Völkerrechtliche Perspektiven auf die Situation der Uiguren in China

Inhaftierte Uiguren in einem Umerziehungslager (Dies ist das einzige Foto das bisher in die Öffentlichkeit gelangte). Bild: uyghur_nur / Twitter

UN-Hochkommissariat sieht Menschenrechtslage in Xinjiang kritisch. Chinas Vorgehen stehen zur Debatte. Was sagen Völkerrecht und UNO? Eine Analyse in drei Teilen. (Teil 2)

Ende Oktober 2021 veröffentlichte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte den von Hochkommissarin Michelle Bachelet verfassten Report mit dem Titel "OHCHR Bewertung der Menschenrechtslage in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang, Volksrepublik China". Der Bericht datiert vom 31. August 2021, wurde aber erst am letzten Tag ihrer Amtszeit Ende Oktober 2021 veröffentlicht, was dafür spricht, dass es Unstimmigkeiten über den Inhalt gegeben haben mag.

Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es insbesondere im Zeitraum 2017 bis 2019 während der Antiterrormaßnahmen der chinesischen Regierung zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen sei1:

Die Informationen, die dem OHCHR derzeit über die Umsetzung des von der Regierung erklärten Kampfes gegen Terrorismus und "Extremismus" in der XUAR (Autonome Region Xinjiang) im Zeitraum 20172019 und möglicherweise auch danach vorliegen, geben auch aus der Perspektive des internationalen Strafrechts Anlass zu Bedenken.

Das Ausmaß der willkürlichen und diskriminierenden Inhaftierung von Angehörigen der Uiguren und anderer überwiegend muslimischer Gruppen gemäß den Gesetzen und der Politik im Zusammenhang mit den Einschränkungen und dem generellen Entzug von Grundrechten, die individuell und kollektiv genossen werden, kann internationale Verbrechen, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darstellen.

Der Bericht beschränkt sich ausdrücklich auf den Zeitraum 2017–2019, da der Kommission offensichtlich für die Zeit danach keine vergleichbaren Erkenntnisse vorlagen. Schon am 10. August 2018 hatte der UN-Ausschuss über die Beseitigung rassischer Diskriminierung (Cerd) einen Bericht vorgelegt, der von Reuters mit der Schlagzeile angekündigt wurde:

Die UN sagt, sie habe glaubwürdige Berichte, dass China eine Million Uiguren in geheimen Lagern hält.

Seitdem geistert diese Zahl immer wieder durch die Medien. Abgesehen davon, dass der Ausschuss nicht die Uno, sondern ein Gremium unabhängiger Experten ist, stellte sich heraus, dass es sich in dem Report um eine Erwähnung der "Umerziehungslager" handelte, die einzig die US-Amerikanerin in dem Gremium, Gay McDougall, ohne Quellenangabe gemacht hatte, und der sich lediglich ein Vertreter Mauretaniens angeschlossen hatte. Die Reaktion der chinesischen Regierung auf den Bericht von Michelle Bachelet war eindeutig und negativ.

In einer Verbalnote weist sie die Vorwürfe des OCHCR-Berichts zurück und beschuldigt die Kommission, ihr Mandat zu verletzen und die menschenrechtlichen Fortschritte, die die ethnischen Minderheiten in Xinjiang gemeinsam mit der Regierung der Volksrepublik gemacht hätten, sowie den jahrelangen Kampf gegen den Terrorismus, nicht zu berücksichtigen.

Sie fügte zugleich eine umfangreiche Dokumentation über das Ausmaß des Terrorismus in der Region und den Kampf dagegen an.

Der Antiterrorkampf

Bei allen Vorwürfen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit/Menschheit und des Völkermords wird das Problem des Terrorismus in der Region in den westlichen Medien heruntergespielt und allenfalls am Rande erwähnt.

Es ist allerdings notwendig, einen Blick auf die besonderen Sicherheitsprobleme in Xinjiang zu werfen, um das Ausmaß und die Qualität der Inhaftierungen und Freiheitsbeschränkungen einschätzen zu können. Aufstände zur Schaffung eines unabhängigen Staates reichen bis in die Zeit nach der chinesischen Revolution 1911 zurück.

In den Jahren seit 1930 verfolgten sie die Gründung eines islamischen Gottesstaates und proklamierten 1933 in Kashgar im Süden Xinjiangs die Republik Ostturkestan.

Norman Paech ist Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik und der Universität Hamburg i.R.

Damals gelang es nur mit sowjetischer Hilfe, den Aufstand niederzuschlagen. Seit den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts haben zahlreiche Anschläge und gewalttätige Unruhen auf zwei Probleme in der Region hingewiesen: zum einen die Radikalisierung fundamentalistischer Muslime und zum anderen die Separationspläne uigurischer Nationalisten.

Insbesondere unter dem Einfluss der islamischen Nachbarstaaten Afghanistan und Pakistan hat sich ein Gewaltpotenzial entwickelt, welches zum Teil von den Taliban ausgebildet wurde und mit Al-Qaida verbunden, Terroranschläge mit hunderten Toten nicht nur in Xinjiang, sondern bis nach Peking zu verantworten hat.

Es ist daran zu erinnern, dass die US-Truppen seinerzeit in Afghanistan Uiguren bei den Taliban aufgegriffen und als Terroristen nach Guantánamo gebracht haben. Dort wurden sie erst vor ein paar Jahren ohne Gerichtsverhandlung freigelassen.

Bekannt geworden sind Bombenanschläge von 1992, 1993, 1997 und 1998 in Urumqi mit zahlreichen Toten.2 Die Süddeutsche Zeitung berichtete von über 200 Terroranschlägen mit 162 Todesopfern zwischen 1990 und 2001 (25.11.2019). Die chinesischen Gegenmaßnahmen vermochten den Terror nur vorübergehend einzudämmen. Doch am 9. Juli 2009 machte ein blutiges Massaker in der Hauptstadt von Xinjiang Urumqi deutlich, dass die separatistischen Kräfte offensichtlich nicht mit den herkömmlichen polizeilichen und militärischen Mitteln zu befrieden sind.

Über tausend Uiguren hatten mit Messern und Stöcken Polizisten und Han-Chinesen angegriffen, Fahrzeuge, Geschäfte und Wohngebäude geplündert und in Brand gesetzt. 197 Menschen kamen dabei ums Leben, davon 134 Han-Chinesen. Es wird vermutet, dass bei diesem Pogrom auch die Diaspora der Exil-Uiguren eine Rolle gespielt hat (Kronauer 2019a, 3).

Die bei der Universität von Maryland bei Washington geführte Global Terrorism Database verzeichnet für die Zeit danach verstärkte Attentate und terroristische Anschläge, die bis auf den Tiananmen-Platz in Peking reichten, wo am 28. Oktober 2013 drei Uiguren mit einem SUV in eine Menschenmenge fuhren, zwei Passanten töteten und 38 verletzten.

Schon vorher waren 2011 und 2012 in Kashgar vor allem Han-Chinesen angegriffen und getötet oder verletzt worden. Einen blutigen Höhepunkt fand diese Serie am 1. März 2014, als uigurische Dschihadisten außerhalb Xinjiangs in der Provinzhauptstadt von Yunan Kunming 31 Menschen abschlachteten und 141 verletzten, was seitdem als Chinas "9/11" in die Terrorgeschichte eingegangen ist.

Von Guantánamo bis Xinjiang

Ein Terrorexperte von der Nanyang Technological University in Singapur, Rohan Gunaratna, sagte nach dem Massaker in Kunming3:

Ich würde schätzen, dass es in den vergangenen zwölf Monaten mehr als 200 Anschläge gegeben hat, vielleicht sogar mehr.

Michael Clarke von der Australien National University in Canberra geht von mindestens zehn bewaffneten radikalislamischen Uiguren Gruppen aus, die Xinjiang von der chinesischen Herrschaft befreien wollen (vgl. Scheben 2021). Der chinesische Minister für Sicherheit spricht sogar von zwölf separatistischen Bewegungen noch in den Neunzigerjahren (vgl. Heberer/Schmidt Glinzer 2023).

Ihre Verbindungen gingen in die Türkei und zu einschlägigen Organisationen in den Nachbarstaaten Afghanistan, Pakistan und Tadschikistan, wo sie sich später den islamistischen Gruppen wie IS, Al-Qaida, Nusra-Front und Taliban anschlossen. Von dort aus verübten sie Anschläge in Xinjiang und rekrutierten junge Kämpfer.

Chinas umstrittene Antiterror-Maßnahmen: Ein kritischer Blick

Als Reaktion auf diese Serie wurde zunächst 2003 die Antiterrorismuskampagne "Hart zuschlagen" und nach weiteren Unruhen 2009 im Jahr 2015 von der Zentralregierung in Peking ein Antiterrorgesetz für Xinjiang beschlossen, welches das Autonome Gebiet 2016 mit eigenen Antiterrorregelungen ergänzt hat.

In der Folge wurden die kritisierten Umerziehungslager oder Deradikalisierungszentren eingerichtet, die allerdings 2019 wieder aufgelöst wurden. Dies wird auch von dem schärfsten Kritiker Adrian Zenz eingeräumt. Nicht unberücksichtigt bleiben darf dabei aber die Verbindung uigurischer Dschihadisten zum Ausland.

Aufdeckung der Umerziehungslager: Zwischen Propaganda und Realität

Sie beschränkt sich nicht nur auf die Ausbildung durch die Taliban, sondern besteht auch in gemeinsamen Kampfeinsätzen im Norden Afghanistans und an der Seite von IS und Al-Qaida-Kämpfern in Syrien, Südostasien und Libyen.

Derzeit sollen mehrere tausend Uiguren noch in Idlib/Syrien gemeinsam mit der Nusra-Front gegen die Regierung in Damaskus kämpfen (vgl. Sydow 2019). Erst im Jahr 2014 wurden die letzten drei von insgesamt 17 Uiguren, die die US-Armee in Afghanistan bei den Taliban als Terroristen gefangen genommen hatten, aus Guantánamo entlassen.

Sollten alle diese versprengten Söldner eines Tages zurück nach Xinjiang kommen, würde das die Sicherheitsprobleme zweifellos erhöhen.

Insgesamt zeigen bereits diese unvollständigen Daten, dass sich die chinesischen Behörden über die Jahre mit einem erheblichen Terrorproblem vorwiegend in Xinjiang auseinanderzusetzen hatten und dabei auch polizeiliche und militärische Gewalt anwenden mussten.

Die Rede von der "systematischen Internierung einer ganzen ethnoreligiösen Minderheit", die vom Ausmaß her "vermutlich die größte seit dem Holocaust" sei, wie Adrian Zenz zitiert wird, ist m. E. jedoch ohne reale Grundlage und im Vergleich vollkommen deplatziert.

Aus dem Antiterrorkampf der USA in Afghanistan und Irak wissen wir über die massiven Menschenrechtsverstöße, die sich durch die Misshandlung der Gefangenen in Lagern wie Guantánamo, Abu Ghraib und Bagram ergeben haben.

Es ist nicht auszuschließen, dass sich solche Probleme auch in den Deeskalierungszentren in Xinjiang zugetragen haben. Für die Gegenwart halte ich allerdings aufgrund unserer Gespräche in der Akademie der Sozialwissenschaften in Urumqi und mit der Parteiführung von Xinjiang die weitere Existenz solcher Zentren und Lager für sehr unwahrscheinlich.

Der seit Dezember 2021 neu amtierende Parteisekretär Ma Xingrui räumte Willkürmaßnahmen während des Antiterrorkampfes ein, betonte jedoch, dass es nun um eine rasche Rückkehr zur Normalität ginge. Das Rechtsbewusstsein und die Sicherheit rechtlicher Verfahren müsse gestärkt werden, um das allgemeine Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtmäßigkeit staatlichen Handeln wiederzugewinnen.

Die Minderheiten-Politik – ein zweischneidiges Schwert

Ein weiterer Aspekt, der für die Beurteilung der Vorwürfe wesentlich ist, ergibt sich aus der Politik Chinas gegenüber den zahlreichen ethnischen Minderheiten. China umfasst 56 Nationalitäten. Neben der ethnischen Mehrheit der Han-Chinesen gibt es 55 ethnische Minoritäten mit einem Bevölkerungsanteil von 8,5 Prozent mit elf geschriebenen Sprachen. Die "autonomen Gebiete" der ethnischen Minoritäten, zu denen auch Xinjiang gehört, bemessen fast zwei Drittel der gesamten chinesischen Oberfläche.

Es sind vorwiegend Grenzgebiete mit außerordentlich reichen Ressourcen aber erheblichem Entwicklungsrückstand gegenüber dem östlichen, an die Küste grenzenden Kerngebiet. Es ist jedoch nicht nur dieser Rückstand, der durch umfangreiche ökonomische und soziale Programme überwunden werden muss, sondern auch die historisch auf die imperiale Kaiserzeit zurückreichende vertikale Kluft zwischen den Han und den tributpflichtigen "unzivilisierten Barbaren".4

Von der Seidenstraße zur Industriemacht: Xinjiangs Wandel

Ein angebliches Regierungsdokument von 2017, welches 2019 mit der Bezeichnung "China Cables" in den Westen gelang, enthüllt, dass das Berufsbildungs- und Trainingsprogramm, das heißt, die Umerziehung der Uiguren und der anderen muslimischen Minderheiten in Xinjiang, eng verknüpft war mit der Aufgabe zu disziplinieren, zivilisieren und in städtische Gebiete umzusiedeln.

Es geht dabei um industrielle Disziplin, Selbstdisziplin und zivilisierten Umgang im täglichen Leben, die das Benehmen, die Gewohnheiten und die Hygiene der ethnischen Bevölkerung verändern sollen, wozu auch das Erlernen der chinesischen Sprache, des Mandarin, gehört. Das kann man als rigorose Assimilierungspolitik bezeichnen, hat aber vor allem das Ziel, die Armut zu bekämpfen und den Lebensstandard der überwiegend ländlichen Bevölkerung zu verbessern.

Rechtsstaatlichkeit und Völkermordvorwurf: die juristische Analyse

Ökonomische Vernachlässigung, Erwerbslosigkeit der Uiguren und die anhaltende Immigration der Han waren zweifellos wesentliche Faktoren für die ethnischen Spannungen in Xinjiang schon seit dem Ende der 90er-Jahre. Durch die anschließende Zeit der Unruhen wurden die Spannungen nur noch verschärft. Das musste die Partei in den Griff bekommen, um der dortigen Bevölkerung ein Umfeld zu schaffen, in dem sich das Individuum und die Gesellschaft entfalten kann.

Das Mittel dazu war, die große Masse der ländlichen Arbeitslosen in produktive Arbeitskräfte in der Industrie zu verwandeln. So wurden in Xinjiang seit 2016 1,4 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen. Von 2014 bis 2019 stieg die Zahl der Beschäftigten um 2 Mio. Die Gesundheitsversorgung wird staatlich subventioniert.

Der Kampf gegen den Analphabetismus wurde durch bildungspolitische Maßnahmen wie die Einführung von 15 Jahren kostenloser Kindergarten, Schul- und Berufsausbildung in Süd-Xinjiang, die auch in den Norden ausgeweitet werden soll, und die Einrichtung von Internaten zu einem weiteren Schwerpunkt der Entwicklungsanstrengungen (vgl. Heberer/ Schmidt Glintzer 2023).

Unterricht ist in den Pflichtschuljahren zweigleisig. In der Grundschule sind manche Fächer in Uigurisch. In der Unterstufe der Mittelschule ist Mandarin Hauptsprache. In der Oberstufe nur noch fakultativ.

Bildung und Entwicklung: Schlüssel zum Erfolg in Xinjiang

Laut Angaben des Ministeriums für Erziehung wuchs der Anteil der Schüler, die die Oberschule besuchten, in den uigurisch dominierten Teilen Xinjiangs in fünf Jahren von 38 Prozent auf 84 Prozent. 2019 waren es bereits 98,82 Prozent für die Provinz insgesamt. Mehr als 46 Prozent der 18- bis 22-Jährigen verfolgten ein Studium, eine Zahl, die sich seit 2010 verdoppelt hat (vgl. Bücklers 2021).

Bemerkenswert ist die Entwicklungshilfe durch andere, wohlhabendere chinesische Provinzen, die Investitionen in Industrie, Landwirtschaft, Dienstleistung und Ausbildung tätigen und damit Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Uigurinnen und Uiguren schaffen. Dazu gehören etwa die neuen Berufsausbildungszentren in jedem Landkreis in Xinjiang.

Wir besichtigten das Zentrum in Kashgar mit ca. 10.000 Auszubildenden, welches von der Provinz Guangdong großzügig unterstützt wurde. Hier werden insgesamt 22 Fächer angeboten, von Informationstechnik, Maschinenbau und Lebensmittelproduktion bis zu Mode und Tourismus. Die Ausbildung ist kostenfrei, und obendrein erhalten die Jugendlichen 200 Yuan (ca. 26,30 Euro) monatlich zur Unterstützung ihrer Eltern.

Das ist zweifellos ein starker Anreiz, die Kinder zur Ausbildung zu schicken. Zudem eröffnet dies Angehörigen anderer ethnischer Minderheiten und vor allem jungen Frauen die Möglichkeit, eine kostenlose Berufsausbildung zu erhalten.

Die Zukunft Xinjiangs: Herausforderungen und Chancen

Eine uigurische Managerin, die ein privates Modeunternehmen leitet, in dem Frauen aus der unmittelbaren Umgebung Kleidung herstellen, erklärte, dass die Miete für das staatliche Grundstück prozentual an den Gewinn ihres Unternehmens angepasst sei, sie durch die Mietkosten also nie ins Defizit getrieben werden könne.

Zu der Unterstützung der Entwicklung gehört auch ein Programm der Zentralregierung, welches seit 1997 regelmäßig Fachkräfte aus etwa 120 zentralen Departments und Organisationen in die Region entsendet. Sie sind spezialisiert in den Bereichen Erziehung, medizinische Versorgung, Wissenschaft, Recht und Technologie sowie Kultur und Tourismus.

Über 60 Prozent sind in den technischen Disziplinen und auf Unternehmensmanagement spezialisiert. Bisher sollen über 20.000 solcher Fachkräfte in ganz Xinjiang eingesetzt worden sein. Kurz nach unserer Reise, im Juni 2023 waren wieder 600 Fachkräfte für einen dreijährigen Einsatz in Xinjiang angekommen.

Zweifellos verfolgt dieses Programm auch die stärkere Integration der unruhigen Provinz in die nationale chinesische Einheit, doch sollte man den Wert der Unterstützung für die Entwicklung dieser Region nicht unterschätzen.

Abschlussbetrachtung: Die komplexe Realität Xinjiangs

Die erhobenen Vorwürfe konzentrieren sich auf die Straftatbestände der Artikel 6 und 7 Römisches Statut (RSt) vom 17. Juli 1998, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Art. 6 und 7 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) v. 26. Juni 2002 weitgehend inhaltsgleich in das deutsche Strafrecht übernommen worden sind. Hier geht es um Maßnahmen, die sich gegen einzelne individuelle Personen richten können, aber kollektiv auf eine Gruppe oder generell die Zivilbevölkerung zielen.

Art. 6 RSt zählt folgende Tathandlungen auf, die hier vorliegen könnten:

a) Im Sinne dieses Statuts bedeutet "Völkermord" jede der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören […];

b) Verursachung von schweren körpe lichen oder seelischen Schäden an Mitgliedern der Gruppe;

c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;

d) Verhängung von Maßnahmen, die auf der Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind.

Die Uiguren sind zweifellos eine durch Art. 6 RSt geschützte Personengruppe (ca. 12,7 Mio. Uiguren von insgesamt ca. 21 Mio. Einwohnern). Unter "schweren körperlichen oder seelischen Schäden" gelten in der Rechtsprechung "Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Verfolgung sowie Handlungen sexueller Gewalt, Vergewaltigung, Verstümmelung und Vernehmungen, die mit Schlägen und/oder Todesdrohungen einhergehen" (Ambos 2008, II 137).

Die Schäden müssen folglich so schwer sein, dass sie die Gefahr der teilweisen oder völligen Zerstörung der Gruppe zur Folge haben. Allerdings muss die Zerstörung nicht eingetreten sein. Der Wortlaut des Artikels spricht nur von der "Verursachung" der Schäden und der "Absicht" der Zerstörung, die aber bisher nicht eingetreten sein muss.

Die Realität der Umerziehungslager: Untersuchung der Vorwürfe

Gehen wir davon aus, dass es überprüfbare Berichte über einzelne Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang gibt, so leiden jedoch alle Berichte über die sog. Umerziehungs- bzw. Internierungslager an seriösem Daten und Beweismaterial. Fotos und Satellitenaufnahmen von Gebäudekomplexen hinter hohen Mauern mussten wiederholt als falsche oder untaugliche Beweise zurückgezogen werden.

Amnesty International versah ihren Bericht mit der Überschrift "Im Land der unsichtbaren Lager", in dem der Korrespondent der Berliner taz Felix Lee schrieb, dass er von Umerziehungslagern zwar nichts finden konnte, aber man wisse von "Zeugenaussagen", dass es "Gehirnwäsche und Folter" gebe (vgl. Scheben 2021).

Alle Zahlen von Internierten bis zu einer Million Insassen in den Lagern beruhen auf hochgerechneten Schätzungen, die zwar überall in den Medien kolportiert werden, aber über keinen Nachweis ihrer Zuverlässigkeit für eine juristische Verwertbarkeit verfügen. Sie stammen von dem Netzwerk Chinese Human Rights Defenders.

Seine Befragungen in einzelnen Dörfern können kaum als seriöse Untersuchungen gewertet werden (vgl. Behrens 2021b, 7). Soweit sie auf den Aussagen von im Ausland lebenden Uiguren beruhen, handelt es sich um ungeprüfte Zweitinformationen mit ebenfalls mangelndem juristischem Wert.

Das Gleiche gilt für die kürzlich publizierte Studie des Newlines Institute for Strategy and Policy, die die Zahl der in angeblich 1.400 Einheiten internierten Uiguren auf bis zu zwei Millionen angibt.

Solange diese Maximalzahlen, die ebenfalls aus Sekundärinformationen und Internetrecherchen stammen, nicht zuverlässig überprüft und bestätigt werden, sind sie juristisch kaum verwertbar.

Zweifellos wird es nach wie vor Strafgefangene geben, die im Antiterrorkampf der Regierung verhaftet und hinter Mauern nun ihre Strafe absitzen oder auf einen Prozess warten.

Über ihre Zahl und die Haftbedingungen ist derzeit nichts bekannt. Sollten sich die Völkermordvorwürfe auf diese Häftlinge beziehen, die politisch für die Regierung zu den gefährlichsten Aktivisten der Separationsbewegung gehören, so müssten auch diese Gefängnisse und die Haftbedingungen zunächst durch unabhängige Institutionen untersucht werden, ehe aus den Vorwürfen juristische Schlussfolgerungen und Konsequenzen gezogen werden können.

Der Völkermord ist ein Absichtsdelikt. D. h. es genügt nicht der einfache Vorsatz zur Verursachung schwerer Schäden an Mitgliedern der Gruppe, es muss auch die Absicht nachgewiesen werden, die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.

Diese überschießende Innentendenz der Tat kann offen deklariert und daher leicht nachgewiesen werden, sie kann sich aber auch erst aus der Analyse des Tatumfeldes und der Tatumstände ergeben.

Auch wenn man davon ausgehen könnte, dass die in den Vorwürfen genannten Zahlen und die menschenrechtswidrige Behandlung zutreffen, so lässt sich jedoch eine Absicht zur ganzen oder auch nur teilweisen Zerstörung der Gruppe/Uiguren nicht erkennen.

Man muss sich nicht auf die offiziellen Angaben der chinesischen Regierung über ihre Anstrengungen in Xinjiang, die Armut und den Entwicklungsrückstand zu überwinden, verlassen, die sie regelmäßig in ihren Weißbüchern veröffentlicht.5

Auch aus Berichten von Beobachtern, die sich über die Jahre häufig in der Region aufgehalten haben (vgl. Behrens 2021a; Bücklers 2021), geht hervor, dass in Xinjiang in den vergangenen Jahren massiv wirtschaftlich investiert wurde und sich die materielle Lebensqualität der Bevölkerung erheblich verbessert hat.

Das hat dazu geführt, dass sehr viele Han-Chinesen als Arbeitskräfte in die vollkommen unterbevölkerte Region gezogen sind. Verantwortlich war dafür der Rohstoffreichtum, aber auch das Projekt der neuen Seidenstraße, die durch Xinjiang führt und damit die Infrastruktur verbessert und der verarbeitenden Industrie beste Arbeitsmöglichkeiten eröffnet (Yang/Weihua 2023).

Neben dem Aufbau moderner Produktionsstandorte für Textil, Auto und Elektronikindustrie ist viel in die Modernisierung der Landwirtschaft gesteckt worden. Das hat z. B. amerikanischen Exporteuren von Landwirtschaftsmaschinen erhebliche Exportmöglichkeiten beschert.

Heute sollen 70 bis 80 Prozent der Baumwollernte mechanisiert sein, was wiederum hunderttausende Erntehelfer freigesetzt hat, die nicht mehr nach Xinjiang kommen. So konnte nicht nur 2020 die absolute Armut (vgl. Leutner 2020, 4) überwunden werden, sondern das Durchschnittseinkommen soll jetzt sogar höher sein als der Durchschnitt in ganz China (vgl. Scheben 2021).

Es gibt keinen Grund, den Angaben von China Daily vom 14. November 2020 nicht zu trauen, die einen Anstieg der Beschäftigten in Xinjiang von 2014 bis 2019 von 11,35 Mio. auf 13,5 Mio. und eine Arbeitsbeschaffung für insgesamt 8,3 Mio. ländliche Arbeitslose berichten (Leutner 2020, 4). Das war zweifellos nicht möglich ohne die erwähnten einschneidenden Bildungsmaßnahmen.

Literatur

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Behrens, Uwe, Feindbild China. Was wir alles über die Volksrepublik wissen, Berlin 2021a Ders., "Völkermord an den Uiguren?", Neues Deutschland, 13.4.2021b

Bölinger, Mathias, Der Hightech Gulag. Chinas Verbrechen gegen die Uiguren, München 2023 Bücklers, Walther, "China, Xinjiang und der Genozid", in: Nachdenkseiten, 6.11.2021

Chan, Holmes, Organisation of Islamic Cooperation 'commends# China for its treatment of Muslims in: Hongkong Free Press, 24.3.2019

Deuber, Lea, in: Der Bund, 26.11. 2019

Elsner, Wolfram, Das chinesische Jahrhundert, Frankfurt/M 2020

Flounders, Sara, What I see in Xinjiang challenges US’ hostile Propaganda against China, in: Global Times, 17.6.2023

Heberer, Thomas, The People’s Republic of China, in: Werner Ende u. Udo Steinbach (Hg.), Islam in the World today. A Handbook of Politics, Culture and Society, Ithaca/London 2010

ders., sciplining of a Society, Social Disciplining and Civilizing Processes in Contemporary China, ASH Center for Democratic Governance and Innovation, Harvard Kennedy School, August 2020

ders., Ethnicity in China, in: Michael Weiner (Hg.), Handbook of Race and Ethnicity in Asia, London, New York 2022

ders. u. Helwig Schmidt Glintzer, Das wäre unabhängig kaum möglich gewesen, China-Table v. 18. September 2023

Herman, Edward S., u. Noam Chomsky, Die Konsensfabrik. Die politische Ökonomie der Massenmedien, Frankfurt/M 2023

Jeßberger, Florian, "Schriftliche Stellungnahme vor dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Bundestages", 27.5.2021

Kronauer, Jörg, Der Rivale. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und die Gegenwehr des Westens, Hamburg 2019a

ders., Terror in Xinjiang in: Junge Welt, 5.12.2019b

Leutner, Mechthild, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung zum Thema "Lage der Menschenrechte in China", 18.11.2020

Scheben, Helmut, Der Konflikt in Xinjiang und seine Entstehung in: infosperber, 24.4.2021

Schneider, Beat, Chinas langer Marsch in die Moderne, Köln 2023

Spennrath, Mackenzie, "The Duality of German Media on Xinjiang"

Sydow, Christoph, Alle gegen alle – und alle gegen Assad, in: Spiegel, 11.9.2019

Yang Yang, Mao Weihua, Kashgar cashes in on crossborder trade, in: China Daily, 23.9.2023