Verlieren wir Russland?

Seite 2: Wollen die Russen eine starke Hand?

Russen sind schwer zu kontrollieren und haben einen Drang zum Anarchismus. Sie tragen die Maske unter Nase oder Kinn und erweitern ihre Datschengrundstücke, weil die Grundstücksgrenzen von den Behörden oft nicht kontrolliert werden. In Parks pflücken sie Zweige von Fliederbäumen. Und wenn man erstaunt fragt, ob das erlaubt sei, bekommt man als Antwort, dass der Flieder dann "besser wächst".

Noch aus Sowjetzeiten gibt es die Sitte, nicht fest Angenageltes und Brauchbares mitzunehmen, etwa Gartenerde, die auf einem Haufen in einem Wohngebiet liegt, oder Sandsäcke, wie man sie gelegentlich an unbeaufsichtigten Straßenbaustellen sieht. Dort, wo in Deutschland Schilder mit Tempolimit 30 stehen, liegen in Russland mehrere Zentimeter hohe Bodenschwellen, welche Raser zum langsamen Fahren zwingen. Anders wären sie nicht zu stoppen.

Eben im Wissen um ihre mangelnde Disziplin glauben viele Russen, das Land brauche eine harte Hand. In Putin sehen viele keine harte Hand. Denn ständig kommt es in Russland zu Korruptionsfällen unter Spitzenbeamten, obwohl Putin immer wieder wegen Korruption belastete Gouverneure – sogar einmal einen Wirtschaftsminister – einsperren ließ. Stalin, unter dem es offiziell keine Korruption gab, zählt in Russland bis heute zu den am meisten geachteten Personen der Geschichte.

Das Verbot von Memorial

Ich will nicht verschweigen, dass es in Russland einiges Kritikwürdiges gibt. Ende Dezember wurde vom Obersten Gericht und von einem Moskauer Gericht die Menschenrechtsorganisation Memorial verboten. Memorial hat sich in den letzten 30 Jahren durch Aufarbeitung der Verbrechen während der Stalin-Zeit einen Namen gemacht hat.

Nach Meinung der russischen Staatsanwaltschaft verfälscht Memorial das Bild vom Zweiten Weltkrieg. Nazi-Verbrecher, an deren Händen das Blut sowjetischer Bürger klebe, würden von der Menschenrechtsorganisation reingewaschen, die UdSSR würde als terroristischen Staat dargestellt.

Alle diese Vorwürfe müssten zunächst eigentlich vor einem russischen Gericht ordentlich verhandelt werden, bevor sie in einem Verbotsverfahren als Beweis angeführt werden.

Nach Meinung der russischen Staatsanwaltschaft rechtfertigt Memorial die Existenz terroristischer und extremistischer Organisationen. Tatsache ist, dass die Organisation Oppositionellen Rechtsschutz gewährt und über ihre Fälle berichtet hat. Aber ist das schon Unterstützung von Terrorismus?

Faktisch bleibt nur ein Vorwurf gegen Memorial: Immer wieder fehlten auf den Publikationen die gesetzlich vorgeschriebene Markierung als "ausländischer Agent". Das hindere russische Bürger, Memorial-Publikationen kritisch zu lesen. Die Menschenrechtsorganisation argumentiert dagegen, die Anordnungen zur Markierung sei unverständlich geschrieben.

Was stimmt ist, dass Memorial sich kritisch zum russischen politischen System äußert. Aber ist das schon Grund für ein Verbot? Memorial hatte zuletzt auch Themen aufgegriffen, die sich direkt gegen die russische Sicht auf die Geschichte richten und sich mit der Geschichtsschreibung in der Post-Maidan-Ukraine decken. Darauf reagieren die russischen Behörden äußerst allergisch.

Dem Verbotsverfahren gegen Memorial ging ein Vorfall im Moskauer Sacharow-Zentrum voraus. Dort sollte der Film Gareth Jones der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland vorgeführt werden. Der Film, der 2019 auf der Berlinale gezeigt wurde, handelt von der Hungersnot in der Ukraine Anfang der 1930er-Jahre – in der Ukraine "Holodomor" genannt –, die nach Meinung der Regierung in Kiew gezielt von Moskau gegen das ukrainische Volk organisiert wurde, um es auszulöschen.

Tatsächlich gab es in den 1930er-Jahren nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen landwirtschaftlichen Gebieten im südlichen Teil der Sowjetunion Hungersnöte.

Die Film-Veranstaltung in Moskau jedenfalls wurde von russischen Ultranationalisten gestört. Die Polizei blockierte den Vorführsaal und ging nicht gegen die Störer vor.

Das Verbot von Memorial stößt bei einzelnen bekannten Russen, die ein gutes Verhältnis zum Kreml haben, auf Kritik.

Der Menschenrechtler Aleksandr Brod erklärte, die Forschung über die Repressionen in der Sowjetzeit müssten unbedingt fortgesetzt werden. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei "Gerechtes Russland", Sergej Mironow, twitterte:

Die Entscheidung des Obersten Gerichts zum Verbot von "Memorial" ist, als wenn man den Opfern der Repressionen, meinen Verwandten und mir ins Gesicht gespuckt hat. Mein Großvater Jemeljan wurde 1937 erschossen. Er war ein einfacher Bauer und sie meinten, gegen "die Feinde" vorzugehen. Der Staat hat das Examen über die eigene Geschichte nicht bestanden. Ein fataler Fehler!

Ich bin überzeugt, dass es besser wäre, sich mit den Argumenten der Golodomor-Behauptungen öffentlich auseinanderzusetzen, anstatt ein Verbotsverfahren gegen Memorial einzuleiten.

Memorial versucht zwar, Putin und den Stalinismus auf eine Ebene zu stellen, was man kritisieren muss. Es ist aber eine Tatsache, dass ein Verbot von Memorial das politische Klima stärker vergiftet, als einige Entgleisungen von Memorial.