zurück zum Artikel

"Vollgeld", Giralgeld, Helikoptergeld, "Schuldgeld" , Zinsen ...

Bild: US Bureau of Engraving and Printing, Washington D.C., Druckerei des US Dollar. Foto: Jörg Gastmann

Kaum ein Thema verschwendet so viel Energie wie die Geldsystemkritik

Teil 1: Das Geldsystem ist nicht das Problem [1]beschäftigte sich mit der Definition von Geld, "umlaufgesichertem Freigeld", Regiogeld, der Schöpfung von Geld aus dem Nichts und der Golddeckung. In diesem zweiten Teil geht es um Probleme, die im kaum gezügelten Kapitalismus ganz woanders liegen.

Buntes Vermischen der Systeme

Geldsystemkritiker setzen Dinge gleich, die zwar Schnittmengen aufweisen, aber nicht gleichbedeutend sind: Finanzsystem, Bankensystem und Geldsystem sind reichlich unterschiedliche Dinge. Würde man zum Beispiel das Finanzsystem vollkommen von Spekulationen und Wettgeschäften befreien, würde das am Geldsystem nicht das Geringste ändern. Gäbe es im Bankensystem keine privaten Banken mehr, und hätten Banken nicht mehr die Möglichkeit, Giralgeld durch Kreditvergabe selbst zu schöpfen, würde auch das nichts am Geld ändern.

An dieser Stelle haben Geldsystemkritiker üblicherweise zwei weitere Argumente: Erstens könne das Geld der Einen immer nur durch die Schulden der Anderen existieren, und zweitens könnten die Zinsen für das durch Kredite geschöpfte Geld gar nicht erwirtschaftet werden. Stimmt das?

"Vollgeld", Giralgeld, Helikoptergeld

Geld (als gesetzliches Zahlungsmittel) entsteht an zwei Orten: Bei Zentral- und Geschäftsbanken. Zentralbanken (Notenbanken) schöpfen Geld auf mehrere Arten: Bei Währungsreformen wie zum Beispiel in der Bundesrepublik 1948 erhielten (zusätzlich zum Umtausch alter Reichsmark) alle Bürger pro Kopf 60 D-Mark, alle Unternehmen pro Arbeitnehmer 60 D-Mark und alle öffentlichen Haushalte eine durchschnittliche Monatseinnahme geschenkt. Das war nichts anderes als aus dem Nichts geschöpftes "Helikopter-Geld". Bei dieser "Geldschöpfung aus dem Nichts" hat sich niemand darüber beklagt, die D-Mark sei wertloses bedrucktes Papier.

Am 26. Februar 2020 kündigte die Regierung von Hongkong die Emission von Helikoptergeld [2] an: Jeder Bürger erhält 10.000 Hongkong Dollar (rund 1.200 Euro) geschenkt, um Konjunktureinbrüche durch das Corona-Virus zu mildern. Das ist bisher noch die Ausnahme, aber offensichtlich möglich, ohne Inflation auszulösen, sofern das Volumen nicht zu groß wird. In Simbabwe oder Venezuela, aber auch im Deutschland der 1920er Jahre hat das nicht funktioniert.

In wohldosierter Menge könnte Helikoptergeld eine zusätzliche Kaufkraft schaffen, ohne die Inflation zu erhöhen. Aber ist diese Büchse der Pandora einmal geöffnet, ist fraglich, ob die Regierungen und Zentralbankchefs dieses Instrument nicht immer hemmungsloser nutzen, wenn die Kaufkraftkrisen der Kapitalismus systembedingt immer größer werden.

Spiegel-Kolumnist Thomas Fricke forderte im September ganz vehement EZB-Chefin Christine Lagarde auf, Helikoptergeld einzusetzen, und machte dabei folgende Rechnung auf [3]: "Hätte die Euro-Notenbank die rund 2,6 Billionen Euro, die sie seit 2015 in den Aufkauf von Anleihen gesteckt hat, gerecht auf jeden der rund 340 Millionen Euro-Bürger aufgeteilt und verschicken lassen, hätte jeder von uns seither sage und schreibe 7500 Euro bekommen. Und ein Großteil wäre seither nicht in Aktien, sondern in den Kauf realer Waren gegangen. Was die Wirtschaft, wenn so etwas in einem stetigen Fluss kommt, sicher deutlich stärker zu Investitionen angeregt hätte, als dies beim Geldschaffen via Finanzwelt der Fall ist."

Beim World Economic Forum wird ernsthaft darüber diskutiert [4], und in den USA sind Bernie Sanders [5] und Alexandria Ocasio-Cortez prominente Anhänger der Idee der "Modern Monetary Theory" [6] (MMT). Dieses Gelddrucken nach Bedarf ist ein Eingestehen der Ineffizienz von Steuersystemen und ein Akt der Verzweiflung mit dem hohen Risiko eines Dammbruchs. Trotzdem oder gerade deshalb könnte die MMT früher oder später unvermeidlich werden, falls es keine Alternative [7] gibt.

Bis dahin ist der wichtigste Weg der Notenbanken, um die Geldmenge zu erhöhen, die Kreditvergabe an Banken, die damit wiederum Kredite an Unternehmen und Konsumenten geben (sollen). Das soll für Investitionen, Konsum und Wirtschaftswachstum sorgen. Dass dieses Konzept nicht (mehr) funktioniert, lässt sich weltweit beobachten:

Den Menschen fehlt aufgrund zu niedriger Löhne und Renten die Kaufkraft für einen höheren Konsum. Wo die Nachfrage nicht steigt, gibt es für Unternehmen keinen Grund, zusätzliche Kapazitäten aufzubauen. Dem Angebot der Kredite fehlt also die Nachfrage. Selbst Kredite mit Zinsen von fast Null Prozent werden nicht genutzt. Wobei Banken weiterhin ohnehin nur Regenschirme bei Sonnenschein verleihen:

Wer solvent ist, würde Kredite erhalten, braucht sie aber nicht. Wer knapp bei Kasse ist, oder wer (zum Beispiel als Mensch über 60) einen Kredit ohne ausreichende Sicherheiten aufnehmen will, erhält ihn nicht. Wirtschaftswachstum per Geldmengenerhöhung könnte nur funktionieren, wenn es den Konsumenten zugute kommt, und zwar als Helikoptergeld, denn Kredite verringern selbst bei geringen Zinsen die Kaufkraft. Die bessere Lösung sind höhere Einkommen für alle. Wie das möglich ist, wird das Thema eines weiteren Artikels.

Eine weitere Möglichkeit der Notenbanken, Geld "aus dem Nichts" in Umlauf zu bringen, ist der Aufkauf von Staatsanleihen. Staaten, deren Einnahmen nicht ausreichen (also praktisch alle), leihen sich durch Staatsanleihen Geld. Legaler, aber illegitimer Schachzug dabei: Banken und Versicherungen werden gesetzlich gezwungen, einen mehr oder weniger großen Teil ihres Kapitals in Staatsanleihen anzulegen. Da alle Staaten (sogar Saudi-Arabien und Norwegen) ihre Staatsschulden entweder nicht zurückzahlen könnten oder wollen, würde der weltweite Crash des Systems drohen.

Damit dieser Crash nicht kommt, kaufen die Notenbanken unbegrenzt Staatsanleihen auf, was nichts anderes ist als grenzenloses Gelddrucken. Wer diese Politik der EZB kritisiert, hat die Folgen der Alternative nicht durchdacht: Ohne diese "Bazooka" der Notenbanken würden früher oder später alle Staaten zahlungs- und damit handlungsunfähig. In einer Kettenreaktion würden die verschuldetsten Staaten selbst die gesündesten Staaten mitreißen.

Schlechte Nachricht für Crash-Gurus: Das wird nicht passieren. Die Welt steckt aus mehreren Gründen in einer Abwärtsspirale und läuft meines Erachtens zwangsläufig auf gewaltsame Aufstände zu. Zu den Gründen gehört jedoch nicht das Geldsystem, sondern hauptsächlich der ungezügelte Kapitalismus, der die Gesellschaft und Demokratien zerstört und den Planeten buchstäblich auffrisst.

Ein Crash kann übrigens auch nicht durch die Target 2 Salden der europäischen Notenbanken entstehen, denn sie sind lediglich Außenhandelsstatistiken, und keine Forderungen [8].

Giralgeld-Schöpfung durch Geschäftsbanken

Die meisten Menschen beschäftigen sich nicht mit dem Geldsystem, da sie weder ein Problem noch einen Sinn darin sehen, Zeit in ein hochkompliziertes Dickicht zu investieren. Geldsystemkritiker versuchen dieses Desinteresse durch die Behauptung angeblicher Probleme zu knacken. Das größte Problem ist ihrer Meinung nach die Geldschöpfung und -buchung der Geschäftsbanken.

Wenn Banken Konten verwalten und auf diesen Konten Geld zu- und abfließt, muss es gemäß der Buchhaltungsregeln des Handelsgesetzbuchs und dem Kontenrahmen der Kreditinstitutsrechnungslegungsverordnung [9] verbucht werden. In der doppelten Buchhaltung und im Banken-Kontenrahmen gibt es keine andere Möglichkeit, als Guthaben der Kunden auf Girokonten auf einem Konto zu buchen, dass sich "Verbindlichkeiten gegenüber Kunden" nennt. So what?

Alle Inhaber von Bankkonten, die sich nicht mit dem Geldsystem beschäftigen - also so gut wie alle - gehen davon aus, dass ein Girokonto für Ihr digitales Giralgeld das gleiche ist wie ein Schließfach für Bargeld, oder ein Parkhaus für Autos: Man stellt sein Geld oder Auto zur Aufbewahrung ab und holt es ab, wenn man es braucht.

Niemand betrachtet das abgestellte Auto als Kredit an den Parkhauseigentümer. Keinem normalen Bürger kommt in den Sinn, dass Banken das Guthaben auf ihrem Konto als Forderung an die Bank verbuchen. Wie die Bank ihr Geld als Forderung/Verbindlichkeit bucht, ist den Bürgern und Unternehmen egal, so lange die frei darüber verfügen können. Und schließlich gibt es keinen keinen Kreditvertrag zwischen Kontoinhaber und Bank. Oder doch?

In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken stehen zwar solche Formulierungen - nur liest diese in Anbetracht von Unverständlichkeit und Umfang niemand. Bürger verlassen sich darauf, das der Gesetzgeber sie vor überraschenden Vertragsklauseln und Verträgen schützt, deren Inhalte nicht ihrem Willen entsprechen. Und das tut der Gesetzgeber auch, und zwar durch § 305 c BGB [10].

Demnach werden "alle Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die … so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht, nicht Vertragsbestandteil." Absatz 2 besagt: Zweifel bei der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen gehen zu Lasten des Verwenders - in diesem Fall der Banken. Wenn also Bürger gutgläubig davon ausgehen, dass sie den Banken durch Kontoguthaben keinen Kredit geben, dann stützt § 305 c BGB diese Ansicht.

Einen Richterspruch hierzu gab es meines Wissens noch nie, weil es noch nie einen Schaden und daher auch nie eine Klage durch diese Klauseln gab. Ein Problem entstünde erst, wenn nach Bankenpleiten der Einlagensicherungsfonds nicht funktioniert, und dann würde höchstwahrscheinlich die "EZB Bazooka" [11] auf Girokonten ausgeweitet.

Das vorangestellt, kommen wir zum größten angeblichen Problem der Geldsystemkritiker: Geschäftsbanken schöpfen Geld aus dem Nichts. Auf dieser Seite [12] erklärt die Bundesbank, wie Geld bei Geschäftsbanken entsteht: Vor allem durch Kredite. Wenn eine Bank einen Kredit vergibt, schreibt sie den Kreditnehmern einfach den Betrag auf dem Konto gut. Das können Banken in hohem, aber nicht unbegrenzten Umfang tun.

Das Geld entsteht tatsächlich aus dem Nichts, nur durch eine Buchung. Die Geldmenge steigt, und die Bilanz der Bank wird verlängert. Zahlen die Kreditnehmer das Geld zurück, sinkt die Geldmenge wieder, und die Bilanz wird wieder verkürzt. Die Geldmenge atmet gewissermaßen, dezentral, je nach Bedarf und Kreditwürdigkeit.

Hinzu kommen die Zinsen, die die Kreditnehmer zahlen. Diese Zinsen sind nichts anderes als der Profit der Bank. Ob eine Bank, ein Händler oder ein Industrieunternehmen durch seine Geschäftstätigkeit einen Profit erzielt, kommt gesamtwirtschaftlich auf das Gleiche heraus. Wichtig ist nur, dass die Profite zurück in die Wirtschaft oder in die öffentlichen Haushalte fließen. Deshalb ist es auch sinnlos, den Banken die Möglichkeit zu entziehen, durch Kredite dezentral Geld zu schöpfen:

"Vollgeld": Unbegrenztes Freibier für alle?

"Vollgeld" hört sich so an, als gäbe es auch "Halbgeld" oder sonstige minderwertige Euros, Dollars, Franken, etc. Aber ein Euro ist wie jeder andere Euro, ein Zentralbank-Franken ist von einem Giralgeld-Franken nicht unterscheidbar. Mit dem "Vollgeld"-Etikett werben viele der Geldsystemkritiker für eine Abschaffung der Giralgeldschöpfung durch die Banken. Stattdessen sollten nur noch die Zentralbanken Geld aus dem Nichts schöpfen dürfen, und alle Probleme des ungezügelten Kapitalismus seien gelöst.

Sogar der Internationale Währungsfonds sah sich veranlasst, das als "Chicago Plan" [13] bezeichnete "Vollgeld" zu untersuchen. Die Bundesbank befasste sich in ihrem Monatsbericht 4/2017 [14] damit.

Beim "Vollgeld" gibt es Varianten: In der einfachsten Form verleihen die Zentralbanken das Geld an die Geschäftsbanken, und diese verleihen es an die Unternehmen und Konsumenten. Wenn die Geldschöpfung zentral bei Notenbanken statt dezentral bei Geschäftsbanken stattfindet, ändert sich nicht wirklich viel. Entscheidend ist, wer die Zinsen erhält.

In einer radikaleren Variante sollen daher die Geschäftsbanken keine Zinsen mehr einnehmen dürfen und dadurch ihre Existenzgrundlage verlieren, während eine gigantische Monopol-Zentralbank über jeden Kredit im Währungsraum entscheiden und die Geldmenge kontrollieren würde. Ob und wie die Geldmenge und Geldschöpfung gesteuert werden könnte und müsste, ist ein Streit, der Bibliotheken und Foren füllt.

In der radikalsten Variante, die zum Beispiel Mark Joób von der Schweizer Vollgeld-Initiative beschrieb [15], kommt noch hinzu, dass "die Nationalbank das Vollgeld mittels Ausschüttungen schuldfrei in Umlauf bringt", beziehungsweise dass "die Geldemission nicht länger an die Verschuldung von Wirtschaft und Gesellschaft gekoppelt sein" [16] soll.

Weil man das angeblich böse "Schuldgeld" durch "Vollgeld" ersetzen will, soll also niemand mehr Schulden haben, der einen Kredit aufnimmt. Darin steckt eine Zwickmühle: Geld aus Krediten kann nicht ohne Schulden des Kreditnehmers ausgezahlt werden. Egal, ob das Geld bei einer Zentralbank oder Geschäftsbank entsteht, und egal, wie man das Geld etikettiert: Schulden der Kreditnehmer liegen in der Natur von Krediten. Geld aus Krediten ist immer das, was Geldsystemkritiker als "Schuldgeld" abschaffen wollen.

Eine Übertragung von Geld ohne Schulden ist kein Kredit, sondern ein Geschenk. Kredite ohne Schulden bedeuten grenzenloses Helikoptergeld für alle. Die unvermeidliche Folge von massenhaft verschenktem Geld ist dessen völlige Entwertung. Die Forderung der Initiative bedeutet zudem die Abschaffung des gesamten Kreditgeschäfts für die Banken.

Da Banken dann nichts mehr bleibt als die Verwaltung von Konten, die Abwicklung des Zahlungsverkehrs und der Betrieb von Geldautomaten, würde das zu drastischen Gebühren und der Frage führen, warum nicht gleich die Zentralbank alle Konten verwaltet und Geldautomaten betreibt. Das wäre das Ende aller Banken.

Die Folgen der Forderungen wirken gelinde gesagt undurchdacht.

Nur zu hohe Zinsen / Profite und Vermögen sind ein Problem

"Das Problem ist nicht der Zins. Das Problem ist der Zinseszins." (Margrit Kennedy, Leitfigur der Geldsystemkritiker)

Wie "Die Umverteilung von Arm nach Reich durch Profite" [17] erläutert, sind Kreditzinsen nur eine von mehreren Zinsarten. Der wichtigste Zins ist nicht der Kreditzins, sondern der Profit beim Handel mit Waren und Dienstleistungen.

Geldsystemkritiker behaupten, dass das Geld für die Zinsen fehle, das gemäß der Geschichte "Fabian der Goldschmied/Banker - gib mir die Welt plus 5%" gar nicht erwirtschaftet werden könne. Der Denkfehler der Geschichte offenbart sich in der Szene, in der der Geschäftsmann dem Banker Fabian erklärt, dass das System nicht funktionieren kann, wenn die Bank Geld hortet und aus dem Verkehr zieht.

Der Geschäftsmann erklärt auch, dass das Kredit- und Zinssystem sehr wohl funktionieren könne, wenn die Bank die Zinserträge wieder in die Wirtschaft zurückfließen lassen würde, indem sie einfach Waren und Dienstleistungen einkauft wie alle anderen auch.

Die Rolle der Bank ist dabei austauschbar: Wenn der Bäcker 5 Prozent Profit macht und die Profite hortet, statt sie auszugeben und in die Wirtschaft zurück fließen zu lassen, ist das Problem exakt das Gleiche: Das Problem ist die Hortung von Vermögen mit Zinseszins, nicht der Zins an sich. Zinsen / Profite sind nichts anderes als der Unternehmerlohn und unverzichtbar, um eine Motivation zu schaffen, unternehmerisch tätig zu sein.

Ohne Zins gibt es nur Kommunismus und keinen Wohlstand. Wer die Unverzichtbarkeit (nicht zu hoher!) Zinsen vertiefen möchte, dem sei Kapitel 11 "Schulden und Zinsen? Ja, bitte" in Ulrike Herrmann in ihrem Buch "Der Sieg des Kapitals" empfohlen.

"Geld gleich Schuld" ist falsch

Ein Klassiker der Geldsystemkritiker ist die Behauptung, alles Geld sei durch Schulden belastet. Wie "Mythos Schuldgeld" [18] detailliert erläutert, ist das falsch. Die Creditreform-Studie "Insolvenzen in Europa" listet Jahr für Jahr zwischen 100.000 und 150.000 Insolvenzen im Euro-Raum auf, bei denen jedes Jahr rund 3 Prozent der Euro-Geldmenge M1 als Forderungen abgeschrieben werden, teils von Banken, teils von Unternehmen.

Das Geld, dass die insolventen Unternehmen und Verbraucher als Kredit aufgenommen haben, ist weiterhin im Umlauf. Wenn man davon ausgeht, dass Banken die Haupt-Gläubiger dieser Zahlungsausfälle sind, heißt das:

Etwa 2 Prozent der durch Banken per Kredit geschöpften Netto-Beträge (ohne Zinsen) werden von den Banken abgeschrieben. Das Geld ist raus aus den Büchern, aber schuldenfrei in Umlauf, da die Kreditnehmer es längst ausgegeben haben. Multipliziert man diesen Prozentsatz mit den letzten 50 Jahren, heißt das:

Fast alles Geld, das im Umlauf ist, ist schuldenfrei. Einzige Ausnahme ist lediglich das Geld, das für laufende Kredite zurückbezahlt werden muss. Da liegt es in der Natur der Sache, und es ist gleichgültig, ob das Geld ursprünglich von einer Notenbank oder Geschäftsbank kam. Ein Problem durch "Schuldgeld" existiert nicht.

Richtig ist, dass die Schulden des Einen immer die Forderungen des Anderen sind. Falsch ist jedoch, dass es kein Geld und kein sonstiges Vermögen ohne Schulden gibt: Die Vermögen liegen um ein Vielfaches über den Schulden [19], in Deutschland etwa um das Fünffache.

Geldbilanz-Grafiken [20], die angeblich auf Bundesbank-Daten basieren und zeigen sollen, dass alles Geld gleich Schulden ist, sind frei erfunden. Einfacher Fake-Test: In der Grafik sollen auch Aktien und Lebensversicherungen Geld sein, um die Zahlen irgendwie passend zu machen. Fragen: Wie kann man etwas als Geld betrachten, das keine der oben genannten Geld-Definitionen erfüllt? Wie zahlt man mit Aktien? Wie bildet die Grafik die Schwankungen der Aktienmärkte ab? Wessen Schulden steigen exakt analog zum Anstieg von Aktienkursen - und warum? Wie grenzt man Aktienbesitzer aus dem Euroraum von denen außerhalb ab? Warum sollen Aktien, die nichts anderes sind als Unternehmensanteile, Geld sein, GmbH-Anteile jedoch nicht?

Fazit

Die Welt hat Unmengen Probleme. Das Geldsystem gehört nicht dazu. Die Geldsystemkritik wirkt gelinde gesagt realitätsfremd und undurchdacht, wie auch die Widersprüchlichkeiten und Streitereien in den Forenkommentaren unter Geldsystem-Artikeln zeigen. Üblicherweise werden alle als ahnungslos beschimpft, die nicht die eigene Meinung teilen. Dabei vergessen die Geldsystemkritiker, die ihre Mitmenschen zu einem Kampf gegen ihre Windmühlen animieren wollen, die wichtigste Regel zur Gewinnung von Mitstreitern: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Wer nicht überzeugt, muss die Gründe dafür untersuchen.

Wer aus dieser Welt eine bessere machen möchte, sollte seine Energie in umsetzbare und mehrheitsfähige Lösungen der tatsächlichen Probleme investieren.

Über den Autor: Jörg Gastmann ist Buchautor [21] und Sprecher der NGO economy4mankind.org, die das alternative Wirtschaftssystem Economic Balance System [22] vertritt.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4681969

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Das-Geldsystem-ist-nicht-das-Problem-4681960.html
[2] https://unherd.com/thepost/helicopter-money-finally-lands-in-hong-kong/
[3] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/christine-lagarde-besser-helikoptergeld-als-mario-draghis-minuszinsen-a-1300981.html
[4] https://www.weforum.org/agenda/2016/05/adair-turner-in-defense-of-helicopter-money
[5] https://www.cnbc.com/2019/03/01/bernie-sanders-economic-advisor-stephanie-kelton-on-mmt-and-2020-race.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Modern-Monetary-Economics-auf-dem-Weg-zum-oekonomischen-Mainstream-3386813.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Steuersystem-grundsaetzlich-neu-denken-4329897.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Der-Target-2-Hoax-4118573.html?seite=all
[9] https://www.datev.de/dnlexom/v2/content/files/st2112077451.pdf
[10] https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__305c.html
[11] https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/pro-und-contra-draghis-bazooka-fluch-oder-segen/8552482.html
[12] https://www.bundesbank.de/de/aufgaben/themen/wie-geld-entsteht-665288
[13] https://www.imf.org/external/pubs/ft/wp/2012/wp12202.pdf
[14] https://www.bundesbank.de/resource/blob/665284/d226f46518f875047c6f83c65ad707fe/mL/2017-04-monatsbericht-data.pdf
[15] https://blog.tagesanzeiger.ch/politblog/index.php/64696/vollgeld-schafft-arbeitsplaetze/
[16] https://www.oekonomenstimme.org/artikel/2015/04/vollgeld-und-der-schweizer-franken/
[17] https://www.heise.de/tp/features/Die-Umverteilung-von-Arm-nach-Reich-durch-Zinsen-4399964.html
[18] https://www.economy4mankind.org/schuldgeld-im-geldsystem-mythos-fakten-denkfehler/
[19] https://www.economy4mankind.org/schuldgeld-im-geldsystem-mythos-fakten-denkfehler/
[20] https://www.economy4mankind.org/wp-content/uploads/2018/06/vermoegen_schulden_gesamt-banken_zeitreihe_Bundesbank.png
[21] http://www.selectiv-verlag.de/inhaltsverzeichnis-geldlawine/
[22] https://www.economy4mankind.org/de/economic-balance-system-ebs/