Volksparteien: Selbsttötung per Fraktionszwang
Der Niedergang der klassischen Volksparteien ist unaufhaltsam - Teil 3
Über die Entscheidungsfreiheit des Abgeordneten wird stets gebetsmühlenhaft die Bestimmung des Grundgesetzes (GG) zitiert: Nach Artikel 38 GG sind Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Nach Artikel 46 GG darf kein Abgeordneter in irgendeiner Weise gerichtlich, dienstlich oder sonst außerhalb des Bundestags wegen seiner Abstimmung zur Verantwortung gezogen werden.
Juristisch mag das so sein. Politisch stimmt das definitiv nicht. Die Abgeordneten sind so frei, wie sie es sein wollen - wenigstens dann, wenn sie keine Karriere machen wollen. Niemand kann sie zwingen, bei einer Abstimmung die Hand zu heben oder sie unten zu lassen oder eine blaue, rote oder weiße Abstimmungskarte abzugeben.
Soweit die Theorie. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Unbestritten und unbestreitbar ist, dass die Fraktionen im Bundestag und in den Länderparlamenten so gut wie immer einmütig abstimmen. So gut wie immer bedeutet: In mehr als 99 Prozent aller Fälle. Das gilt nicht nur bei namentlichen Abstimmungen, bei denen Namenskarten abgegeben werden und das Stimmverhalten des einzelnen Abgeordneten im Protokoll festgehalten wird.
Viele Abgeordnete kommen überhaupt erst kurz vor einer Abstimmung ins Plenum und schauen, wann der Stimmführer ihrer Fraktion die Hand hebt oder welche Farbe die Stimmkarte hat, die der Geschäftsführer seiner Fraktion an der Urne hochhält.
Manche kommen nur, weil die "Stallwache" der Fraktion im Plenum über die Rufanlage durchgeben ließ, dass die Mehrheit im Plenum gefährdet ist und die Kollegen schleunigst ins Plenum kommen mögen.
Die volle Abgeordnetenentschädigung wird nur dann ausgezahlt, wenn ein Abgeordneter an den Pflichtsitzungen des Bundestags teilnimmt und seine Anwesenheit durch seine Unterschrift bestätigt. Üblicherweise gilt in den Sitzungswochen Anwesenheitspflicht von Dienstag bis Freitag. Verpasst jemand einen Sitzungstag oder vor allem eine namentliche Abstimmung, gibt es pro Tag Abzüge zwischen 50 bis 100 Euro.
Immer mal wieder kommt es vor, dass trotz aller Disziplinierungsmaßnahmen und Drohungen ungewiss ist, wie Abstimmungen ausgehen. Und immer wenn die Fraktionsspitzen nicht sicher sind, was passieren könnte, lassen sie es erst gar nicht auf den riskanten Versuch ankommen, wie die Mehrheit wohl ausfallen könnte. Das wäre einfach zu demokratisch-naiv gedacht. Nein, dann wird erst mal geübt, und zwar so lange, bis das Richtige herauskommt.
Die Freiheit des Abgeordneten ist noch nicht einmal eine Illusion
Probeabstimmungen dienen nicht etwa dazu, mal ein bisschen herumzuprobieren, wie die Abgeordneten sich wohl entscheiden könnten. Da wird nichts im Wortsinne "geprobt". Das wäre ja auch albern; denn die Abgeordneten sitzen lange genug im Parlament, um zu wissen, wie man abstimmt. Die müssen nicht noch üben. Probeabstimmungen sind ein Instrument der Disziplinierung in der Hand der Fraktionsführungen.
Kommt dabei nicht das gewünschte Ergebnis heraus, nimmt die Fraktionsspitze sich die Wackelkandidaten in der eigenen Fraktion zur Brust und bekniet sie unter Einsatz vielfältiger Druckmittel. Wenn die dann schließlich versprechen, "richtig" abzustimmen, kommt die nächste Probeabstimmung. Und bis alle Abgeordneten zur Raison gebracht sind, können schon mal mehrere Probeabstimmungen nötig werden.
Als im September 2011 nicht ganz sicher war, wie die Abgeordneten von CDU/CSU und FDP über den Euro-Rettungsschirm und dann wieder im April 2012 über den dauerhaften Europäischen Stabilitäts-Mechanismus (ESM) abstimmen würden und ob die Regierung eine eigene "Kanzlermehrheit" zu Stande bringen würde, führte man so lange Probeabstimmungen durch, bis sicher war, dass sich bei der endgültigen Abstimmung das gewünschte Ergebnis einstellen würde. Die Abstimmung zeigte auch, dass selbst die bloß symbolische Fraktionsgeschlossenheit größere Bedeutung hat als eine satte Mehrheit.
Damals war ja von Anfang an klar, dass die SPD ihrerseits den Euro-Rettungsschirm und den ESM unterstützen wollte. Die Regierung hätte sich also entspannt zurücklehnen und sich sagen können: Die Mehrheit haben wir so oder so in der Tasche.
Doch der Druck zur Geschlossenheit der eigenen Reihen ist so irrational stark, dass unbedingt eine eigene Kanzlermehrheit her musste. Eine Abstimmung mit den Stimmen der politischen Gegner war denn doch nicht ausreichend, um das angestrebte Bild der totalen Geschlossenheit der eigenen Fraktionen nach außen zu transportieren. Man könnte fast von einer Art des demokratischen Stalinismus sprechen.
In der Regel kommt denn auch wirklich das heraus, was dabei herauskommen soll - vor allem wenn bei den ersten Probeabstimmungen noch nicht das Richtige herauskommen ist. Dann nämlich werden zwischen den Abstimmungen den abweichenden Abgeordneten so lange und so energisch die üblichen Dosierungen von Zuckerbrot und Peitsche verabreicht, bis sie endlich so abstimmen, wie es von ihnen verlangt wird.
Nur ganz selten geht das auch mal schief, wie bei der Wahl des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten im März 2005, als die amtierende Ministerpräsidentin Heide Simonis von der SPD sich viermal zur Wahl stellte, in Probeabstimmungen stets genügend Stimmen bekam, aber am Ende dennoch nicht gewählt wurde.
Die Abgeordneten verstehen ihre Fraktion nach einer Formulierung des ehemaligen SPD-Politikers Hans Apel auch heute noch meist als eine "Gesinnungsgemeinschaft"1 - als Vereinigung von Leuten mit den gleichen oder wenigstens ähnlichen Überzeugungen.
Das mag erklären, weshalb sie sich freiwillig den Entscheidungen ihrer Fraktionen unterwerfen. Aber es weist zugleich auf ein Dilemma hin: Um zu erreichen, dass Abgeordnete widerstandslos und ungeprüft den Entscheidungen der eigenen Fraktionsspitze folgen, braucht man keine kompetenten und erst recht keine unabhängigen Abgeordneten.
Da reicht es völlig hin, wenn man einen gehorsamen Parteisoldaten hat, der brav alles abnickt, was man ihm vorsetzt. Und das ist nun einmal die einzige Qualifikation eines Parlamentariers, die wirklich gebraucht wird. Er muss spuren. Wie weit sich doch die real existierenden Demokratien vom Ideal einer lebendigen Demokratie entfernt haben.
Wer von der Fraktionslinie abweicht, ist ein Verräter
Doch in Wahrheit sind die politischen Parteien und ihre Fraktionen überhaupt keine Gesinnungsgemeinschaften. Sie verhalten sich nur so. Sie tun so, als sei der Kitt, der sie alle zusammenhält, eine gemeinsame Gesinnung. Und weil sie das alle zu glauben vorgeben, halten sie in den Parlamentsfraktionen zusammen wie Pech und Schwefel.
Wer abweicht, gilt als Verräter. Und er ist es aus parteilicher Perspektive ja auch; denn wenn eine Regierung einmal bei einer wichtigen Abstimmung keine Mehrheit bekommt, bedeutet das in aller Regel ihr Ende. Der Fehler liegt in dem System, in dem die Zukunft einer Regierung so sehr von der Geschlossenheit ihrer Abgeordneten abhängt, dass der gnadenlose Fraktionszwang schier unvermeidlich erscheint.
Fälle von Abweichung sind außerordentlich selten, ja, sie kommen so gut wie gar nicht vor. Aber wenn sie vorkommen, enden alle ähnlich: Der Abweichler wird gemobbt und isoliert und gibt entweder selbst auf oder wird abgestraft - in der Regel dadurch, dass seine Wiederwahl unmöglich gemacht wird. Wer von der Mehrheit abweicht, darf alle Hoffnungen auf eine Karriere in Partei, Fraktion oder gar Regierung fahren lassen.
Eine freie und unabhängige Meinung kann sich ein Abgeordneter, der auch noch eine Karriere machen möchte, nicht leisten - schon gar nicht in Schicksalsfragen für die eigene Partei, Fraktion oder gar Regierung. Bei anderen Themen mag das anders sein: Wenn er sich den Luxus einer eigenen Meinung zur Lage der Landwirtschaft in der südlichen Mongolei leistet, nimmt ihm das wohl niemand krumm…
Fraktionsdisziplin ist sogar in einem gewissen Umfang durchaus vernünftig, wie Burkhard Hirsch schreibt: "In einer arbeitsteiligen Organisation ist man darauf angewiesen, den Spezialisten zu vertrauen und danach zu urteilen, was die jeweiligen Spezialisten für das betreffende Arbeitsgebiet in der Fraktion dazu vorgetragen haben. Politik ist nicht nur Einzelleistung, sondern Teamarbeit. Niemand ist Spezialist für alles. Es gibt in jeder Fraktion eine sorgfältige Arbeitsteilung, Sprecher für bestimmte Gebiete, deren Glaubwürdigkeit bei dem politischen Partner wie dem Gegner davon abhängt, dass die Fraktion ihren Verabredungen folgt."2
Das ist die eine Seite des Vorgangs. Die andere allerdings ist längst nicht so positiv:
"Schwierig und unter demokratischen Gesichtspunkten auch problematisch werden diese Prozeduren jedoch dann, wenn es um Verabredungen der Fraktionsführungen mit dem Koalitionspartner, um Herzensangelegenheiten der von der Fraktion gestützten Regierung oder der eigenen Minister handelt oder wenn es um politische Reizthemen geht, bei denen jeder Abgeordnete seine eigene Meinung haben kann und haben muss.
Es ist ganz offenkundig, dass bei solchen Grundfragen eine massive Hierarchisierung der Meinungsbildung eingetreten ist, also der Versuch der Führungsspitze einer Fraktion, Grundentscheidungen zu treffen, sie gegebenenfalls mit der Führung der anderen Koalitionsfraktion zu verabreden und dann in der Fraktion durchzusetzen.
Hat die Koalitionsrunde ein Projekt beschlossen, dann wird es vor und von den einschlägigen Medien verkündet: ‚Die Koalition hat beschlossen... und so weiter.‘ Die Sache soll entschieden sein, bevor sie das Parlament überhaupt erreicht hat, und meistens ist sie es auch. Wer dann noch Fragen hat, wird zum Bremsklotz am Siegeswagen der Koalition oder Fraktion.
Es wird peinlich genau darauf geachtet, dass die entsprechende Tischvorlage den Fraktionen in den Sitzungen zur gleichen Zeit vorgelegt wird. Es wird mit einem gewissen mahnenden Unterton sofort mitgeteilt, dass die andere Fraktion schon entsprechend beschlossen habe und gefragt, was denn die Öffentlichkeit wohl denken solle, wenn es ‚bei uns‘ so lange dauert. Da sei doch die Handlungsfähigkeit und die Geschlossenheit in Gefahr - und so weiter, man kennt das bis zum Überdruss.
Die notwendige Gruppensolidarität wird zum Instrument der Fraktionsführungen, um die Willensbildung unter Druck zu setzen, ja unter den moralischen Zwang, dass sonst der von allen gewünschte langfristige politische Erfolg von den kleinlichen oder individualistischen Bedenken der ‚gewissenspolitischen Sprecher‘ gefährdet wird. Es ist eine tatsächlich gebrauchte Bezeichnung für diejenigen, die ein erzieltes Verhandlungsergebnis problematisieren."3
Der parlamentarische Tiger hat keine Zähne
Tatsächlich herrscht bei den meisten Parlamentsentscheidungen Fraktionszwang. Wenn ein Abgeordneter von der Fraktionssolidarität abweichen möchte, begründet er das in der Regel in der vorangehenden Fraktionssitzung. Wenn das die Mehrheitsverhältnisse nicht tangiert, gilt das meist als unproblematisch.
Wenn sein Abweichen allerdings die Mehrheitsverhältnisse bei der Abstimmung gefährden sollte, kann sich ein Abgeordneter das nicht leisten. Dann herrscht ein unerbittlicher Fraktionszwang. Und bei den Abgeordneten, die einer Regierungskoalition oder einer Regierungsfraktion angehören, ist der Fraktionszwang noch unerbittlicher als bei der Opposition. Schon der reine Selbsterhaltungstrieb gebietet es, dass sich die Mitglieder einer Regierungsfraktion dem Zwang zur einheitlichen Abstimmung ohne Wenn und Aber unterwerfen.
Soweit wir Mitglieder der Regierungsfraktion sind, sind wir im Grunde, was Kontrolle und Gesetzgebung anlangt, nicht mehr in der Rolle des Parlaments nach der klassischen Gewaltenteilungslehre.
Hansjörg Häfele
Mit anderen Worten: Das Parlament verzichtet in seiner Mehrheit freiwillig und ohne wirkliche Not auf seine vornehmste und angeblich wichtigste Aufgabe, die Kontrolle der Regierung, und überlässt das lieber der Opposition. Doch die ist machtlos und kann eigentlich nur wirkungslos schimpfen. Der parlamentarische Tiger hat keine Zähne, und die Opposition ist nur ein kleiner Rohrspatz …
Diese Erkenntnis übrigens ist in allen ernst zu nehmenden Analysen des Abstimmungsverhaltens von Abgeordneten seit langem wohl bekannt. So schrieb der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim 1994:
Parlamentsmehrheit und Regierung bilden heute in der Praxis eine parteipolitische Einheit, weil die Wiederwahl der Mitglieder der Mehrheitsfraktion wesentlich vom Erfolg der Regierung abhängt. Dieser parteipolitische Monismus bewirkt, dass regelmäßig nur die Opposition wirklich kontrolliert. Sie ist aber in der Minderheit und kann deshalb keine Sanktionen gegen die Regierung und ihre Mehrheit im Parlament beschließen. Es besteht also die missliche Situation, dass die Mehrheit des Parlaments die Regierung zwar kontrollieren könnte, dies aber nicht will, während die Opposition die Regierung kontrollieren will, dies aber - mangels der Mehrheit im Parlament - nicht wirksam tun kann. Ohne wirkliche Gewaltenteilung hängt die Kontrolle, die auf das Gegeneinander von Parlament und Regierung hin konzipiert ist und deshalb Mehrheitsbeschlüsse des Parlaments verlangt, weitgehend in der Luft.
Hans Herbert von Arnim
Fraktionsdisziplin ist kein demokratisches Instrument
Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten im Bundestag und in den Länderparlamenten ist in jeder Legislaturperiode ausgiebig untersucht worden. Das Ergebnis war stets das Gleiche: Sie folgen bei praktisch allen Entscheidungen der Fraktionsdisziplin. Ausnahmen gibt es so gut wie keine.
Wie so oft gibt es auch eine Reihe von nachvollziehbaren Argumenten, die für eine Fraktionsdisziplin sprechen. Das soll hier gar nicht en détail diskutiert werden.
Auf jeden Fall ist die Durchsetzung von Fraktionsdisziplin kein ur- und erzdemokratischer Prozess. Die Fraktionsdisziplin allein wäre kein Problem, fügte sie sich nicht in eine Vielzahl von undemokratischen Prozeduren ein, die einander in ihrer Fülle zur Degenerierung der entwickelten Demokratie ergänzen.
Fraktionsdisziplin ist ein hierarchisches Instrument, mit dem Entscheidungen jedenfalls nicht von unten nach oben stattfinden. Die Richtung ist umgekehrt: von oben nach unten. Und wenn Entscheidungen in Parlamenten von oben nach unten stattfinden, dann ist das jedenfalls nicht gerade das Muster gelebter Demokratie.
Tatsächlich treiben die Fraktionsführungen aller Parteien erheblichen Aufwand, um Fraktionsdisziplin zu erzwingen. Es versteht sich von selbst, dass sie von ihren Abgeordneten erwarten, dass sie grundsätzlich so abstimmen, wie sie es ihren Abgeordneten vorgeben. Sie sprechen zwar meist mit vornehmer Zurückhaltung davon, dass sie das "erwarten". Aber sie meinen, dass sie das "verlangen" und in Zweifelsfall auch "erzwingen".
Einen Einblick darin, wie das praktisch abläuft, hat der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler der Internetplattform abgeordnetenwatch.de gegeben. "Jeder Abgeordnete muss nach seiner Fraktionsordnung einen Tag vor der Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will." Zugespitzt könnte man sagen: Sogar das freie Gewissen muss bei der Fraktionsführung angemeldet werden.
Inzwischen behalten sich die Fraktionsführungen im Bundestag sogar die Genehmigung vor, welche Papiere in den Postfächern der Volksvertreter landen. Abgeordnete müssen bis 17.00 Uhr am Vortag ihrer Fraktionsführung schriftlich mitteilen, wenn sie bei Abstimmungen von der Parteilinie abweichen wollen.
Wenn sie "abweichen", droht man ihnen, dass sie ihren Posten in der Fraktion verlieren könnten - spätesten, wenn sie das ein zweites Mal wagen. Noch verbreiteter ist, dass der Landesgruppen-Vorsitzende dem Volksvertreter zuraunt, die Kanzlerin halte doch viel von ihm und würde ihn am liebsten in der ersten Reihe sehen. Dazu müsste er aber "richtig" abstimmen.
Jede Fraktion hat ihren eigenen Stil bei der Durchsetzung des Fraktionszwangs. So gibt es bei der SPD-Fraktion einen "einen einstimmig zu Beginn der Legislatur verabschiedeten Beschluss über das Selbstverständnis der Fraktion. Darin ist festgehalten, dass es dem Selbstverständnis der Fraktion entspricht, in der Fraktion getroffene Entscheidungen geschlossen im Bundestag zu vertreten." Die SPD-Fraktion hat also beschlossen, die Unabhängigkeit der Abgeordneten auf dem Wege der Beschlussfassung zu meucheln und dieses im Grundgesetz verankerte Verfassungsrecht außer Kraft zu setzen.
In der CDU werden Abweichler von der Fraktionslinie ganz unverblümt als "EDEKA-Club" bezeichnet. Edeka steht dabei für das "Ende der Karriere", also die Streichung von der Liste zur nächsten Wahl.
Die Fraktionsspitzen aller Parteien können den Fraktionszwang, den sie ausüben, so oft leugnen, wie sie mögen, sie konnten es nicht verhindern, dass "Abweichler" hinterher in den Medien ausgiebig darüber berichteten, wie sie kaltgestellt wurden.4
Im Parlament geht es für den einzelnen Abgeordneten nur noch darum, ebenso wie die Fraktionsspitze abzustimmen, ohne jede Entscheidung noch auf ihre sachliche Richtigkeit und politische Stimmigkeit zu prüfen. Verantwortungsbewusstes Handeln sieht anders aus.
Es gibt in allen Parlamenten eine einzige Konstellation, in der die Parlamentarier den Aufstand wagen und aufhören könnten, alles abzunicken, was ihnen ihre Fraktionsführungen zum Fraß vorwerfen: Wenn Gefahr besteht, dass ihre Regierung die Mehrheit und damit die nächste Wahl verlieren könnte. Das ist das Ende aller Abnicktreue. Dann lassen die Abgeordneten auch ohne zu zögern ihren Kanzler oder ihre Kanzlerin fallen. Schließlich ist es der einzige Sinn und Zweck einer politischen Partei, Wahlen zu gewinnen und Mehrheiten zu sichern. Davon hängt die Zukunft der Partei und auch die Zukunft jedes einzelnen Mandats ab, und das ist noch wichtiger als alle Loyalität.
Im Kinderglauben an das Funktionieren der Demokratie geht alle Macht vom Volke aus, das seine Abgeordneten in die Parlamente wählt. Und die Parlamente bestimmen die Zusammensetzung der Regierung und kontrollieren deren Tun. In Wahrheit laufen die Entscheidungen in umgekehrter Richtung: Alle Entscheidungsprozesse in Parlamenten finden von oben nach unten statt. Dafür sorgen die Fraktionsspitzen. Die gelebte Demokratie in den Parlamenten ist tot. Sie hat sich selbst gemeuchelt.
Die Parlamentarier haben sich selbst zum Stimmvieh degradiert
Ein System der Willensbildung und Entscheidungsfindung, in dem Parlamentarier sich permanent daran orientieren, wie die Fraktionsspitze oder der "Stimmführer" entscheidet, um sich ebenso zu verhalten, lädt geradezu zum Verzicht auf ein eigenes Urteil ein.
Es führt zur Diffusion von Verantwortung und dazu, dass Abgeordnete sich selbst zum Stimmvieh degradieren. Sie geben sich zufrieden damit, dass sie nichts zu sagen haben. Ihre Interessen liegen ganz woanders: ein kommoder Job, eine komfortable Ausstattung, die Illusion der eigenen Wichtigkeit, ein hohes Ansehen, gute Bezahlung und schöne kostenlose Reisen…
Vollends auf die grundgesetzwidrige Spitze hat es die große Koalition des Jahres 2013 getrieben. Sie hat den Fraktionszwang sogar zum Bestandteil des Koalitionsvertrags gemacht, und das obwohl sie doch sowieso schon eine satte Mehrheit kontrolliert: "Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen."5
Was für ein jämmerliches Schauspiel: Im Koalitionsvertrag lassen die Koalitionäre den Fraktionszwang in aller Form festschreiben, die SPD-Mitglieder über diese Festschreibung auch noch abstimmen und behaupten dann auch noch dreist: Einen Fraktionszwang gibt es bei uns nicht.
Die große Koalition hat ihre Abgeordneten dazu verdonnert, zu jeder Zeit und unter absolut gar allen Umständen in totaler Geschlossenheit abzustimmen - komme, was da wolle. Angesichts der ohnehin schon gewaltigen Mehrheit, die CDU/CSU und SPD in allen Gremien des Parlaments haben, ist das eine Konfiguration, die man nur noch mit dem Einstimmigkeitsgebot kommunistischer Parteien vergleichen kann: demokratischer Stalinismus.
So kommen immer wieder und in wachsender Zahl Entscheidungen zu Stande, bei denen man sich einige Jahre, Monate oder gar Wochen hinterher fragt, ob die Mehrheit im Bundestag denn vom Wahnsinn geritten gewesen sei. Oder noch wesentlich häufiger: Es kommt zu ausgesprochen schlampig und im Eiltempo durchgeboxten Gesetzen, in denen die Details nicht stimmen und die vom Bundesverfassungsgericht bei der nächsten Gelegenheit wieder gekippt werden müssen.
Wenn die Regierung Gesetze durch das Parlament peitscht, müssen die Abgeordneten über Dinge entscheiden, die sie nicht verstehen und auch gar nicht verstehen wollen, die aber die Steuerzahler teuer zu stehen kommen könnten.
Der Kreis der wahren Entscheidungsträger in den Fraktionen ist sehr klein. Zwar haben die Fraktionen je nach Größe Vorstände von zwischen 5 und 50 Personen. Doch die einzigen Entscheidungsträger in den Fraktionen sind der Fraktionsvorsitzende und der Fraktionsgeschäftsführer. Es ist eine durch und durch hierarchische Veranstaltung und hat mit demokratischer Willensbildung so gut wie gar nichts zu tun.
Sie bereiten die Sitzungen der Fraktionsvorstände der Sache und den Themen nach vor, sodass sich eine Ausweitung der Meinungsbildung dieses Kreises über den Fraktionsvorstand bis hin zu den Fraktionen ergibt. Die Fraktionsvorstände übernehmen dabei meist die Abschirmung vorbereiteter Entscheidungskonzepte in und gegenüber der Fraktion. Selbst wenn es in den Fraktionsvorständen zu differenten Auffassungen gekommen ist, erfahren die Fraktionsmitglieder davon offiziell keineswegs immer etwas.
Ulrich Lohmar
Martin Hirsch, der mehrere Jahre Mitglied des Fraktionsvorstands der SPD war, betont das Übergewicht des Fraktionsvorsitzenden innerhalb der ohnehin schon oligarchischen Führungsspitze:
Ich würde meinen, der Unterschied zwischen dem Fraktionsvorsitzenden und seinen Stellvertretern ist größer als der zwischen den Stellvertretern und dem Vorstand und viel, viel größer als zwischen dem Vorstand und der Gesamtfaktion.
Martin Hirsch
Und Ulrich Lohmar unterstreicht: "Für diese Einschätzung der Machtverteilung spricht, dass die Amtsdauer der Fraktionsvorsitzenden im Bundestag nie durch einen Beschluss der Fraktion beendet wurde, sondern regelmäßig durch eigenen Entschluss oder durch den Tod begrenzt worden ist."6
Der eigentliche Partner der Bundesregierung auf Seiten des Parlaments ist also der Fraktionsvorsitzende der Mehrheitspartei im Bundestag. "Die Abgeordneten sehen sich den hierarchischen Spitzen der Regierung und eigenen Fraktion gegenüber. Sie betrachten, da sie die realen Machtverhältnisse zutreffend einschätzen lernen, ihre Fraktionsführer als ihre eigentlichen Auftraggeber innerhalb des Parlaments."7
Die Fraktionshierarchien verteilen die konkreten Chancen für die einzelnen Abgeordneten, an der Gesetzgebung, der Willensbildung und der Kontrolle der Regierung beteiligt zu werden - soweit diese Aufgaben tatsächlich von den Fraktionen wahrgenommen werden. Die eingrenzenden Wegmarkierungen durch die Nominierung und die Rückkoppelung der Abgeordneten mit der örtlichen beziehungsweise regionalen Parteibasis werden auf diese Weise ergänzt durch den ihnen eingeräumten Spielraum von Seiten der Fraktionshierarchie. Wollen sie die Beschränkung durch die Fraktionshierarchie überwinden, haben sie nur die Möglichkeit, selbst in diese Hierarchie aufzusteigen. Können oder wollen sie das nicht, bleibt ihnen lediglich die fachliche Mitarbeit in den Ausschüssen und die Beteiligung an den Debatten der eigenen Fraktion.
Ulrich Lohmar
Lohmar resümiert:
Die Nichttransparenz der Fraktionen und ihre hierarchische Strukturierung - bei den Regierungsfraktionen noch verstärkt durch die Funktion einer parlamentarischen Schutztruppe für den Bundeskanzler und das Kabinett - engen aufs Ganze der Meinungsbildung im Bundestag gesehen, den tatsächlichen Meinungs- und Entscheidungsspielraum für den einzelnen Abgeordneten beträchtlich ein. Neben den Parteipräsidien und dem Kabinett sind die engeren Fraktionsführungen die dritte oligarchische Spitze im Machtgefüge der Parteien, des Parlaments und der Regierung. Diese Oligarchien sind in begrenztem Maße für Aufsteiger von unten offen, aber durch die kollektive oder individuelle Einwirkung von Seiten der Abgeordneten normalerweise politisch nicht zu steuern.
Ulrich Lohmar
Zur Karikatur eines demokratischen Parlaments verkommen
Von der naiven Demokratietheorie - alle Macht geht vom Volk aus, das seine Repräsentanten wählt, die wiederum den Volkswillen repräsentieren, die Regierung bestimmen und sie laufend kontrollieren - ist in den real existierenden Demokratien nichts übrig geblieben. Im Gegenteil: Die von einer verschwindend kleinen Minderheit in den politischen Parteien erkorenen Abgeordneten wachsen in eine Oligarchie hinein, die ihnen ihre Entscheidungen vorgibt und abweichendes Verhalten bestraft.
Wollen sie politisch überleben, haben sie nur die Wahl, sich der Oligarchie zu unterwerfen. Von dem Idealbild des souveränen Parlaments mit Abgeordneten, die nur ihrem Gewissen folgend verantwortungsvoll handeln und freie Entscheidungen treffen, ist die Realität meilenweit entfernt.
Der Bundestag ist längst zur Karikatur eines demokratischen Parlaments verkommen. Es ist seine Aufgabe, anderswo getroffene Entscheidungen abzunicken, vor allem Regierungsentscheidungen - so wie praktisch alle Parlamente in den entwickelten repräsentativen Demokratien der Welt.
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