Viel Rau(ch) um nichts?

Der Wahlkampf mit der Ausländerangst

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Wahlkämpfe gewinnen Politiker entweder mit Versprechungen, die hin und wieder eingelöst werden, oder aber mit der Zukunftsangst der Wähler, die in komplexen Gesellschaften immer besser zu provozieren ist. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel vertraut gegenwärtig wohl etwas mehr auf die zweite Variante der Wählerverzauberung, da sie ankündigte, die Zuwanderung zum Wahlkampfthema zu machen. Es gelte zu verhindern, dass der Bürger "populistischen Rattenfängern" nachlaufe, als würde nicht gerade die Ankündigung selbst mit eben dieser Option spielen. Nach dem inszenierten Abstimmungsdebakel im Bundesrat hat Bundespräsident Rau nun das umstrittene Zuwanderungsgesetz mit vertretbaren Gründen unterzeichnet. So könnte das Gesetz am 1. Januar 2003 in Kraft treten, wenn nicht Vertreter der CDU/CSU bereits verkündet hätten, gegen das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen.

Der Bundespräsident hat in seiner Erklärung zur Unterzeichnung diesen Weg auch für besser erachtet, als ihm den schwarzen Peter zuzuschieben, eine verfassungsdogmatisch offene Fragestellung letztgültig zu entscheiden, die durch das von ihm ausdrücklich gerügte Verhalten des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und seines Stellvertreters entstanden ist.

Die Parteien sollten sich weniger mit sich selber beschäftigen. Jenseits von Machterhalt oder Machtgewinnung müssen sie offen sein für die Probleme, die die Menschen tatsächlich bewegen. Die Parteien sollten sich neu und verstärkt darum bemühen, dass sie ihre Verwurzelung in der Gesellschaft nicht verlieren. Der politische Streit zwischen den Parteien darf sein und muss sein. Der Streit darf aber nicht in einer Art und Weise inszeniert werden, wie das am 22. März im Bundesrat geschehen ist.

Bundespräsident Rau

Experten klagten seit Jahren über das Gesetzesgestrüpp des Ausländer- und Asylrechts, das nicht nur auf den Prozessschlachtfeldern einer überforderten Rechtsprechung wuchert, sondern auch den Gang zum Ausländeramt zur Schicksalsfrage werden lässt. Insbesondere Asylverfahren dauern über die Instanzen viele Jahre, selbst der Kampf um eine Aufenthaltsgenehmigung kann im Blick auf die unterbesetzte deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Prozessmarathon ausarten. Eine Vielzahl von Aufenthaltstiteln, oft durch wenig plausible Voraussetzungen voneinander abgegrenzt und Laien fast unvermittelbar, machten Ausländern, Ausländerämtern, Gerichten und Anwälten das Leben in der Vergangenheit schwer.

Das neue Zuwanderungsgesetz zielt zunächst auf eine Vereinfachung der diversen Aufenthaltstitel, die auf zwei eingeschmolzen werden sollen: eine (befristete) Aufenthaltserlaubnis und eine (unbefristete) Niederlassungserlaubnis. Die "Duldung", jenes juristisch hybride Produkt eines zulässigen, aber rechtswidrigen Aufenthalts von Ausländern, wird abgeschafft. Und das wäre alles gut so, wenn sich die alten Probleme nicht sofort wieder in die Erteilungsvoraussetzungen der Aufenthaltstitel einschleichen würden. Das Gesetz, das alles transparenter machen will, mache alles noch komplizierter, sagen seine Gegner. Die komplizierten Vorschriften des gegenwärtigen Ausländergesetzes würden zum großen Teil nahezu unverändert übernommen, meint immerhin auch die Neue Richtervereinigung. Kritikern zufolge ist etwa die neue Erteilung einer "Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung" noch weniger wert als eine Duldung, sodass nun 250.000 bisher geduldete Ausländer endgültig in die Illegalität verräumt würden.

Brisant wird Schilys Gesetz, das insgesamt keine revolutionären Veränderungen gegenüber dem status quo beinhaltet, allein dadurch, dass es einen kühnen Zweck mit einer Reizvokabel belegt:

"Das Gesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland. Es ermöglicht und gestaltet Zuwanderung unter Berücksichtigung der Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland."

Zuwanderung! Was heißt das? Wird Deutschland demnächst von Scharen mehr oder eher weniger qualifizierter Ausländer überschwemmt, die auf Grund ökonomischer Tagesbelange hier arbeiten, um dann auf Generationen, also immerfort zu bleiben? Das ist das politisch gesteuerte Schreckgespenst der Debatte, welches nun im Wahlkampf um die letzten unentschiedenen Wählerprozente auf emotionalen Stimmenfang geschickt wird. Bemerkenswert für die eingetretene Verwirrung ist, dass nun die einen behaupten, die Tore in die Bundesrepublik Deutschland würden demnächst sperrangelweit geöffnet, während die anderen in der Neuregelung eine unerträgliche Verschärfung zu Lasten der Ausländer erkennen. Tertium non datur?

Zur grellen Begleitmusik des Gesetzes werden die westeuropäischen Anstrengungen, die Wohlstandsgrenzen gegen die Migrationsströme dicht zu machen, um die repressive Anwendung des Ausländerrechts durch Ordnungsbehörden in vielen Fällen erst gar nicht nötig zu machen. Insofern könnte die Frage, welche ausländerrechtlichen Regelungen die "Festung Europa" innerhalb ihrer jeweiligen Landesgrenzen trifft, in Zukunft marginal werden. Das Ausländerrecht war ohnehin nie viel mehr als der Versuch, die globalen Effekte der Verteilungsungerechtigkeiten hinter juristischer Kasuistik zu verstecken.

Quadratur des Kreises

Ausländerbeauftragte und Hilfsorganisationen reden von der Einführung eines Zweiklassenrechts, weil die neuen Voraussetzungen für die Niederlassungsvoraussetzungen zu hoch angesetzt würden. Der dauerhafte Aufenthalt für die große Gruppe sozial schwacher Ausländern, die teilweise schon seit Jahren in Deutschland leben, würde fast unmöglich. Diesen Menschen würde die sichere Niederlassungserlaubnis verwehrt.

Nun ist auch das eine Betroffenheitslogik, die schon auf den zweiten Blick nicht mehr einleuchtet. Würde man jedem Ausländer, der zum Zweck der Arbeitsaufnahme oder aus Studienzwecken nach Deutschland einreist, von der ersten Stunde seines Aufenthaltes an ein dauerhaftes Niederlassungsrecht einräumen - unabhängig von Arbeitsbereitschaft, arbeitsmarktpolischen Belangen und ökonomischen Perspektiven der Gesamtgesellschaft -, würden flexible Regelungen im Interesse aller hier lebenden Menschen, Deutschen wie Ausländern, unmöglich. Bei einer gesetzlichen Regelung dieser Art müssten die Erteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis so verschärft werden, dass die Möglichkeit für Arbeit suchende Ausländer, auch ohne besondere berufliche Qualifikation hier zu arbeiten und zu leben, a priori weitgehend demontiert würden. Das träfe schließlich auch solche Ausländer, die lediglich an einem vorüber gehenden Aufenthalt interessiert sind. Die grundsätzliche Differenzierung des Gesetzes zwischen einer zunächst befristeten Aufenthaltserlaubnis und einer dauerhaften Niederlassungserlaubnis ist daher unabdingbar, wenn überhaupt eine sinnvolle Regulierung der Zuwanderung angestrebt wird.

Während der vorliegende Entwurf den deutschen Arbeitsmarkt unter diversen Einschränkungen für ausländische Arbeitnehmer öffnen will, hat Kanzlerkandidat Edmund Stoiber bereits verkündet, im Fall des Machtwechsels ein neues, schärferes Zuwanderungsgesetz zu forcieren. Mit Ausnahme von Spezialisten bestehe kein Bedarf für eine weitere Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt. Nun bleibt nicht nur die Frage, ob die von der Süssmuth-Kommission genannten demografischen Gesichtspunkte, also sichere Renten in einer überalterten Gesellschaft, nicht zukünftig nolens volens andere Lösungen aufdrängen. Auch der vorliegende Entwurf stellt den deutschen Arbeitsmarkt längst nicht zur Disposition, sondern beinhaltet lediglich etwas flexiblere Reaktionsmöglichkeiten, als sie nach der höchst vorläufigen Rhetorik des CDU-Kanzlerkandidaten in dessen Neuregelung zu erwarten wären.

Insgesamt arbeitet sich das Zuwanderungsgesetz an den hinlänglich bekannten Schwierigkeiten ab, die Frage der Integration im Blick auf so disparate Tatbestände wie humanitärer Schutz, deutsch-ausländische Eheschließungen und deutsche Arbeitsmarktinteressen justiziabel zu gestalten. Die Quadratur des Zirkels wird weder hier noch in irgendeiner denkbaren Regelung zu einer eleganten Formel führen. Ohnehin wird in diesen mit heißen Wahlkampfbrei im Mund geführten Diskussionen regelmäßig übersehen, dass unabhängig von der Qualität eines Aufenthaltstitels, ja selbst im Fall illegaler Aufenthalte, sich zu respektierende Bindungen von Ausländern mit Deutschen ergeben, die einen Statuswechsel - etwa vom abgelehnten Asylbewerber zum aufenthaltsberechtigten Ehegatten - eröffnen. Diese soziostrukturell viel nachhaltigeren Effekte mag man begrüßen oder bedauern, Gesetze ändern daran wenig bis gar nichts.

Das Zuwanderungsgesetz wird als höchst bedingtes Steuerungsinstrument auch nicht die ökonomischen Schräglagen ausgleichen, die das relative Interesse bestimmter Ausländergruppen begründet, in Deutschland menschenwürdiger als in ihrer Heimat zu leben. Fraglos gibt es den Missbrauch des auf staatliche Verfolgung zugeschnittenen Asylrechts und auch die Zweckentfremdung ausländerrechtlicher Erlaubnistatbestände wie etwa im Fall von Scheinehen. Aber diese Verhaltensweisen werden nur zu plausibel, wenn der unhintergehbare Anspruch eines Menschen auf sein Glück sich nicht von nationalen Wohlstandsschranken aufhalten lassen will, die Industriestaaten und ihre Gesellschaften auf dem Rücken von Billiglohnarbeitern und Kindersklaven mindestens mithelfen zu errichten. Wer das Elend vor der Tür nicht bekämpft, bei dem klopft das Elend an und wartet nicht wie bei einer Mainzer Karnevalsveranstaltung darauf, im Klatschmarsch hereingelassen werden.

Die vom Gesetz geförderte Integration ist ein hohes Ziel, das eben nicht normiert, sondern allein von Menschen angestrebt werden kann. Dass der im Entwurf vorgesehene Integrationskurs, der sicher auch für viele Deutsche mit Gewinn zu belegen wäre, allein nicht ausreicht, die Formen verträglichen Miteinanders zu prägen, dürfte dabei unstreitig sein. Das soziokulturelle Klima kann nicht dekretiert werden, sondern ist von gesellschaftlichen und staatlichen Anstrengungen abhängig, die erheblich komplexer sind, als es der Stimmenfang von Parteipolitikern verträgt. Wer links- wie rechtspopulistisches Wahlkampfgetöse vorzieht, um differenzierte Abwägungen auf stramme Lösungen hin zu trimmen, erläutert damit seine Vorstellungen einer deutschen Leitkultur nicht nur für Deutsche, sondern auch für integrationswillige Ausländer, auf das Vorzüglichste.