Verkehrsminister uneinig über europäische Satellitennavigation
Das Galileo-System bleibt trotz des Auslaufens der Definitionsphase in der Schwebe
Bei der EU-Ratstagung der europäischen Verkehrsminister in Brüssel am 20./21. Dezember ist noch kein Beschluss über den Aufbau eines unabhängigen europäischen Satellitennavigationssystems gefasst worden. Das Galileo-Programm, das die europäische Unabhängigkeit von den bestehenden Systemen GPS (USA) und GLONASS (Russland) bringen soll, wird daher nicht wie geplant am 1. Januar 2001 in die Entwicklungsphase eintreten. Neben einigen seiner Kollegen hat sich auch Deutschlands neuer Verkehrsminister Kurt Bodewig gegen einen Einstieg in das Programm zum jetzigen Zeitpunkt ausgesprochen. Ein Kompromiss war trotz Bemühungen verschiedener Staaten nicht möglich.
Dieser Nicht-Beschluss ist überraschend, denn bislang hatte alles auf einen breiten Konsens für das Galileo-System hingedeutet. Die europäischen Verkehrsminister hatten mit ihren Beschlüssen für technisch und finanzielle Vorstudien vor einem Jahr den Weg bereitet (Die EU will ein eigenes Global Positioning System schaffen), und auch die EU-Kommission hatte in ihrer Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat (PDF-Datei) vor einem Monat noch einmal eine umfangreiche Sammlung von pro-Galileo-Argumenten vorgelegt. Auch eine interdisziplinäre Studie, die kürzlich von mehreren deutschen Forschungsinstituten erstellt worden war, kam zu dem Ergebnis, dass das System politisch wünschenswert ist und eigentlich nur Vorteile bringt. Die weiteren Entscheidungen werden nun wahrscheinlich im kommenden Jahr unter schwedischer Ratspräsidenschaft fallen. Die deutsche Seite wird dabei ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, denn Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn hat in den nächsten zwei Jahren den Vorsitz der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA.
Über die Gründe des Scheiterns in Brüssel und die zugrundeliegenden Konfliktlinien ist von offizieller Seite nur wenig bekannt gegeben worden. Das Bundesverkehrsministerium verweist vor allem auf die Finanzierung, die noch weitgehend ungeklärt ist. Vor allem die Einbeziehung der Privatwirtschaft und der Streitkräfte in die Deckung der Gesamtkosten von geschätzten 3,25 Milliarden Euro war offenbar noch nicht endgültig ausgehandelt. "Die deutsche Seite kann keinen Blankoscheck ausstellen. Wir können nicht öffentliche Gelder in Milliardenhöhe vorleisten, ohne dass eine angemessene private Beteiligung sichergestellt ist", so Minister Bodewig nach dem Ratstreffen. Darüber hinaus waren nach Angaben aus Berlin noch technische und organisatorische Fragen offen.
Deutlicher traten die Konflikte dagegen zutage, als die erwähnte deutsche Institutsstudie über die "wirtschaftsstrategische und sicherheitspolitische Bedeutung des europäischen Satellitennavigationssystems Galileo und seine Auswirkungen auf die zivile Infrastruktur" Ende Oktober bei einem Workshop in Berlin vorgestellt wurde. Das Projekt war vom Bundesforschungsministerium und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gefördert worden, beteiligt waren das Institut für Erdvermessung und Navigation der Bundeswehr-Universität München, das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München, das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg, die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Ebenhausen sowie die Industrieanlagen-Betriebsgesellschaft (IABG) in Ottobrunn, die Projektleitung lag bei der Bundeswehr-Universität. Mit dieser Konstruktion war einerseits eine interdisziplinäre Abschätzung von Kosten, Nutzen, Bedarf und möglichen Alternativen gewährleistet, aber gleichzeitig wurde mit dem jeweils spezifischen Blick der Projektpartner auch der Konflikt zwischen zivilen, eher wirtschafts- und technologiepolitisch orientierten Herangehensweisen und einer möglichen sicherheitspolitischen und militärischen Nutzung deutlich. Während man sich weitgehend einig darüber war, dass der Markt für eine zivile Nutzung der Satellitennavigation in den nächsten Jahren weiter anwachsen wird und dass eine politische Anschubförderung dieser Schlüsseltechnologie ähnlich wie bei der Ariane-Rakete und dem Airbus Europa als Standort für Hochtechnologie weiter etablieren würde, gab es Auseinandersetzungen um die Bedeutung militärischer Überlegungen und Einflüsse.
Während die bei dem Workshop anwesenden Industrievertreter sehr auf eine rein zivile Ausrichtung des Projektes drängten und die unbedingte und genaueste Verfügbarkeit der Navigationssignale als existenziell beurteilten, ging es den Sicherheitspolitikern vor allem um die Unabhängigkeit der künftigen europäischen Militärpolitik. Die bestehenden Konkurrenzsysteme GPS und GLONASS werden von europäischer Seite als nicht ausreichend verlässlich angesehen. Beide werden vom Militär betrieben, das die Satellitensignale zwar zivilen Empfängern kostenlos zur Verfügung stellt, aber im Zweifelsfall eben nicht darauf verpflichtet werden kann.
So konnten bis vor einigen Monaten zivile Nutzer das GPS-Signal nur in einer geringeren Auflösung von 70 bis 100 Metern empfangen. US-Präsident Clinton hatte am 1. Mai 2000 mit Blick auf die entstehende europäische Konkurrenz diese "selektive Verfügbarkeit" bis auf weiteres abschalten lassen - pikanterweise drei Tage vor der Eröffnung des gemeinsamen Galileo-Büros von ESA und EU-Kommission in Brüssel. Seitdem ist auch mit zivilen GPS-Empfängern eine bis auf 10 Meter genaue Positionsbestimmung möglich. Gleichzeitig betonten die USA aber, dass bei "Bedrohungen der nationalen Sicherheit" das zivile Signal jederzeit auf regionaler Basis wieder degradiert oder sogar ganz abgeschaltet werden kann (Global Positioning System ist jetzt für die zivile Nutzung genauer).
Innerhalb der NATO besteht zwar ein Memorandum of Understanding darüber, dass das GPS-Signal den Europäern auch für Militäreinsätze zur Verfügung steht, an denen die USA nicht beteiligt sind, aber, so Peter Oltmanns von der SWP, das sei bei Einsätzen, die gegen US-Interessen unternommen werden, nicht bindend. Es geht also mit Galileo auch um eine strategische Machtposition der EU gegenüber den USA im Bereich der Sicherheits- und Militärpolitik, und damit passt das System in andere Entwicklungen der letzten Zeit, etwa den Aufbau einer europäischen Satellitenüberwachung oder strategischer Lufttransportkapazitäten.
Die Diskussion um die Beteiligung der Streitkräfte an der Galileo-Finanzierung handelt daher nur oberflächlich vom Geld. Dahinter steckt die Grundsatzfrage der zivilen oder militärischen Verfügung über das neue System. Bei dem Galileo-Projektworkshop in Berlin wurde deutlich, dass eine militärische Beteiligung an Galileo bedeutet, dass man sich wie bei GPS eine mögliche Abschaltbarkeit oder Degradierung des Signals einkaufen müsste. Unter solchen Bedingungen ist aber weder die zivile Industrie noch das Verkehrsministerium bereit, für ein System Geld auszugeben, das man genauso gut und genauso unsicher in den USA bereits hat - und das kostenlos.
Der zuständige Vertreter aus dem Verkehrsministerium legte denn auch heftigen Widerspruch Sprache eines ehemaligen Bundeswehrangehörigen ein, der über die mögliche Verwendung von Galileo für Bombensteuerungen und Raketenangriffe aus "Schurkenstaaten" geredet hatte. Neunzig Prozent des hier vorgetragenen militärischen Vokabulars habe er beim Galileo-Lenkungsausschuss in Brüssel noch nie zu hören bekommen, und "diese Argumentation gefährdet auf europäischer Ebene des ganze Konzept". Besonders Frankreich drängt aber bislang auf eine Beteiligung der Militärs am Galileo-Projekt, und auch die EU-Kommission hat gefordert, dass im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU die Möglichkeit bestehen muss, über einen möglichen "Entzug des Dienstes" bei einer "Nutzung von Galileo in böswilliger Absicht" zu entscheiden. Vor allem die neutralen EU-Staaten Österreich, Schweden und Finnland stehen solchen Plänen kritisch gegenüber. Die USA denken allerdings schon weiter: Vor zwei Wochen hat die CIA zusammen mit der Association of the Old Crows, einem Lobbyverband für elektronische Kriegführung, eine Konferenz veranstaltet, in der es um "Navigation Warfare after Selective Availability" ging. Man rechnet hier also schon damit, dass die Entscheidung für eine zivile Nutzung des genauen GPS-Signals unumkehrbar sein wird.
In Brüssel ist darüber hinaus die Finanzierung des privaten Anteils am Galileo-Etat bis zuletzt unklar geblieben. Nach den Plänen der EU-Kommission sollen die privaten Unternehmen 1,5 Milliarden Euro für die Errichtung des Systems beisteuern, das sind immerhin fast drei Viertel der insgesamt veranschlagten 2,1 Milliarden. Diese sollen nach den vorliegenden Plänen aus verschiedenen Einnahmequellen refinanziert werden. Als Möglichkeiten wurden u.a. genannt eine Gebühr für die Empfängerchips, Lizenzeinnahmen aus Mehrwertanwendungen (z.B. Verknüpfung der Ortsbestimmung mit kartografischen Informationen) oder eine Zwangsabgabe ähnlich der GEMA-Gebühren auf leere Tonträger. Nach einer Aufforderung der Kommission haben sich verschiedene europäische Industriekonsortien für eine Beteiligung an dieser öffentlich-privaten Partnerschaft gemeldet.
Offenbar ist aber bis zuletzt unklar geblieben, ob die beteiligten Unternehmen sich verbindlich auf eine Finanzierung des Systemaufbaus festlegen wollten, denn auch bei dem Workshop in Berlin waren deutliche Zweifel an der Rentabilität solcher Einnahmemodelle geäußert worden: Immerhin gebe es ja das GPS-Signal kostenlos, daher werde der Endanwender nicht einsehen, warum er für Galileo zahlen solle. Hier deutet sich ein Teufelskreis an: Die Verkehrsminister wollen ein eindeutiges Bekenntnis der Industrie, dieser wiederum will aber zunächst die öffentlichen Vorleistungen abwarten. Es scheint aus der Sicht der Beteiligten wie beim Beamtenmikado zu sein: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.