"Vollgeld", Giralgeld, Helikoptergeld, "Schuldgeld" , Zinsen ...

Seite 2: "Vollgeld": Unbegrenztes Freibier für alle?

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"Vollgeld" hört sich so an, als gäbe es auch "Halbgeld" oder sonstige minderwertige Euros, Dollars, Franken, etc. Aber ein Euro ist wie jeder andere Euro, ein Zentralbank-Franken ist von einem Giralgeld-Franken nicht unterscheidbar. Mit dem "Vollgeld"-Etikett werben viele der Geldsystemkritiker für eine Abschaffung der Giralgeldschöpfung durch die Banken. Stattdessen sollten nur noch die Zentralbanken Geld aus dem Nichts schöpfen dürfen, und alle Probleme des ungezügelten Kapitalismus seien gelöst.

Sogar der Internationale Währungsfonds sah sich veranlasst, das als "Chicago Plan" bezeichnete "Vollgeld" zu untersuchen. Die Bundesbank befasste sich in ihrem Monatsbericht 4/2017 damit.

Beim "Vollgeld" gibt es Varianten: In der einfachsten Form verleihen die Zentralbanken das Geld an die Geschäftsbanken, und diese verleihen es an die Unternehmen und Konsumenten. Wenn die Geldschöpfung zentral bei Notenbanken statt dezentral bei Geschäftsbanken stattfindet, ändert sich nicht wirklich viel. Entscheidend ist, wer die Zinsen erhält.

In einer radikaleren Variante sollen daher die Geschäftsbanken keine Zinsen mehr einnehmen dürfen und dadurch ihre Existenzgrundlage verlieren, während eine gigantische Monopol-Zentralbank über jeden Kredit im Währungsraum entscheiden und die Geldmenge kontrollieren würde. Ob und wie die Geldmenge und Geldschöpfung gesteuert werden könnte und müsste, ist ein Streit, der Bibliotheken und Foren füllt.

In der radikalsten Variante, die zum Beispiel Mark Joób von der Schweizer Vollgeld-Initiative beschrieb, kommt noch hinzu, dass "die Nationalbank das Vollgeld mittels Ausschüttungen schuldfrei in Umlauf bringt", beziehungsweise dass "die Geldemission nicht länger an die Verschuldung von Wirtschaft und Gesellschaft gekoppelt sein" soll.

Weil man das angeblich böse "Schuldgeld" durch "Vollgeld" ersetzen will, soll also niemand mehr Schulden haben, der einen Kredit aufnimmt. Darin steckt eine Zwickmühle: Geld aus Krediten kann nicht ohne Schulden des Kreditnehmers ausgezahlt werden. Egal, ob das Geld bei einer Zentralbank oder Geschäftsbank entsteht, und egal, wie man das Geld etikettiert: Schulden der Kreditnehmer liegen in der Natur von Krediten. Geld aus Krediten ist immer das, was Geldsystemkritiker als "Schuldgeld" abschaffen wollen.

Eine Übertragung von Geld ohne Schulden ist kein Kredit, sondern ein Geschenk. Kredite ohne Schulden bedeuten grenzenloses Helikoptergeld für alle. Die unvermeidliche Folge von massenhaft verschenktem Geld ist dessen völlige Entwertung. Die Forderung der Initiative bedeutet zudem die Abschaffung des gesamten Kreditgeschäfts für die Banken.

Da Banken dann nichts mehr bleibt als die Verwaltung von Konten, die Abwicklung des Zahlungsverkehrs und der Betrieb von Geldautomaten, würde das zu drastischen Gebühren und der Frage führen, warum nicht gleich die Zentralbank alle Konten verwaltet und Geldautomaten betreibt. Das wäre das Ende aller Banken.

Die Folgen der Forderungen wirken gelinde gesagt undurchdacht.

Nur zu hohe Zinsen / Profite und Vermögen sind ein Problem

"Das Problem ist nicht der Zins. Das Problem ist der Zinseszins." (Margrit Kennedy, Leitfigur der Geldsystemkritiker)

Wie "Die Umverteilung von Arm nach Reich durch Profite" erläutert, sind Kreditzinsen nur eine von mehreren Zinsarten. Der wichtigste Zins ist nicht der Kreditzins, sondern der Profit beim Handel mit Waren und Dienstleistungen.

Geldsystemkritiker behaupten, dass das Geld für die Zinsen fehle, das gemäß der Geschichte "Fabian der Goldschmied/Banker - gib mir die Welt plus 5%" gar nicht erwirtschaftet werden könne. Der Denkfehler der Geschichte offenbart sich in der Szene, in der der Geschäftsmann dem Banker Fabian erklärt, dass das System nicht funktionieren kann, wenn die Bank Geld hortet und aus dem Verkehr zieht.

Der Geschäftsmann erklärt auch, dass das Kredit- und Zinssystem sehr wohl funktionieren könne, wenn die Bank die Zinserträge wieder in die Wirtschaft zurückfließen lassen würde, indem sie einfach Waren und Dienstleistungen einkauft wie alle anderen auch.

Die Rolle der Bank ist dabei austauschbar: Wenn der Bäcker 5 Prozent Profit macht und die Profite hortet, statt sie auszugeben und in die Wirtschaft zurück fließen zu lassen, ist das Problem exakt das Gleiche: Das Problem ist die Hortung von Vermögen mit Zinseszins, nicht der Zins an sich. Zinsen / Profite sind nichts anderes als der Unternehmerlohn und unverzichtbar, um eine Motivation zu schaffen, unternehmerisch tätig zu sein.

Ohne Zins gibt es nur Kommunismus und keinen Wohlstand. Wer die Unverzichtbarkeit (nicht zu hoher!) Zinsen vertiefen möchte, dem sei Kapitel 11 "Schulden und Zinsen? Ja, bitte" in Ulrike Herrmann in ihrem Buch "Der Sieg des Kapitals" empfohlen.

"Geld gleich Schuld" ist falsch

Ein Klassiker der Geldsystemkritiker ist die Behauptung, alles Geld sei durch Schulden belastet. Wie "Mythos Schuldgeld" detailliert erläutert, ist das falsch. Die Creditreform-Studie "Insolvenzen in Europa" listet Jahr für Jahr zwischen 100.000 und 150.000 Insolvenzen im Euro-Raum auf, bei denen jedes Jahr rund 3 Prozent der Euro-Geldmenge M1 als Forderungen abgeschrieben werden, teils von Banken, teils von Unternehmen.

Das Geld, dass die insolventen Unternehmen und Verbraucher als Kredit aufgenommen haben, ist weiterhin im Umlauf. Wenn man davon ausgeht, dass Banken die Haupt-Gläubiger dieser Zahlungsausfälle sind, heißt das:

Etwa 2 Prozent der durch Banken per Kredit geschöpften Netto-Beträge (ohne Zinsen) werden von den Banken abgeschrieben. Das Geld ist raus aus den Büchern, aber schuldenfrei in Umlauf, da die Kreditnehmer es längst ausgegeben haben. Multipliziert man diesen Prozentsatz mit den letzten 50 Jahren, heißt das:

Fast alles Geld, das im Umlauf ist, ist schuldenfrei. Einzige Ausnahme ist lediglich das Geld, das für laufende Kredite zurückbezahlt werden muss. Da liegt es in der Natur der Sache, und es ist gleichgültig, ob das Geld ursprünglich von einer Notenbank oder Geschäftsbank kam. Ein Problem durch "Schuldgeld" existiert nicht.

Richtig ist, dass die Schulden des Einen immer die Forderungen des Anderen sind. Falsch ist jedoch, dass es kein Geld und kein sonstiges Vermögen ohne Schulden gibt: Die Vermögen liegen um ein Vielfaches über den Schulden, in Deutschland etwa um das Fünffache.

Geldbilanz-Grafiken, die angeblich auf Bundesbank-Daten basieren und zeigen sollen, dass alles Geld gleich Schulden ist, sind frei erfunden. Einfacher Fake-Test: In der Grafik sollen auch Aktien und Lebensversicherungen Geld sein, um die Zahlen irgendwie passend zu machen. Fragen: Wie kann man etwas als Geld betrachten, das keine der oben genannten Geld-Definitionen erfüllt? Wie zahlt man mit Aktien? Wie bildet die Grafik die Schwankungen der Aktienmärkte ab? Wessen Schulden steigen exakt analog zum Anstieg von Aktienkursen - und warum? Wie grenzt man Aktienbesitzer aus dem Euroraum von denen außerhalb ab? Warum sollen Aktien, die nichts anderes sind als Unternehmensanteile, Geld sein, GmbH-Anteile jedoch nicht?

Fazit

Die Welt hat Unmengen Probleme. Das Geldsystem gehört nicht dazu. Die Geldsystemkritik wirkt gelinde gesagt realitätsfremd und undurchdacht, wie auch die Widersprüchlichkeiten und Streitereien in den Forenkommentaren unter Geldsystem-Artikeln zeigen. Üblicherweise werden alle als ahnungslos beschimpft, die nicht die eigene Meinung teilen. Dabei vergessen die Geldsystemkritiker, die ihre Mitmenschen zu einem Kampf gegen ihre Windmühlen animieren wollen, die wichtigste Regel zur Gewinnung von Mitstreitern: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Wer nicht überzeugt, muss die Gründe dafür untersuchen.

Wer aus dieser Welt eine bessere machen möchte, sollte seine Energie in umsetzbare und mehrheitsfähige Lösungen der tatsächlichen Probleme investieren.

Über den Autor: Jörg Gastmann ist Buchautor und Sprecher der NGO economy4mankind.org, die das alternative Wirtschaftssystem Economic Balance System vertritt.