Verleumdungen und Zuspruch, Hetze und Aufbruchsstimmung
Seite 2: Das LKA warnt
Nach den offiziellen Terminen nimmt Özdemir ein kurzes Mittagessen in einem Bistro ein. Gleich ist er noch mit seiner Frau verabredet, für die im Wahlkampf viel zu wenig Zeit bleibt, ebenso wie für seine kleine Tochter. Am Nachmittag ist noch eine Podiumsdiskussion geplant, so wie die Aufzeichnung eines Instagram-Videos.
Während die Kellnerin die Gerichte serviert, kommt Özdemir auf die Hetze im Netz sowie die Drohungen gegenüber seiner Person zu sprechen. Das LKA schlug ihm vor, auf Verfolger zu achten, die Umgebung im Auge zu behalten sowie auf Heimwegen regelmäßig unterschiedliche Strecken zu nutzen.
Öffentliche Auftritte sollten- so die Experten-kurzfristig angekündigt werden, was schwer machbar ist, wenn man eine große Zielgruppe erreichen muss. Özdemir spricht von den Belastungen, die besonders seiner Frau zusetzen. "Meine Eltern raten mir inzwischen ab, öffentliche Ämter anzustreben, dabei haben sie meinen Werdegang immer mit glücklich und mit Stolz begleitet. "Ich werde aber nicht aufgeben", fügt Özdemir mit Nachdruck hinzu, bevor er um die Rechnung bittet.
Beschmierte Plakate und Aufwärtstrend
Hochsommer in Berlin, Friedenau an einem Sonntag im August. Der Wahlkampf, der bis dahin eher ruhig verlief, hat am Dynamik gewonnen. Die Hauptstadt gleicht einem Schilderwald. Unzählige Plakate für die Wahlen zum Bund und zum Berliner Abgeordnetenhauswurden prägen das öffentliche Bild Berlins.
In Friedenau lächelt unter anderem Orkan Özdemir vom Plakat seine potentiellen Wähler an.
Im Café Breslau sitzt Möbelpacker Matze vor seinem Bier und dreht sich eine Zigarette. "Wat ick davon halten soll, dass der kandidiert? Weeß ick nicht, wa. Neulich hat hier jemand erzählt, dass da wat im Netz stand, von seiner Vergangenheit wa, keene Ahnung ob da wat dran ist. Hab den schon mal hier lang loofen sehen, ick wähle aber nicht, ooch nicht AfD, wa, um uns kleene Leute scheert sich eh niemand, ooch nicht die Sozis!"
Eine stark tätowierte Dame vom Nebentisch ergänzt: "Warum sorgt der Orkan nicht in seiner Heimat für frischen Wind?", wobei sie sich Beifall heischend umschaut, aber anscheinend die Pointe vermasselt hat. Auf den Hinweis, dass Özdemir in Berlin zur Welt kam und im Stadtteil Schöneberg aufwuchs, reagiert sie nicht.
Das Café Breslau, welches 2019 in die Schlagzeilen geriet, als dort eine geplante NPD-nahe Versammlung vor Beginn beendet wurde, ist so etwas wie ein Überbleibsel aus der Zeit, als man den Kiez noch "eine anständige Wohngegend, mit einem Touch zum Kleinbürgerlichen" bezeichnen konnte. Die Stammgäste schauen von hier auf das gegenüberliegende ehemalige Rathaus Friedenau, ein Gebäude, in dem sich heute Wohnungen für Flüchtlinge befinden, sowie auf die Gäste in der neu eröffneten Shisha-Bar gleich um die Ecke.
Nur wenige Gehminuten entfernt, studiert Karin, eine 57-jährige Lehrerin für Deutsch und Geschichte, die Neuerscheinungen im Schaufenster der Buchhandlung Thaer. Auf die Plakate von Orkan Özdemir angesprochen sagt sie: "Natürlich kenne ich Orkan Özdemir, ein charmanter junger Mann, den ich mir sehr gut im Abgeordnetenhaus vorstellen kann, doch, doch, doch. Neulich, hier auf dem Markt -am Breslauer Platz- übergab er mir einen Flyer, wir unterhielten uns dann kurz, er hat einen guten Eindruck auf mich gemacht, ich werde ihn wählen."
Ihre Begleiterin Susann, eine 39-jährige Kinderärztin fügt hinzu: "Ich war wirklich entsetzt, aufgrund der rassistischen Entgleisungen. Da steckt wohl die AfD dahinter? Wir leben im Jahr 2021, in Berlin, dann so was, schlimm. Bin eigentlich eine enttäuschte Ex-SPD-Wählerin, finde den Herrn Özdemir aber sehr sympathisch, also werde ich ihn wohl wählen. Auf Bundesebene wähle ich aber die Linke, der Olaf Scholz ist wirklich nicht mein Fall."
Ein aufreibender Wahlkampf
Die SPD befindet sich seit einigen Wochen im Aufwind und Orkan Özdemir bestätigt, dass er im Wahlkampf Rückenwind spürt, im Gespräch mit den Wählern, aber auch Ressentiments, flankiert von einem wachsenden Bekanntheitsgrad, denn seine Plakate werden weit häufiger beschädigt, beschriftet oder zerstört als die anderer Kandidaten.
Olaf Scholz ist in Berlin-Schöneberg, in dem Bezirk, in dem auch Friedenau liegt. Auf der Veranstaltung wirkt Özdemir müde und abgekämpft, während er auf die Bühne schaut, wo der SPD-Kanzlerkandidat mit Kevin Kühnert Wahlkampf betreibt.
Am Rande der Veranstaltung erwähnt Özdemir, dass er sich sehr darüber freut, dass die SPD sowohl im Bund als auch in Berlin zu stärksten Partei aufgestiegen ist. Er erwähnt aber auch, wie viele Plakate von ihm zerstört und mit rassistischen Parolen beschmiert werden. "Es gibt Momente, da wünsche ich mir nur, es ist alles bald vorbei."
Kurz vor dem Urnengang
Berlin, wenige Tage vor den Wahlen. Der Herbst hat leise Einzug gehalten, von einer Kanzlerin Baerbock redet niemand mehr. Die SPD steht jetzt bundesweit bei rund 25 Prozent und auch in Berlin liegt die SPD-Bürgermeister-Kandidatin Franziska Giffey knapp vor ihrer Konkurrentin der Grünen.
Özdemir gönnt sich eine kurze Pause, lädt zu einem kleinen Spaziergang durch seinen Wahlkreis ein. Der Weg führt an seinen Plakaten vorbei, die häufig mit dem Schriftzug "Kanake" beschmiert sind, falls diese noch nicht von der Polizei mit orangener Farbe übertüncht wurden.
Özdemir schaut daran vorbei. Seit 2009 ist er Mitglied der SPD. Anfangs fühlte er sich dort verloren, als muskelbepackter junger Mann mit Migrationshintergrund. Das Bodybuilding gab er bald auf, vertiefte sich umso mehr in die Parteiarbeit.
Knapp 10 Jahre sitzt er jetzt in der BVV, der Bezirksverordnetenversammlung von Schönberg-Tempelhof. In wenigen Tagen wird er wissen, ob ihm der Sprung ins Abgeordnetenhaus gelungen ist, ob er die meisten Stimmen aller Direktkandidaten erhalten hat.
Prognosen sehen ihn inzwischen knapp vor der Gegenkandidatin der Grünen, bis vor Kurzem deutliche Favoritin im Wahlkreis.