Viren aus dem Putenstall

Seite 2: Viren vom Menschen und vom Geflügel - auch Schweine infizieren sich

Die nächsten Verwandten aller acht Genom-Abschnitte von H1N1 in Schweinen stammen aus unterschiedlichsten Weltregionen. Im Tierorganismus tauschen die Viren untereinander ihr Erbmaterial aus. Auf diese Weise werde ein Viren-Cocktail zusammen gemischt, aus dem neue gefährliche pandemische Viren entstehen - so wie bei der Schweinegrippe (H1N1) im Jahr 2009.

Das damals auslösende Virus enthielt Gene von Viren, die bei Menschen, Schweinen und Vögeln vorkamen. Diese Viren müssen sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in Schweinen in Mittelamerika getroffen haben, ist Zoonosen-Experte Timm Harder überzeugt. Die so entstandene Variante habe sich schließlich von Mensch zu Mensch weiter verbreitet.

Hohe Tierdichten begünstigen Virenkrankheiten

Bei H1N1 und allen weiteren humanspezifischen Influenza-Viren handelt es sich um Folgeschäden industrieller Fleischproduktion, schreibt der Autor Rob Wallace in seinem Buch. Denn hier werde Gleichgewicht zwischen Mikroben und Säugetieren fortlaufend zerstört.

Dabei scheint die Agrarbranche keine Probleme damit zu haben, das Risiko einzugehen und sich selber zu schädigen, solange die Herstellung der Güter immer billiger wird. Innerhalb der letzten fünzehn Jahre industrieller Tierhaltungen ist eine noch nie dagewesene Anzahl von Influenza-Varianten entstanden, die auch Menschen besiedeln können.

Neben den bekannten Typen H5N1, H5N2, H1N1, H7N1, H7N7, H9N2 gibt es möglicherweise auch bereits einige H6-Serotypen.

Alle Bemühungen, die pathogene Vogelgrippe einzudämmen, habe die virale Vielfalt und deren Widerstandskraft noch erhöht. Wallace zufolge werden Impfungen und Medikamente gegen Influenza, HIV, Tuberkulose und Malaria "langfristig versagen".

Denn diese "holistischen" Krankheiten entwickeln sich über große zeitliche Entfernungen hinweg über vielfältige Wirte und Übertragungswege. Werden sie auf einer Ebene angegriffen, weichen sie auf einer anderen aus. Sie passen sich an und lassen Bekämpfungsmaßnahmen ins Leere laufen.

Die Erhaltung der Artenvielfalt schützt Mensch und Natur

Der Weg vom so genannten Spillover bis zur Pandemie ist ein längerer Prozess, weiß Matthias Becker in einem Telepolis-Artikel vom Mai 2021: Warum nehmen die Zoonosen zu?. Zunächst wandern die Erreger einige Zeit zwischen Menschen und Tieren hin und her, bis sie die Fähigkeit entwickeln, sich in menschlichen Zellen zu reproduzieren.

Um die Artenschranke zu überwinden, klettern die Viren Stufe um Stufe nach oben. In artenreichen Habitaten jedoch stoßen sie häufiger auf Tiere, an die sie nicht angepasst sind. Eine hohe Biodiversität "verdünnt" gewissermaßen die Übertragungskette.

In einem Agrarsystem, in dem Nutztiere und Nutzpflanzen getrennt sind und in dem sich eine hohe Tierzahl derselben Art räumlich konzentriert, werden sinnvolle landwirtschaftliche Nährstoff- und Energiekreisläufe zerrissen. Weil sich Schweine, Hühner und Rinder in der intensiven Viehzucht nicht vor Ort vermehren, können sich die Immunsysteme der nächsten Generation nicht an die Erreger anpassen.

Denn die Erbanlagen der Tiere sind weitgehend "monotypisch". Haben Viren und Bakterien einmal die Immunschranke überwunden, springen sie nahezu mühelos von Tier zu Tier.

Nur wenn sich Tiere am selben Ort fortpflanzen, können sie ihre Immungenetik, die vorher bereits durch Krankheitserreger "getestet" wurde, an die nächste Generation weitergeben. Viren und Bakterien mit zoonotischem Potenzial werden sich also in modernen industriellen Tierhaltungsanlagen künftig weiter vermehren.

Was also ist zu tun? Eine hohe Vielfalt an Nutztierrassen - Geflügel, Schweinen, Rindern - und eine hohe Diversität an Nutzpflanzen kann dabei helfen, Krankheiten einzudämmen. Würden über Renaturierung und andere agraökologische Maßnahmen "immunologische Brandscheisen" errichtet, bekäme auch der Begriff "Biosicherheit" wieder eine völlig neue Bedeutung.