Völkerrechtliche Perspektiven auf die Situation der Uiguren in China

Inhaftierte Uiguren in einem Umerziehungslager (Dies ist das einzige Foto das bisher in die Öffentlichkeit gelangte). Bild: uyghur_nur / Twitter

UN-Hochkommissariat sieht Menschenrechtslage in Xinjiang kritisch. Chinas Vorgehen stehen zur Debatte. Was sagen Völkerrecht und UNO? Eine Analyse in drei Teilen. (Teil 2)

Ende Oktober 2021 veröffentlichte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte den von Hochkommissarin Michelle Bachelet verfassten Report mit dem Titel "OHCHR Bewertung der Menschenrechtslage in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang, Volksrepublik China". Der Bericht datiert vom 31. August 2021, wurde aber erst am letzten Tag ihrer Amtszeit Ende Oktober 2021 veröffentlicht, was dafür spricht, dass es Unstimmigkeiten über den Inhalt gegeben haben mag.

Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es insbesondere im Zeitraum 2017 bis 2019 während der Antiterrormaßnahmen der chinesischen Regierung zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen sei1:

Die Informationen, die dem OHCHR derzeit über die Umsetzung des von der Regierung erklärten Kampfes gegen Terrorismus und "Extremismus" in der XUAR (Autonome Region Xinjiang) im Zeitraum 20172019 und möglicherweise auch danach vorliegen, geben auch aus der Perspektive des internationalen Strafrechts Anlass zu Bedenken.

Das Ausmaß der willkürlichen und diskriminierenden Inhaftierung von Angehörigen der Uiguren und anderer überwiegend muslimischer Gruppen gemäß den Gesetzen und der Politik im Zusammenhang mit den Einschränkungen und dem generellen Entzug von Grundrechten, die individuell und kollektiv genossen werden, kann internationale Verbrechen, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darstellen.

Der Bericht beschränkt sich ausdrücklich auf den Zeitraum 2017–2019, da der Kommission offensichtlich für die Zeit danach keine vergleichbaren Erkenntnisse vorlagen. Schon am 10. August 2018 hatte der UN-Ausschuss über die Beseitigung rassischer Diskriminierung (Cerd) einen Bericht vorgelegt, der von Reuters mit der Schlagzeile angekündigt wurde:

Die UN sagt, sie habe glaubwürdige Berichte, dass China eine Million Uiguren in geheimen Lagern hält.

Seitdem geistert diese Zahl immer wieder durch die Medien. Abgesehen davon, dass der Ausschuss nicht die Uno, sondern ein Gremium unabhängiger Experten ist, stellte sich heraus, dass es sich in dem Report um eine Erwähnung der "Umerziehungslager" handelte, die einzig die US-Amerikanerin in dem Gremium, Gay McDougall, ohne Quellenangabe gemacht hatte, und der sich lediglich ein Vertreter Mauretaniens angeschlossen hatte. Die Reaktion der chinesischen Regierung auf den Bericht von Michelle Bachelet war eindeutig und negativ.

In einer Verbalnote weist sie die Vorwürfe des OCHCR-Berichts zurück und beschuldigt die Kommission, ihr Mandat zu verletzen und die menschenrechtlichen Fortschritte, die die ethnischen Minderheiten in Xinjiang gemeinsam mit der Regierung der Volksrepublik gemacht hätten, sowie den jahrelangen Kampf gegen den Terrorismus, nicht zu berücksichtigen.

Sie fügte zugleich eine umfangreiche Dokumentation über das Ausmaß des Terrorismus in der Region und den Kampf dagegen an.

Der Antiterrorkampf

Bei allen Vorwürfen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit/Menschheit und des Völkermords wird das Problem des Terrorismus in der Region in den westlichen Medien heruntergespielt und allenfalls am Rande erwähnt.

Es ist allerdings notwendig, einen Blick auf die besonderen Sicherheitsprobleme in Xinjiang zu werfen, um das Ausmaß und die Qualität der Inhaftierungen und Freiheitsbeschränkungen einschätzen zu können. Aufstände zur Schaffung eines unabhängigen Staates reichen bis in die Zeit nach der chinesischen Revolution 1911 zurück.

In den Jahren seit 1930 verfolgten sie die Gründung eines islamischen Gottesstaates und proklamierten 1933 in Kashgar im Süden Xinjiangs die Republik Ostturkestan.

Norman Paech ist Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik und der Universität Hamburg i.R.

Damals gelang es nur mit sowjetischer Hilfe, den Aufstand niederzuschlagen. Seit den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts haben zahlreiche Anschläge und gewalttätige Unruhen auf zwei Probleme in der Region hingewiesen: zum einen die Radikalisierung fundamentalistischer Muslime und zum anderen die Separationspläne uigurischer Nationalisten.

Insbesondere unter dem Einfluss der islamischen Nachbarstaaten Afghanistan und Pakistan hat sich ein Gewaltpotenzial entwickelt, welches zum Teil von den Taliban ausgebildet wurde und mit Al-Qaida verbunden, Terroranschläge mit hunderten Toten nicht nur in Xinjiang, sondern bis nach Peking zu verantworten hat.

Es ist daran zu erinnern, dass die US-Truppen seinerzeit in Afghanistan Uiguren bei den Taliban aufgegriffen und als Terroristen nach Guantánamo gebracht haben. Dort wurden sie erst vor ein paar Jahren ohne Gerichtsverhandlung freigelassen.

Bekannt geworden sind Bombenanschläge von 1992, 1993, 1997 und 1998 in Urumqi mit zahlreichen Toten.2 Die Süddeutsche Zeitung berichtete von über 200 Terroranschlägen mit 162 Todesopfern zwischen 1990 und 2001 (25.11.2019). Die chinesischen Gegenmaßnahmen vermochten den Terror nur vorübergehend einzudämmen. Doch am 9. Juli 2009 machte ein blutiges Massaker in der Hauptstadt von Xinjiang Urumqi deutlich, dass die separatistischen Kräfte offensichtlich nicht mit den herkömmlichen polizeilichen und militärischen Mitteln zu befrieden sind.

Über tausend Uiguren hatten mit Messern und Stöcken Polizisten und Han-Chinesen angegriffen, Fahrzeuge, Geschäfte und Wohngebäude geplündert und in Brand gesetzt. 197 Menschen kamen dabei ums Leben, davon 134 Han-Chinesen. Es wird vermutet, dass bei diesem Pogrom auch die Diaspora der Exil-Uiguren eine Rolle gespielt hat (Kronauer 2019a, 3).

Die bei der Universität von Maryland bei Washington geführte Global Terrorism Database verzeichnet für die Zeit danach verstärkte Attentate und terroristische Anschläge, die bis auf den Tiananmen-Platz in Peking reichten, wo am 28. Oktober 2013 drei Uiguren mit einem SUV in eine Menschenmenge fuhren, zwei Passanten töteten und 38 verletzten.

Schon vorher waren 2011 und 2012 in Kashgar vor allem Han-Chinesen angegriffen und getötet oder verletzt worden. Einen blutigen Höhepunkt fand diese Serie am 1. März 2014, als uigurische Dschihadisten außerhalb Xinjiangs in der Provinzhauptstadt von Yunan Kunming 31 Menschen abschlachteten und 141 verletzten, was seitdem als Chinas "9/11" in die Terrorgeschichte eingegangen ist.

Von Guantánamo bis Xinjiang

Ein Terrorexperte von der Nanyang Technological University in Singapur, Rohan Gunaratna, sagte nach dem Massaker in Kunming3:

Ich würde schätzen, dass es in den vergangenen zwölf Monaten mehr als 200 Anschläge gegeben hat, vielleicht sogar mehr.

Michael Clarke von der Australien National University in Canberra geht von mindestens zehn bewaffneten radikalislamischen Uiguren Gruppen aus, die Xinjiang von der chinesischen Herrschaft befreien wollen (vgl. Scheben 2021). Der chinesische Minister für Sicherheit spricht sogar von zwölf separatistischen Bewegungen noch in den Neunzigerjahren (vgl. Heberer/Schmidt Glinzer 2023).

Ihre Verbindungen gingen in die Türkei und zu einschlägigen Organisationen in den Nachbarstaaten Afghanistan, Pakistan und Tadschikistan, wo sie sich später den islamistischen Gruppen wie IS, Al-Qaida, Nusra-Front und Taliban anschlossen. Von dort aus verübten sie Anschläge in Xinjiang und rekrutierten junge Kämpfer.