Verteilungsbericht 2022: Armut in Deutschland mit neuem Rekordwert
Jeder Achte in Deutschland ist betroffen, auch ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen. Deutlicher Anstieg schon vor der Pandemie, aktuelle Krisen verschärfen die Probleme. Eine Gefahr für die Demokratie?
Die Gesellschaft in Deutschland driftet weiter auseinander: Die Armut steigt an und die Kluft bei den Einkommen wird größer. Das ist keine spontane oder kurzfristige Entwicklung – der Trend ließ sich lange vor der Coronapandemie feststellen und die Spaltung der Gesellschaft entlang der Einkommen erreichte nun einen neuen Rekordwert.
Am Donnerstag stellte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung seinen neuen Verteilungsbericht vor. "Im Jahr 2019 waren so viele Menschen in Deutschland von Armut betroffen wie nie zuvor", konstatierten die Studienautoren Dorothee Spannagel und Aline Zucco.
Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, sei zwischen 2010 und 2019 von 7,9 Prozent auf 11,1 Prozent der Bevölkerung gestiegen, heißt es in dem Bericht.
Deutlich größer wurde die sogenannte Armutslücke, und dieser Befund macht deutlich: Armen Menschen fällt es immer schwerer, der Armut zu entfliehen. Die "Armutslücke" bezeichnet den Betrag, der im Schnitt benötigt wird, um die Armutsschwelle zu erreichen.
Um 60 Prozent des mittleren Einkommens zu erreichen, waren im Jahr 2010 knapp 2.968 Euro nötig. Bis zum Jahr 2019 wuchs der Abstand auf 3.912 Euro an.
Die Entwicklung fand in einer Zeit der wirtschaftlichen Stabilität statt: Die Ökonomie wuchs, die Erwerbslosigkeit sank und auch die mittleren Einkommen nahmen spürbar zu. "Hier zeigt sich, dass die armen Haushalte von diesem Aufschwung nicht profitieren konnten, sondern den Anschluss daran verlieren", schreiben die beiden Autorinnen.
Armut hat viele Gesichter. Schon bevor die Energiepreise in die Höhe schnellten, konnten fünf Prozent der Armen nicht richtig heizen. Nicht selten ist Armut im alltäglichen Leben mit Entbehrungen verbunden – und das schon in wirtschaftlich guten Zeiten. Vor der Coronakrise und der Rekordinflation konnten es sich knapp 14 Prozent der Armen nicht leisten, neue Kleidung zu kaufen. Gut drei Prozent verfügten nicht einmal über zwei Paar Straßenschuhe.
Armut macht sich aber auch in anderen Bereichen bemerkbar: in der Lebenszufriedenheit, Qualität der Gesundheit, Bildung und Qualifikation. Auch hier liegen arme Menschen unter dem Bevölkerungsdurchschnitt.
Nach Einschätzung der WSI-Experten spricht vieles dafür, dass die Coronapandemie und hohe Inflation die Probleme der Armen in den vergangenen Jahren weiter verschärft haben. Die hohe Inflation trifft besonders Familien mit niedrigem Einkommen hart, denn die größten Preistreiber – Strom, Heizung und Lebensmittel – haben bei ihnen einen größeren Anteil an den monatlichen Ausgaben als bei Wohlhabenden.
Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) führte im August 2022 eine Befragung zu den Folgen der steigenden Energiepreise durch. Demnach gaben zwei Drittel der Haushalte mit einem Einkommen von weniger als 2.000 Euro an, sich in ihrem alltäglichen Konsum deutlich einschränken zu müssen. Und immer noch ein Drittel der Haushalte mit einem Einkommen von bis zu 3.500 Euro sah sich demnach gezwungen, Ausgaben für Lebensmittel zu reduzieren.
Diese Entwicklung lässt in der Bevölkerung Frust entstehen und am politischen System zweifeln – und das nicht ohne Grund. Die beiden Studienautoren stellen fest:
Politische Entscheidungen richten sich zunehmend nach den Interessen der reichen Einkommensschichten und übersehen systematisch die Anliegen der armen Bevölkerungsgruppen.
Bis in die Mittelschicht hinein wächst dadurch Zweifel an der bürgerlichen Demokratie und ihren Institutionen. Rund 70 Prozent der Menschen in Deutschland würden "eine zunehmende soziale Spaltung fürchten", heißt es in der Studie.
Besonders gravierend dürfte sich sozio-ökonomische Entwicklung Deutschlands auf junge Menschen auswirken. Knapp ein Viertel der jungen Menschen unter 25 Jahren ist hierzulande armutsgefährdet. Knapp 4,17 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene waren das im vergangenen Jahr, heißt es im "Monitor Jugendarbeit in Deutschland 2022" der am Mittwoch vorgestellt wurde. Herausgegeben hat ihn die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) und er basiert auf der Auswertung von Umfragen.
Die Krisen der letzten Monate hätte diesen Zustand noch verschärft, sagte der Vorstandsvorsitzende der BAG, Stefan Ottersbach, gegenüber dem evangelischen Pressedienst (epd). "68 Prozent der jungen Menschen sorgen sich, mit ihren Familien in Armut leben zu müssen, sich Wohnen und die Lebenshaltungskosten nicht mehr leisten zu können."
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