"Verstoß gegen die Menschenwürde"

Auch in Österreichs Heer wurden Rekruten gequält - der Folterskandal zieht weite Kreise und erreicht nun sogar den Generalstab

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Die Meldungen über die deutsche Bundeswehraffäre brachten auch in Österreich einen Heeresskandal ins Rollen. Nachdem ein Video mit einer inszenierter Geiselnahme im oberösterreichischen Freistadt an die Öffentlichkeit gelangte, werden immer neue Misshandlungsfälle bekannt. Die wirre Verordnungslage in Ausbildungsfragen belastet zunehmend auch die militärische Führungsebene; jetzt gerät - trotz geschickter Krisen-PR - auch Verteidigungsminister Platter (ÖVP) in Bedrängnis. Seit einigen Tagen liegt der erste Bericht der parlamentarischen Beschwerdekommission vor.

Manchmal scheint es, als gäbe es kaum eine deutsche Debatte, die nicht in ähnlicher Weise auch Österreich heimsuchen würde. Nur die Lösungswege, die die schwarzblaue Regierung in Wien parat hält, dürften in ihrer unverblümten Einfalt im Ausland für Erheiterung sorgen. Anders als bei der Rentenreform (Ministerin Gehrer gab angesichts der zeugungsunwilligen Jugend das Motto Kinder statt Partys) und der Pisa-Debatte (Bundeskanzler Schüssel empfahl, zu Weihnachten Bücher zu schenken) scheint man nun anlässlich des aktuellen Heeresskandals zu ahnen, dass es mit Ratschlägen allein nicht getan ist.

Bild aus dem Video, das den Medien anonym zugesendet wurde

Im Fahrwasser der deutschen Affäre war auch in Österreich ein ähnlicher Misshandlungsfall bekannt geworden. Das öffentliche Entsetzen über die Übergriffe, die rund 80 Rekruten bei einer simulierten Geiselnahme in Freistadt (Oberösterreich) im Oktober 2003 über sich ergehen lassen mussten, war groß. Verteidigungsminister Günther Platter signalisierte Tatbereitschaft: In einer hastig einberufenen Pressekonferenz versprach er sofortige Maßnahmen und absolute Transparenz.

"Überraschung" bei Kilometer 40

Jeder Versuch, die Affäre herunterzuspielen, wäre auch zwecklos gewesen. Zu diesem Zeitpunkt war den Medien bereits ein Video zugespielt worden, das die Übergriffe detailliert dokumentierte. Als letzte Station eines 40-km-Marsches, die als "Überraschung" angekündigt worden war, stand eine inszenierte Geiselnahme auf dem Programm, bei der den ahnungslosen Rekruten Säcke über den Kopf gestülpt wurden. Schreiexzesse, Handgreiflichkeiten und Demütigungen (vorgetäuschte Gewalt- und Pinkelorgien) legen den Begriff Folter nahe.

Die parlamentarische Beschwerdekommission nahm umgehend ihre Arbeit auf. Die im Eiltempo durchgeführten Erhebungen förderten dabei nicht nur in Freistadt schwere Missstände zutage. Eine Flut neuer Enthüllungen über vorgetäuschte Entführungen, Misshandlungen, Fesselungen und Scheinexekutionen in Landeck (Tirol) und Bludesch (Vorarlberg) bringt nun sogar die oberste Führungsebene von Bundesheer und Ministerium in Bedrängnis.

Kommission bestätigt Vorwürfe

In der Tat hat sich das parlamentarische Gremium vergangene Woche auch fünf hochrangige Offiziere, unter ihnen Generalstabchef Robert Ertl und der Leiter des Führungsstabs, Generalmajor Christian Segur-Cabanac, vorgeknöpft. Danach ging die Kommission mit ihren ersten Prüfberichten an die Öffentlichkeit: In allen drei Fällen hätten sich Vorwürfe bestätigt. Explizit spricht der Bericht von einem "Verstoß gegen die Menschenwürde".

Neben dem Versagen der Dienstaufsicht wird darin vor allem die mangelnde Trennung der Ausbildungspläne für Grundwehrdiener und Kaderpersonal kritisiert. Diesbezüglich konstatiert der Bericht, dass selbst von "ranghöchsten Entscheidungsträgern" die "Vorschriftenlage" betreffend Geiselnahmeübungen nicht in korrekter Weise dargestellt werden konnte - Sprengstoff für die Opposition, die hinter den Übergriffen mehr als nur das Versagen der lokalen Dienstaufsicht auszumachen meint.

Anordnung kam aus Ministerium

Während Minister Platter anfangs bemüht war, die Übung von Entführungen mit Rekruten als vorschriftswidrig - und somit als eigenmächtige Überschreitung der Ausbildner - darzustellen, zeigte sich bald, dass die Anordnung von Geiselnahmeübungen direkt aus dem Ministerium kam. Schon im September 2002 hieß es - ohne die Basisausbildung auszunehmen - in einem offiziellen Merkblatt:

Um in Ausnahmesituationen wie Geiselhaft trotz aller widrigen Umstände dennoch kontrolliert und handlungsfähig zubleiben, sind Ausbildungen in Form von theoretischen Unterrichten oder praktischen Übungen notwendig.

Weitere Präzisierungen waren nie nachgereicht worden. Mittlerweile ist bekannt geworden, dass sogar im aktuellen, erst vor einigen Wochen erlassenen Zielkatalog des Ministeriums Geiselnahmeübungen im Rahmen der Grundausbildung vorgesehen sind.

Die Forderung nach speziellen Richtlinien für Rekruten darf aber nicht davon ablenken, dass bereits die bestehende Rechtslage das Vorgehen der Ausbildner eindeutig untersagt. Denn laut Militärstrafgesetzmit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren rechnen, "wer einen Untergebenen oder Rangniedereren in einer die Menschenwürde verletzenden Weise behandelt". Der Sicherheitssprecher der Grünen, Peter Pilz, rief überdies einen - nach wie vor gültigen - Erlass aus dem Jahr 1995 in Erinnerung:

Es ist verboten, "Gefangene" oder Verdächtige bei Übungen unwürdig oder entehrend zu behandeln. Solche Personen dürfen auch nicht festgebunden, gefesselt oder eingesperrt werden.

Platter ist hier offenbar von seinem Führungsstab (bewusst?) unzureichend informiert worden. Mehrmals dürften zudem interne Hinweise auf Übergriffe vom Ministerium einfach übergangen worden sein.

Keine Suspendierungen in Landeck und Bludesch

Dieses Chaos um Zuständigkeiten und Richtlinien offenbart nicht zuletzt die momentane Desorientiertheit des Bundesheeres, das merklich verunsichert eine Totalreform (mit der eine eigene Kommission befasst ist) auf sich zurollen sieht. Mit der Aushöhlung der Neutralität und den Debatten über die EU-Sicherheitspolitik und die Art künftiger Auslandseinsätze schwinden die traditionellen Gewissheiten der österreichischen Heerespolitik.

Platters Heeresreform könnte so gerade die Aufregung um den Folterskandal zum Durchbruch verhelfen, er selbst gerät indes unter Beschuss. Nach der Suspendierung von drei Verantwortlichen in Freistadt und einem Abteilungsleiter des Ministeriums werden jetzt zwar auch strukturelle Schritte eingeleitet - die Ausbildungsagenden werden dem Führungsstab Segur-Cabanacs entzogen und die Programme grundsätzlich überarbeitet. Doch die Liste der Verdachtsfälle wird immer länger: Die Vorfälle in Wels und Klagenfurt werden zurzeit noch untersucht.

Argwohn erregt der Umstand, dass sich alle bisher untersuchten Übergriffe innerhalb der 6. Jägerbrigade ereignet haben, also jener Einheit, die bis vor kurzem Herbert Bauer, dem heutigen Kabinettschef Platters, unterstellt war. Zudem erscheint Platters Weigerung, auch in Landeck und Bludesch personelle Konsequenzen zu ziehen, durch ein weiteres Detail in einem denkbar ungünstigen Licht. In Landeck nämlich untersteht das Bataillon ausgerechnet - seinem Schwager.