Vergessenes sozialistisches Computernetz
Seite 2: Bewährungsprobe im Transportstreik
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- Allendes Ende und das Ende der Kybernetik
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Wie sah es in Chile aus, als sich die Wissenschaftler an ihr Projekt machten?
Sascha Reh: Chile war unter Allende ein innenpolitisch gespaltenes Land. Allein die Regierungskoalition Unidad Popular bestand aus acht Parteien, die alle unterschiedliche Vorstellungen von der Umsetzung eines sozialistischen Programms hatten. Während einige wie die Kommunistische Partei Chiles die Transition in einen sozialistischen Staat vorantreiben wollten, versuchte etwa die starke christsoziale Fraktion, bürgerliche Werte wie den Schutz des Privateigentums zu verteidigen, was Allendes Verstaatlichungskurs immer wieder ausbremste.
Ab Mitte 1972 herrschten de facto bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Versorgungslage war katastrophal, die bürgerliche Opposition verübte Anschläge gegen staatliche Einrichtungen und sogar Mordattentate. Bis zum Oktober 1972 war Beers Team mit dem Aufbau des Netzwerks beschäftigt, zu dem auch der sogenannte Operations Room gehörte, in dem alle Daten zusammenlaufen und als Grundlage wirtschaftspolitischer Entscheidungen dienen sollten. Dann geschah etwas überaus Bedrohliches: Der Verband der Transportunternehmer trat in einen unbefristeten Streik, der zur Absetzung Allendes führen sollte. Keine Schraube, kein Stück Seife, kein Laib Brot wurden mehr befördert.
Wie haben die Menschen darauf reagiert?
Sascha Reh: Es herrschte buchstäblich Stillstand, über Wochen. Zeitzeugen, die ich in Chile befragt habe, schilderten mir das als sehr dramatische Zeit, in der Straßenkämpfe die Spaltung der Gesellschaft bis in die Familien hinein vertieften. Selbst Ingenieure und Ärzte beteiligten sich an dem Streik, Fabriken fehlten die Ersatzteile, Kranke starben wegen fehlender Behandlungsmöglichkeiten.
Und hier hat sich CyberSyn bewährt?
Sascha Reh: In dieser Situation erwies sich das Netzwerk als Rettung für die Regierung. Nicht nur Fabriken, sondern auch regierungstreue Spediteure, Ingenieure und sonstige Unterstützer wurden daran angeschlossen. Während der langen Wochen des Streiks harrte das CyberSyn-Team in einer Einsatzzentrale im CORFO aus, in dem Tag und Nacht zwanzig Fernschreiber gleichzeitig Daten empfingen und versendeten. Man organisierte alternative Versorgungswege, ließ Kohle und Öl von hier nach dort transportieren, teilte Ingenieure auf viele Fabriken gleichzeitig auf. Die Aktion hatte Erfolg: Allende blieb standhaft, beendete den Streik und bildete das Kabinett um.
Sie haben 2013 in Ihrem vorhergehenden Roman Gibraltar die Griechenlandkrise dargestellt. In "Gegen die Zeit" stellen Sie das blutige Scheitern der demokratisch gewählten Regierung Salvador Allendes dar. Sehen Sie Parallelen zwischen der Situation Chiles, nachdem Allende Präsident wurde, und der Griechenlands nach der Wahl von Syriza?
Sascha Reh: Das ist keine ganz einfache Frage, denn natürlich kann man die Situation beider Länder schwerlich miteinander vergleichen. Chile hatte in den 70er Jahren bereits eine lange Geschichte der Kolonisierung und Ausbeutung hinter sich und gehörte als lateinamerikanisches Land auch nicht zu einem einflussreichen Staatenbündnis, sondern konnte bei seinem Kampf um Eigenständigkeit und Selbstbestimmung höchstens auf die Rückendeckung einiger weniger Unterstützer hoffen, wie etwa Kuba, die DDR, Russland. Die reichen Industriestaaten versuchten in dieser Hochphase des Kalten Krieges - angeführt von den USA, die eben Vietnam an ein kommunistisches Regime verloren hatten und sich in Lateinamerika schon seit geraumer Zeit mit Castro herumärgerten - den Vormarsch des Kommunismus aufzuhalten.
Und heutzutage in Griechenland?
Sascha Reh: Die griechische Geschichte ist erst einmal eine ganz andere. Das Moment des Imperialismus fehlte bisher in dieser Ausprägung, und von der Angst vor dem kommunistischen Gespenst ist lediglich die Angst der Shareholder vor einer suboptimalen Rendite übrig geblieben. Dennoch: Nach dem Sturz Allendes wurde das Land unter Pinochet radikal liberalisiert, was natürlich nur ein Euphemismus für den Totalausverkauf ist.
Strukturell passiert in Griechenland, besonders im Zuge des dritten "Hilfspakets", dasselbe. Statt dem Land durch eine nachhaltige Linderung der Schuldenlast wieder auf die Beine zu helfen, reißen nicht zuletzt deutsche Profiteure sich rasch noch die letzten Werte unter den Nagel und verkaufen dies als Strukturhilfe. Man kommt nicht umhin, darin ein imperialistisches Moment zu erkennen. Und dass dies nicht einmal in Europas "Hinterhof", sondern zwischen angeblich gleichberechtigten Partnern geschieht, verleiht dem Geschehen eine neue und besonders zynische Dimension.
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