Verunsicherung bei Big Brother-Gegnern?
Nach den Terrorakten in den USA wird der Ruf nach mehr Überwachung laut erschallen
Ein Bedrohungsszenario steigert üblicherweise das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit. Als kurz nach den Terroranschlägen auf das World-Trade-Center FBI-Agenten die Installierung des Carnivore-Abhörsystems verlangten, gaben etliche US-Provider denn auch kleinlaut nach. Diese Reaktion ist verständlich, doch inzwischen regt sich auch wieder Widerstand gegen die Untergrabung von Bürgerrechten durch Verwanzung von Telekommunikationseinrichtungen. Die Entwicklung adäquater Argumentationslinien ebenso wie die Befürchtungen der Big Brother-Kritiker spiegelt beispielsweise die seit dem Crash intensiv laufende Diskussion in Österreich wider.
Am 12. September gegen 14 Uhr verschickte die österreichische Bürgerrechtsgruppe Quintessenz eine Internet-Depesche. "WTC: Wo schlief die NSA?", lautete der Titel provokant. Der Inhalt allerdings zeugte von jener Verunsicherung, die nach den Terrorakten in den USA wahrscheinlich viele Big Brother-Gegner befallen wird. "Ich sehe ein Argumentationsproblem auf uns zukommen", schrieb der Verfasser der q/depesche und führte weiter aus: "Der WTC-Crash wird unter anderem auch ein Nachspiel auf die Diskussion zur Überwachungsproblematik haben. Ich schreibe hier nicht von unseren Ansichten, sondern nur von dem, was ich in der öffentlichen Diskussion leider erwarte: Eine Verschiebung des öffentlichen Meinungsklimas in Richtung Gutheißung."
Wenig später folgte eine zweite Depesche. "Na bitte...", lautete der resigniert wirkende Kommentar zu Meldungen, die von den verstärkten FBI-Aktivitäten (Ist Verschlüsselung schuld?) bei amerikanischen Providern berichteten. Bereits wenige Stunden nach den Angriffen hatten Sicherheitskräfte etlichen US-Providern einen Besuch abgestattet. Gegenüber Wired gab ein Techniker an, man hätte ihn aufgefordert, das umstrittene Abhörsystem "Carnivore" am Firmennetzwerk zu installieren. Das Portal Yahoo sowie die Provider AOL und Earthlink bestätigten inzwischen die Zusammenarbeit mit dem FBI.
Bürgerrechte versus Sicherheitsbedürfnis
In dieser Ausnahmesituation könnten Bürgerrechte leicht gegenüber dem nachvollziehbar gesteigertem Sicherheitsbedürfnis ins Hintertreffen geraten, befürchten viele Aktivisten. Mundtot wurden die Big Brother-Kritiker allerdings noch nicht gemacht. Im Gegenteil: Nach dem Versand der ersten Quintessenz-Depesche trafen zahlreiche Reaktionen ein. So meldete sich der renommierte österreichische Journalist, Conrad Seidl, vom Standard zu Wort. "Die erste Emotion verleitet sicher dazu, Bürgerrechte geringer zu werten als den hier eingetretenen Verlust tausender Menschenleben", schrieb Seidl. Eine Debatte über die "schlafende" NSA erachte er aber für gefährlich. Vielmehr sollte die Frage gestellt werden, "ob die zu sichernden Systeme 'fehlertoleranter' gemachte werden können, ohne gleich massivere Überwachung einzuführen." Abschließend meinte Seidl noch: "Ich sehe jedenfalls wenig Chancen, die liberale Haltung zu schützen, so lange die Alternative lautet: Dann nimmst du bewusst Tausende Terroropfer in Kauf." Die Befürchtung, dass eine liberale Haltung in der Überwachungsfrage künftig kaum mehr Chancen habe, wurde in vielen Reaktionen geäußert.
Quintessenz sah sich schließlich am Rande seiner Kapazitäten und verwies auf den "befreundeten" IT-News-Channel Futurezone, die ein Diskussionsforum einrichtete. Interessierte versuchten, Argumentationslinien für Big-Brother-Gegner zu entwickeln. Der redaktionelle Leiter der Futurezone, Erich Möchel, von dem kürzlich in Telepolis ein Bericht über die ETSI-Dossiers erschienen ist, meinte, dass der "Ruf nach einer Aufmunitionierung des überwachungsstaatlichen Arsenals mit erheblicher Intensität erschallen dürfte." Seine Gegenargumentation, zitiert im österreichischen "Standard": "Auch mit einer dramatisch schärferen Überwachung wäre der Anschlag nicht zu verhindern gewesen, weil Terroristen, die so präzise vorgehen, sicher nicht über überwachbare Wege kommunizieren."
In Österreich, wo zur Zeit auch eine neue Telekommunikations-Überwachungsverordnung diskutiert wird, werfen die Medien durchgängig die Frage nach Effizienz und Versagen der amerikanischen Geheimdienste auf. Am kritischsten berichtet die ORF-Futurezone. In dem Artikel NSA,CIA, FBI - Hilflos gegen Low-Tech-Terror wird auch David Banisar von Privacy International zitiert. Er sagte, die US-Dienste hätten jahrelang statt Terroristen Journalisten und Oppositionelle überwacht und Milliarden Dollar in Hightech verpulvert. Es sei nun an der Zeit, dass die Dienste, statt sich völlig auf SIGINT (signals intelligence) zu verlassen, erkennen müssten, dass HUMINT (human intelligence) ein ebenso wichtiger Bestandteil der Geheimdienstarbeit sei.