Volksverhetzung: "Nacht-und-Nebel-Entscheidung" mit unklaren Folgen

Jetzt kommt es wohl entscheidend auf das Augenmaß der Gerichte an. Symbolbild: S. Hermann / F. Richter auf Pixabay (Public Domain)

Warum sich ein fraktionsloser Abgeordneter bei der Abstimmung zur Gesetzesverschärfung enthielt; wieso die Linksfraktion fast vollständig dagegen stimmte – und wie die AfD ihre Ablehnung begründet.

Könnte eine Twitter-Diskussion darüber, ob Wortspiele wie "Putler" seit dem Ukraine-Krieg angemessen sind oder doch in Richtung Holocaust-Relativierung gehen, vielleicht in Zukunft damit enden, dass die Diskutanten sich gegenseitig anzeigen?

Sie könnten es zumindest versuchen – was die Gerichte mit der weitgehend undiskutiert im Bundestag beschlossenen Erweiterung des Volksverhetzungsparagraphen 130 anfangen, bleibt abzuwarten.

Abgeordnete, die dagegen stimmten oder sich enthielten, befürchten jedenfalls, dass politische oder wissenschaftliche Diskussionen zum "Fall für die Staatsanwaltschaft und Gerichte" werden könnten, wie der fraktionslose Abgeordnete Stefan Seidler (SSW) am Donnerstag gegenüber Telepolis erklärte.

Kurzfristig mit anderem Abstimmungsgegenstand gekoppelt

Dagegen stimmte er am Abend des 20. Oktober dennoch nicht, da er nicht ausreichend Zeit und Ressourcen gehabt habe, sich eine Meinung zu bilden und die geplante Änderung abschließend zu prüfen und einzuordnen: Die Reform des Paragraphen 130 war sehr kurzfristig mit der geplanten Änderung des Bundeszentralregistergesetzes (BZRG) zur Abstimmung gestellt worden.

Ausdrücklich kritisierte Seidler das Verfahren, "eine Änderung des Strafgesetzbuchs mit einer Änderung des Bundeszentralregistergesetzes zu koppeln und in einer Nacht- und Nebel-Abstimmung ins Parlament einzubringen". Die entscheidende Ausschussfassung des Gesetzentwurfs der Regierungsparteien sei den Abgeordneten erst am Tag vor der Abstimmung zugegangen.

Dabei war der Handlungsbedarf nicht plötzlich entstanden und hatte nicht ursächlich mit dem Ukraine-Krieg zu tun.

Nur Umsetzung von EU-Recht?

Anlass der Gesetzesänderung ist ein von der EU-Kommission schon im Dezember 2021 angestrengtes Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland, die den Rahmenbeschluss 2008 / 913 / JI des Rates vom 28. November 2008 "zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" nur unzureichend umgesetzt habe.

Darin geht es auch um die Bestrafung von Leugnung, Billigung oder "gröblicher Verharmlosung" von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Sinne der Artikel 6, 7 und 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.

Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags stellten allerdings im vergangenen Jahr in einem Gutachten fest, dass der Tatbestand des Völkermordes "bis heute in der Rechtsprechung nicht einheitlich ausgelegt wird".

Diese Thematik nehme in der Forschung und Lehre zu viel Raum ein, um daraus eine Nacht- und Nebel-Entscheidung zu machen, kritisiert die Volljuristin Clara Bünger, die für die Fraktion Die Linke im Bundestag sitzt. "Auch wenn ich grundsätzlich natürlich für die Umsetzung des Rahmenbeschlusses bin, muss doch angemessen über die Frage der Strafbarkeit diskutiert werden." Ihre Fraktion stimmte mit einer Ausnahme gegen die Gesetzesänderungen – allerdings auch wesentlich wegen ihrer Vorbehalte gegen die Neufassung des BZRG.

Die Störanfälligkeit des öffentlichen Friedens in Kriegszeiten

In der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses im Bundestag vom 19. Oktober 2022 hieß es:

Mit der Einfügung eines neuen Straftatbestandes in § 130 Abs. 5 Strafgesetzbuch (StGB) soll nunmehr klargestellt werden, dass das öffentliche Billigen, Leugnen und gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nach deutschem Recht strafbar ist, wenn die Tat in einer Weise begangen wird, die geeignet ist, zu Hass oder Gewalt aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören.


Bundestags-Drucksache 20/4085

Auch für eine solche "gröbliche Verharmlosung" drohen nun in Zukunft bis zu drei Jahre Haft wegen Volksverhetzung. Die Frage, wann dieser Tatbestand erfüllt ist, dürfte noch für Diskussionen sorgen. Denn der öffentliche Frieden kann schnell als gestört betrachtet werden in einer Zeit, in der zum Beispiel der Liedermacher Wolf Biermann laut einem Zeit-Interview Richard David Precht und Harald Welzer schon deshalb für "Second-Hand-Kriegsverbrecher" hält, weil sie eine Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg fordern.

Meines Erachtens verschärfte die Änderung § 130 Abs. 5 StGB deutlich. Sie beendet die bisherige Sonderstellung der Holocaust-Leugnung. Potenziell fallen nun alle Kriegsverbrechen und Genozide darunter – ohne zeitliche Begrenzung.

Sie beendet die bisherige Sonderstellung der Holocaust-Leugnung. Potenziell fallen nun alle Kriegsverbrechen und Genozide darunter – ohne zeitliche Begrenzung. Die Gesetzesänderungen hat aus meiner Sicht das Potenzial, auch Auswirkungen auf wissenschaftliche oder politische Diskussionen zu haben – Sie werden unter Umständen sogar zu einem Fall für die Staatsanwaltschaft und Gerichte.


Stefan Seidler, fraktionslos / SSW

Aufgrund des Zeitmangels und seiner grundsätzlichen Bedenken kam für Stefan Seidler, der als einziger für den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) im Bundestag sitzt, weil für die Partei der dänischen Minderheit keine Fünf-Prozent-Hürde gilt, nur eine Enthaltung in Frage.

Außer Seidler enthielt sich nur Petra Sitte von der Fraktion Die Linke, die ansonsten geschlossen gegen den Entwurf stimmte. Auch AfD-Fraktion stimmte dagegen. Die Regierungsparteien der Ampel-Koalition und die Unionsfraktion, insgesamt 514 Abgeordnete, votierten dafür.

Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner hatte das "Omnibusverfahren" kritisiert, mit dem die Erweiterung des Volksverhetzungsparagraphen mit einer Abstimmung zum Bundeszentralregistergesetz verbunden wurde. "Sie versuchen also durch die Hintertür einen Paragraphen, den nicht nur wir von der AfD kritisch betrachten, weiter auszudehnen", befand er in seiner Bundestagsrede und sprach von "unsäglichen Worthülsen" sowie "unbestimmten Rechtsbegriffen". Den "Altparteien" warf er "Arbeitsverweigerung" und Debattenverweigerung vor.

Wäre es nur um die BZRG-Änderung gegangen, hätte seine Fraktion sich enthalten, so Brandner, dessen Partei wohl zu großen Teilen eine vollständige Abschaffung des Volksverhetzungsparagraphen begrüßen würde. Etliche AfD-Politiker wurden bereits nach der bisherigen Fassung dieser Rechtsvorschrift verurteilt.

In Ermangelung von Zeit für eine Debatte wurden weitere Reden dazu am Tag der Abstimmung im Bundestag lediglich zu Protokoll gegeben – so auch die von Clara Bünger und die von Stefan Seidler, der die "sachfremde Ankoppelung einer komplexen Reform des § 130 StGB an die ebenfalls hochkomplexe Änderung des BZRG" kritisierte.

Linke Vorbehalte gegen die BZRG-Änderung

Bünger hatte sich laut Plenarprotokoll in ihrem vorbereiteten Redemanuskript auf die Änderung des Bundeszentralregistergesetzes konzentriert und datenschutzrechtliche Bedenken geäußert: Problematisch sei das sogenannte "Flagging", mit dem auch mutmaßliche Straftaten gemäß der Paragraphen 129a und 129b ("terroristische Vereinigung" im In- und Ausland) erfasst werden.

Diese Strafrechtsparagraphen werden von Linken seit langem als zu dehnbar kritisiert, da sie auch schon zu Anklagen gegen Menschen führten, denen keinerlei Gewalttaten vorgeworfen wurden, sondern lediglich die politische Betätigung für verbotene Organisationen. Insofern genügte der Linksfraktion mehrheitlich schon dieser Punkt, um dagegen zu stimmen. Petra Sitte wollte sich auf Anfrage von Telepolis nicht zu den Gründen ihrer Enthaltung äußern.

Miteinander zu tun haben beide Gesetzesänderungen nur insofern, dass durch die Verschärfung des Paragraphen 130 theoretisch weitere Organisationen und Personen kriminalisiert werden könnten, deren Vergehen dann gespeichert werden. Aber der Umgang der Gerichte damit wird sich erst zeigen.