive DNS-Analyse) untersuchten Höhenbärenknochen und -schädel sind bis zu 37.000 Jahre alt 8. Fast 200 Bären verstarben in der Grotte, im Höhlenboden blieben ihre Winterschlaf-Mulden erhalten. An den Wänden finden sich fünfzehn Darstellungen von Höhlenbären (Ursus spelaeus), wie die Spezialisten an der prägnanten Schädelform feststellten, und diese Tiere starben in Europa vor 24.000 Jahren aus.

Steinzeit-Kathedrale

Die Eiszeitkünstler hielten sich nicht dauerhaft in der Höhle auf. Es gibt keine Spuren von Mahlzeiten, die gefundenen Feuerstellen dienten der Beleuchtung und dem Brennen von Holzkohle.

Wie oft und wie lange die "Michelangelos im Fellgewand" das Höhlenheiligtum aufsuchten, bleibt im Dunkel der Geschichte verborgen, aber noch vor 26.000 Jahren ging ein barfüßiger Junge durch die Grotte. Er war etwa acht Jahre alt und trug eine Fackel, die er gegen die Wand schlug, um ihren Brand zu verstärken, wie die datierten Rußflecke beweisen. Vielleicht hatte er einen Hund bei sich, entsprechende Pfotenabdrücke begleiten seine Fußspur 9. Die Datierungen zeigten, dass es zwei Perioden gab, in denen Steinzeitmenschen die Höhlenwände verzierten, und es liegen ungefähr 5.000 Jahre zwischen den Werken.

Vor rund 20.000 fiel der Vorhang der Eiszeitgalerie: Der ursprüngliche Eingang verschwand unter einem Felssturz und verwandelte die Graffiti-Höhle der Vorzeit in eine Zeitkapsel.

Die Höhle Chauvet hat einige Vorstellungen der Experten ins Wanken gebracht. Und sie ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Vorstellung von den Steinzeitkünstlern, die durch ihre Malerei die Fruchtbarkeit der Beutetiere und damit das Jagdglück beschwören wollten, nicht stimmt. Die Mehrheit der dargestellten Tiere wie die Löwen, Bären oder Nashörner wurden nicht verspeist. Auch die Deutung der eiszeitlichen Bilder als Symbole für den Dualismus des Weiblichen und des Männlichen (Wisent weiblich, Pferd männlich) gilt inzwischen als widerlegt.

Heute sind die meisten Experten Anhänger der Schamanismus-Theorie, die Jean Clottes offensiv vertritt 10. Die Höhlen sind dieser Theorie zufolge Durchgangsorte zur Geisterwelt, eine Art Pforte, in denen Rituale abgehalten wurden, um spirituellen Reisen anzutreten. Jugendliche unterzogen sich im Schein der flackernden Fackeln Initiationsriten, um in die Welt der Erwachsenen überzutreten.

Die Schamanen begegneten hier den Geistern in Tiergestalt, hüllten sich vielleicht selbst dabei in Tierhäute ein, trugen Masken oder Geweihe. In Trance hatten sie Visionen und bemalten sie die Wände.

Die Deutungen bleiben schwierig, die frühen Kunstwerke müssen für sich selbst sprechen. Für Werner Herzog sind die Bilder Erinnerungen der Menschheit, oder wie er es selbst formuliert:

Sie tauchen hier in Träume ein, die festgefrorenen Träume einer tiefen Vergangenheit, die wir nicht voll begreifen können. Wir können nur spekulieren. Alle Versuche, sie zu deuten, werden immer scheitern. Aber wir wissen gleichzeitig, dass dies auch wir sind. Wir sehen hier eine Möglichkeit des Menschseins, die wir in uns tragen.

Eine neue Filmepoche in 3D

Typisch für die Darstellungen in der Chauvet-Höhle ist ihre besondere Dynamik. Die Tiere scheinen sich zu bewegen, die Bilder überlagern sich, beziehen den verschiedenen geformten Untergrund der Felswände mit ein. Werner Herzog versucht durch die 3D-Effekte und sogar in einer Szene durch die Nachahmung von flackerndem Licht den Eindruck zu vermitteln, den dieses "Urkino" vor mehr als 30.000 Jahren auf die Besucher in der nur von Feuerschein durchdrungenen Dunkelheit der Grotte gemacht haben muss.

Nach Pina von Wim Wenders, der für den Oscar nominiert wurde, ist Die Höhle der vergessenen Träume jetzt der zweite 3D-Dokumentarfilm mit enormem Erfolg in den Kinos. Daniel Sponsel ist überzeugt, dass sich dieser Trend noch fortsetzen wird:

Natürlich ist 3D filmisch ein wichtiger evolutionärer Schritt, eine großartige Technik, um auch im Dokumentarfilm Effekte in Szene zu setzen. Traditionell und hervorragend funktioniert das bei Naturfilmen. Oder bei Filme über Kunst. Ein absolut gelungenes Beispiel ist Pina von Wim Wenders, der alle Bilder choreographiert, eine riesige Tanz-Performance auf die Leinwand bringt. Es kommt auf das Genre an, in Familienfilmen wie Unsere Erde macht die Dreidimensionalität viel Sinn und wird sich sicher durchsetzen.

Aber es gibt auch einige Nachteile der Technik jenseits der unentbehrlichen und viel diskutierten Brille, und den Scheibenwelt-Effekten, wenn sich die 3D-Ebenen hintereinander vor den Augen der Zuschauer erheben.

Gerade im Bereich der politisch engagierten Independant-Dokumentarfilme ist die aufwendige Technik im Zweifelsfall schon beim Drehen problematisch:

Man kann nicht mehr wie mit einer kleinen Handkamera einfach einen Raum betreten und drauf los drehen. Bei 3D schwebt dann plötzlich die Kaffeetasse, die auf dem Tisch steht, mitten im Raum, und bekommt dadurch eine Bedeutung, die sie inhaltlich überhaupt nicht hat. Spontanität geht verloren, und bereits jetzt werden dokumentarische Projekte auf die dadurch mögliche Effekte hin konzipiert. Es geht auch viel von der Freiheit verloren, die Dokumentarfilmer erst in den letzten Jahren dadurch gewonnen haben, dass gute Kameras so klein und günstig geworden sind.

Der Doumentarfilmexperte prognostiziert, dass auch deshalb im Dokumentarfilmbereich noch lange sowohl herkömmliche als auch 3D-Produktionen parallel geben werde.

Die Höhle der vergessenen Träume kann sich der im 3D-Kino unter Schwindelgefühlen Leidende auch jetzt schon in der englischen Version am heimischen Bildschirm ganz zweidimensional auf DVD anschauen. Das lässt auch die (an vielen Stellen durchaus attraktive) Möglichkeit offen, den Ton mit der zunehmend penetrant mystischen Musik und den konstanten bedeutungsschwangeren Kommentaren von Werner Herzog leise zu stellen.

Aber im Kino ist es natürlich mit den 3D-Bildern und dem dadurch entstehenden Raumgefühl viel schöner, und bevor der Epilog mit Atomkraftwerk und Albino-Krokodilen kommt, kann man ja gehen, statt sich noch den letzten poetisch-tiefsinnigen Kommentar zu geben:

Sind wir nicht die Krokodile, die über einen Abgrund an Zeit auf diese Höhlenmalereien blicken?