Völkerrechtliche Perspektiven auf die Situation der Uiguren in China

Seite 3: Die Realität der Umerziehungslager: Untersuchung der Vorwürfe

Gehen wir davon aus, dass es überprüfbare Berichte über einzelne Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang gibt, so leiden jedoch alle Berichte über die sog. Umerziehungs- bzw. Internierungslager an seriösem Daten und Beweismaterial. Fotos und Satellitenaufnahmen von Gebäudekomplexen hinter hohen Mauern mussten wiederholt als falsche oder untaugliche Beweise zurückgezogen werden.

Amnesty International versah ihren Bericht mit der Überschrift "Im Land der unsichtbaren Lager", in dem der Korrespondent der Berliner taz Felix Lee schrieb, dass er von Umerziehungslagern zwar nichts finden konnte, aber man wisse von "Zeugenaussagen", dass es "Gehirnwäsche und Folter" gebe (vgl. Scheben 2021).

Alle Zahlen von Internierten bis zu einer Million Insassen in den Lagern beruhen auf hochgerechneten Schätzungen, die zwar überall in den Medien kolportiert werden, aber über keinen Nachweis ihrer Zuverlässigkeit für eine juristische Verwertbarkeit verfügen. Sie stammen von dem Netzwerk Chinese Human Rights Defenders.

Seine Befragungen in einzelnen Dörfern können kaum als seriöse Untersuchungen gewertet werden (vgl. Behrens 2021b, 7). Soweit sie auf den Aussagen von im Ausland lebenden Uiguren beruhen, handelt es sich um ungeprüfte Zweitinformationen mit ebenfalls mangelndem juristischem Wert.

Das Gleiche gilt für die kürzlich publizierte Studie des Newlines Institute for Strategy and Policy, die die Zahl der in angeblich 1.400 Einheiten internierten Uiguren auf bis zu zwei Millionen angibt.

Solange diese Maximalzahlen, die ebenfalls aus Sekundärinformationen und Internetrecherchen stammen, nicht zuverlässig überprüft und bestätigt werden, sind sie juristisch kaum verwertbar.

Zweifellos wird es nach wie vor Strafgefangene geben, die im Antiterrorkampf der Regierung verhaftet und hinter Mauern nun ihre Strafe absitzen oder auf einen Prozess warten.

Über ihre Zahl und die Haftbedingungen ist derzeit nichts bekannt. Sollten sich die Völkermordvorwürfe auf diese Häftlinge beziehen, die politisch für die Regierung zu den gefährlichsten Aktivisten der Separationsbewegung gehören, so müssten auch diese Gefängnisse und die Haftbedingungen zunächst durch unabhängige Institutionen untersucht werden, ehe aus den Vorwürfen juristische Schlussfolgerungen und Konsequenzen gezogen werden können.

Der Völkermord ist ein Absichtsdelikt. D. h. es genügt nicht der einfache Vorsatz zur Verursachung schwerer Schäden an Mitgliedern der Gruppe, es muss auch die Absicht nachgewiesen werden, die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.

Diese überschießende Innentendenz der Tat kann offen deklariert und daher leicht nachgewiesen werden, sie kann sich aber auch erst aus der Analyse des Tatumfeldes und der Tatumstände ergeben.

Auch wenn man davon ausgehen könnte, dass die in den Vorwürfen genannten Zahlen und die menschenrechtswidrige Behandlung zutreffen, so lässt sich jedoch eine Absicht zur ganzen oder auch nur teilweisen Zerstörung der Gruppe/Uiguren nicht erkennen.

Man muss sich nicht auf die offiziellen Angaben der chinesischen Regierung über ihre Anstrengungen in Xinjiang, die Armut und den Entwicklungsrückstand zu überwinden, verlassen, die sie regelmäßig in ihren Weißbüchern veröffentlicht.5

Auch aus Berichten von Beobachtern, die sich über die Jahre häufig in der Region aufgehalten haben (vgl. Behrens 2021a; Bücklers 2021), geht hervor, dass in Xinjiang in den vergangenen Jahren massiv wirtschaftlich investiert wurde und sich die materielle Lebensqualität der Bevölkerung erheblich verbessert hat.

Das hat dazu geführt, dass sehr viele Han-Chinesen als Arbeitskräfte in die vollkommen unterbevölkerte Region gezogen sind. Verantwortlich war dafür der Rohstoffreichtum, aber auch das Projekt der neuen Seidenstraße, die durch Xinjiang führt und damit die Infrastruktur verbessert und der verarbeitenden Industrie beste Arbeitsmöglichkeiten eröffnet (Yang/Weihua 2023).

Neben dem Aufbau moderner Produktionsstandorte für Textil, Auto und Elektronikindustrie ist viel in die Modernisierung der Landwirtschaft gesteckt worden. Das hat z. B. amerikanischen Exporteuren von Landwirtschaftsmaschinen erhebliche Exportmöglichkeiten beschert.

Heute sollen 70 bis 80 Prozent der Baumwollernte mechanisiert sein, was wiederum hunderttausende Erntehelfer freigesetzt hat, die nicht mehr nach Xinjiang kommen. So konnte nicht nur 2020 die absolute Armut (vgl. Leutner 2020, 4) überwunden werden, sondern das Durchschnittseinkommen soll jetzt sogar höher sein als der Durchschnitt in ganz China (vgl. Scheben 2021).

Es gibt keinen Grund, den Angaben von China Daily vom 14. November 2020 nicht zu trauen, die einen Anstieg der Beschäftigten in Xinjiang von 2014 bis 2019 von 11,35 Mio. auf 13,5 Mio. und eine Arbeitsbeschaffung für insgesamt 8,3 Mio. ländliche Arbeitslose berichten (Leutner 2020, 4). Das war zweifellos nicht möglich ohne die erwähnten einschneidenden Bildungsmaßnahmen.