Steuersystem grundsätzlich neu denken

Bild: Pixabay, "Verknotetes Stroh" von Ventus17

Vor dem Loslassen gewohnter Fehlkonstruktionen steht die Desillusionierung. Neben der aktuellen Debatte um die Grundsteuer drängt die Mehrwertsteuer ein neues Denken auf.

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"Unsichtbar wird der Wahnsinn, wenn er genügend große Ausmaße angenommen hat." (Bertolt Brecht)

Der erste Teil dieser Serie über ein alternatives Wirtschaftssystem stellte fest, dass das heutige Steuersystem (zumindest langfristig) gar nicht funktionieren kann. Es erfüllt seine Hauptaufgabe nicht, die öffentlichen Haushalte zu finanzieren, und es besteuert die falschen Dinge. Arbeit wird besteuert, was im globalen Lohnstückkosten-Wettbewerb die Arbeit zu sehr verteuert und zudem die Kaufkraft reduziert, auf der die gesamte Volkswirtschaft basiert. Gewinne werden besteuert, obwohl sie von Konzernen leicht ins Ausland verlagert werden können. Wohnen, Nahrung, Kleidung und andere Dinge des Grundbedarfs zu besteuern, ist gesellschaftlich zumindest fragwürdig.

Beispiel Grundsteuer: Nicht grundsätzlich gedacht

Ein aktuelles Beispiel dafür, wie wenig grundsätzlich die Regierungsparteien über Besteuerungen nachdenken, zeigt die Debatte über die Reform der Grundsteuer. Über eine Reform dieser Steuer denken die Regierungsparteien in Bundestag und Bundesrat nur auf äußeren Druck nach, weil das Bundesverfassungsgericht die bisherige Ausgestaltung als verfassungswidrig beurteilte (1 BvL 11/14, 1 BvL 12/14, 1 BvL 1/15, 1 BvR 639/11, 1 BvR 889/12)(Az. 1 BvL11/14).

Das Bundesverfassungsgericht setzte den Regierungsparteien eine Frist bis Ende 2019, um eine Neuregelung umzusetzen. Schaffen sie es nicht bis Ende diesen Jahres, darf keine Grundsteuer mehr erhoben werden, was für die Kommunen den Ausfall von 14 Milliarden Euro Steuereinnahmen bedeuten würde.

Was beim Nachdenken herauskam, ist durchaus typisch für Deutschlands politische Entscheider. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder will lediglich die Wut der Mieter vermeiden, wenn eine höhere Grundsteuer die Mieten weiter explodieren ließe. Söder meinte: "Natürlich müssen wir Steuererhöhungen - und damit Mieterhöhungen - vermeiden. Denn die Grundsteuer wird sofort auf die Mieter umgelegt." Warum die Grundsteuer, die ja eigentlich Immobilieneigentum besteuern soll, überhaupt auf Mieter umgelegt werden darf, stellt in der Union niemand infrage.

Der GroKo-Partner SPD ist immerhin einen Schritt weiter. In dieser Woche forderte Carsten Schneider, erster parlamentarischer Geschäftsführer der SPD Bundestagsfraktion, dass die Grundsteuer nicht mehr von den Vermietern auf die Mieter umgelegt werden darf. Damit folgt die SPD den Grünen und Linken, die dies bereits Anfang 2018 forderten. Die Linke will zudem die Grundsteuer für "gemeinwohlorientierte Wohnungsgesellschaften" abschaffen.

Das wäre zwar ein überfälliger Schritt in die richtige Richtung, aber nicht konsequent durchdacht: Warum sollen nur Mieter keine Grundsteuer mehr zahlen, die Bewohner von Eigenheimen aber weiterhin? Wie verhindert man, dass die Vermieter die Grundsteuer trotzdem von den Mietern wieder holen, indem sie einfach nach und nach die Kaltmiete entsprechend erhöhen? Warum sollen Mieter gemeinwohlorientierter Wohnungen von der Grundsteuer befreit werden, alle anderen Mieter aber nicht? Was können Mieter für die Strukturen ihrer Vermieter?

Ein weiterer Streitpunkt ist die Bemessung der Grundsteuer nach Fläche (Union, FDP) oder Marktwert (SPD, Grüne, Linke) eines Grundstücks. Auch hier ist typisch: Union und FDP sorgen sich um die Eigentümer teurer Immobilien, während die SPD ein wenig Herz für die unteren Schichten entdeckt hat. Wie man allerdings bis Dezember 2019 35 Millionen Grundstücke mit Einzelfallgerechtigkeit bewerten will, bleibt unklar.

Keine dieser Parteien hat grundsätzlich gedacht: Warum besteuern die Regierungsparteien das elementare menschliche Grundbedürfnis des Wohnens?

Betrachten wir die restlichen Parteien. Die AfD will die Grundsteuer abschaffen und dies durch eine höhere Einkommensteuer gegenfinanzieren. Die finanzielle Wirkung für die Bewohner wäre die gleiche wie bei SPD, Grünen und der Linken. Die Piratenpartei will die Grundsteuer behalten, allerdings in der Variante der Bodenwertsteuer, auf die ich in einem späteren Artikel zurückkomme. Die ÖDP will die Grundsteuer behalten, aber vom Anteil versiegelter Flächen zu bepflanzten Flächen / offenem Erdreich abhängig machen. Martin Sonneborns "Die Partei", die bei der Europawahl die voraussichtlich größte Kleinpartei wird, hat dazu keinen Programmpunkt, ebenso wenig wie das Bündnis Grundeinkommen und die Tierschutzpartei alias "Partei Mensch Umwelt Tierschutz". Die Hanfpartei setzt auf ein ganz anderes Steuersystem ohne Grundsteuer. Die Humanwirtschaftspartei will das "Freiland"-Konzept von Silvio Gesell umsetzen und allen Boden in öffentliches Eigentum überführen. Noch drastischer fordert die MLPD die Einführung des Kommunismus, wodurch es kein Eigentum und keine Steuern mehr gibt. Die restlichen über 100 Kleinparteien haben entweder keinen Programmpunkt dazu, oder sie teilen einen der Programmpunkte der anderen Kleinparteien.

Problemfall Mehrwertsteuer

So wie junge Menschen es gar nicht anders kennen, als dass Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, kennen die meisten Menschen bei der Besteuerung von Umsatz nur die Mehrwertsteuer. Diese wurde allerdings erst am 01.01.1968 eingeführt. Bis dahin galt die einfache Umsatzsteuer alias "Stempelsteuer" für jeden Umsatz auf jeder Produktionsstufe. Das heißt: In den 50er- und 60er-Jahren, also der Zeit des "Wirtschaftswunders", wurde nicht der Mehrwert, sondern der Umsatz besteuert, ab 1951 mit bescheidenen 4 Prozent. Warum änderte die Kiesinger-Regierung ein einfaches, funktionierendes System in das hochkomplizierte Bürokratiemonster "Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug"?

Ein Berater der Düsseldorfer IHK meinte dazu 1968: "Viele Leute haben das Verfahren nicht kapiert, es ist entsetzlich". An der Kompliziertheit der Mehrwertsteuer hat sich bis heute nichts geändert.

Eine Wurst im Imbiss wird mit 19 Prozent besteuert, wenn der Gast sie im Sitzen isst, und mit 7 Prozent, wenn er den Imbiss mit der Wurst verlässt. Strittig ist das Essen im Stehen, sofern zum Beispiel ein Marktplatzstand kein abgrenzbares Außengelände hat. Preisfrage: Ab wieviel Meter Abstand vom Marktstand sinkt der Steuersatz von 19 auf 7 Prozent?

Für den Verkauf eines Esels verlangt das Finanzamt 19 Prozent Mehrwertsteuer, für einen Maulesel 7 Prozent. Islandmoos kostet 7 Prozent, isländisches Moos 19 Prozent. Für Oliven, die "durch längeres Mazerieren in Salzlake unmittelbar genussfähig gemacht sind", definierte das Bundesfinanzministerium 7 Prozent, werden die Oliven dagegen "lediglich vorläufig in Salzlake haltbar gemacht", verlangt das Bundesfinanzministerium 19 Prozent. Kommt der Kaffee aus einem Automaten, enthält er 19 Prozent, bereitet man sich den Kaffee selbst zu, enthält er 7 Prozent. Für Dill zahlt man 7 Prozent, für Basilikum 19 Prozent. Begründung des Bundesfinanzministeriums: Basilikum ist nicht nur ein Lebensmittel (7 Prozent), sondern zusätzlich ein Heilkraut (19 Prozent). Schnittblumen kosten 7 Prozent, Topfblumen 19 Prozent. Liefert ein Friedhofsgärtner die Bepflanzung eines Grabes, sind 7 Prozent fällig, pflanzt er sie auch ein, sind es 19 Prozent. Bei Adventskränzen gilt "je grüner der Kranz, desto geringer die Steuer".

Der Bundesfinanzhof machte den Steuersatz eines "malt beer base" davon abhängig, wie das Getränk schmeckt. Es kann auch niemand erklären, warum Hallen-Tennisstunden für Nicht-Clubmitglieder mit 19% und für Mitglieder mit 7% MwSt. besteuert werden, sofern sie abonniert sind.

In meinem Gespräch mit Dr. Carsten Linnemann, dem Vorsitzenden der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU, berichtete mir dieser von bisher erfolglosen Versuchen der zuständigen Ausschüsse und Fachgruppen, dieses System zu reformieren.

Unser Mehrwertsteuersystem ist nicht nur für Comedy ein Thema, zum Beispiel für das ZDF und den SWR. Auch Betrüger befassen sich damit und schädigen den Fiskus mit Scheinrechnungen für den Vorsteuerabzug um jährlich 23,5 Milliarden Euro - plus Dunkelziffer. Der Vorsteuerabzug ist der Unterschied zur reinen Umsatzsteuer: Jedes Unternehmen überweist dem Finanzamt lediglich die Differenz der Umsatzsteuer aus den Eingangs- und Ausgangsrechnungen - also eine Steuer auf den "Mehrwert". Durch den Vorsteuerabzug lagen die Steuereinnahmen aus der Mehrwertsteuer 2016 bei 217 Milliarden Euro. Das sind rund 22,5 Prozent des gesamten Steueraufkommens 2016 in Höhe von 706 Milliarden Euro. Anders ausgedrückt: 217 Milliarden Eure Einnahmen aus der (Einfuhr-)Umsatzsteuer sind lediglich 3 Prozent von 7.043 Milliarden Euro Inlands-Umsätzen.

Die Mehrwertsteuer ist also ineffizient, hochkompliziert und betrugsanfällig. Warum hat die Kiesinger-Regierung sie dann eingeführt? Dafür gab es 4 Gründe.

Erstens wollte man ein EU-einheitliches System. Das System ist allerdings (bei sämtlichen Steuerarten) mit Ausnahme des Vorsteuerabzugs bis heute nicht EU-einheitlich, und auch die reine Umsatzbesteuerung wäre EU-einheitlich möglich gewesen.

Zweitens wollte man die Wirtschaft entlasten, weil 4 Prozent Umsatzbesteuerung die Marge senkt. Stattdessen sollten die Verbraucher alles allein zahlen. Die Umstellung von der Umsatzsteuer für Kapitaleigentümer auf die Mehrwertsteuer für Verbraucher ist eine Umverteilung von arm nach reich. Umgekehrt wäre eine höhere echte Umsatzsteuer eine Umverteilung von Kapitaleigentümern an den Rest der Gesellschaft.

Drittens sollte die Steuer nicht mehr bei jeder Stufe des Produktionsprozesses kumulieren, damit die Preise nicht zu sehr steigen. Befürworter rechnen schlicht: Hat ein Produkt 8 Produktionsstufen, summiert sich eine Umsatzsteuer von 4 Prozent zu insgesamt 32 Prozent. Das ist weit entfernt von der Realität, denn nur auf Vormaterial, Vorleistungen und Maschinen (deren Kosten über viele Jahre verteilt abgeschrieben werden) zahlt man die Umsatzsteuer. Der beiden größten Positionen der Preiskalkulation sind bei Industrie, Dienstleistungen und Handwerk umsatzsteuerfreie Eigenleistungen / Personalkosten sowie die Marge. Der Handel hat zwar höhere Einkaufspreise, aber auch viel höhere Bruttomargen. Das Ziel, Preise zu senken, wurde 1968 bei der Einführung der Mehrwertsteuer zum Flop: Die Einkaufspreise blieben gleich, weil die Lieferanten durch den Entfall der Umsatzsteuer die eigene Marge erhöhten, während der Handel, Gastronomie und Dienstleister einfach die Mehrwertsteuer als Begründung für Preiserhöhungen zwischen 10 und 50 Prozent nahmen.

Viertens sollte eine Kapitalkonzentration durch eine Erhöhung der Fertigungstiefe vermieden werden. Das heißt: Volkswagen könnte auf die Idee kommen, unter anderem die Sitze seiner Fahrzeuge selbst herzustellen, die Bezüge selbst zu weben, das Garn dafür selbst zu spinnen, das Garn-Rohmaterial Polyester selbst herzustellen und letztendlich nach Öl zu bohren, um daraus selbst die Kunststoffe herzustellen. Mit anderen Worten: Befürworter der Mehrwertsteuer glauben, dass Unternehmen bei einer Wiedereinführung der reinen Umsatzsteuer die Unternehmen wieder ihre Konzentration auf die Kernkompetenzen aufgeben und die Eigenkapitalrendite drücken, um sich als schwerfälliger, unführbarer Gemischtwarenladen zu verzetteln. Die befürchtete Konzentration ist also unrealistisch. Zudem wäre sie durch die Option der "Vorprodukt-Umsatzsteuer" vermeidbar.

Im nächsten Teil dieser Serie: Eine Alternative zum heutigen Steuersystem.

Über den Autor: Jörg Gastmann ist Sprecher der NGO economy4mankind.org, die das alternative Wirtschaftssystem Economic Balance System vertritt. Bereits in den 80er Jahren wunderte er sich beim Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum über die Widersprüche zwischen Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft.

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