Vom Freudo-Marxismus zu Sexpol

Seite 2: Psychoanalyse und Nazi-Faschismus

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1930 befand sich der bereits mit seinem Kieferkrebs kämpfende Freud auf dem Gipfel seines Ruhmes, nahm den Goethepreis der Stadt Frankfurt entgegen und machte sich Hoffnungen auf einen Nobelpreis (Köhler S.58). Ein Wilhelm Reich, der sich als politischer Psychoanalytiker erst in Wien, dann in Berlin profilierte, kam ihm daher sehr ungelegen. Zudem galt Reich mit seiner Orgasmuslehre inzwischen als Dissident - Freuds engerer Zirkel wollte ihn loswerden. Doch Reich stand nicht allein, war vielmehr einer von zwei führenden Köpfen der Fraktion der Linksfreudianer. Der andere war sein Freund Otto Fenichel, der mit seinen geheimen Rundbriefen der eigentliche Organisator der marxistisch orientierten Junganalytiker war.

Während Reich kompromisslos gegen die Nazis kämpfte und die Psychoanalyse zu einer Widerstandsgruppe machen wollte, strebte Freud eine Politik des Heraushaltens und Arrangierens mit dem Faschismus an. Ein innerer Kreis der orthodoxen Analyse, dessen Kern in Wien Freud, seine Tochter Anna Freud und in London der einflussreiche Chef der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), Ernest Jones, bildeten, plante Reichs Ausgrenzung auf dem Kongress in Luzern 1934. 1933 hatte Freud-Sohn Martin Freud, der Chef des IPV-Verlages, Reich den Druck seines Werkes "Charakteranalyse" verweigert, das Reich im Selbstverlag herausbringen musste - das einzige seiner Werke, das heutige Psychoanalytiker noch kennen.

Durch Intrigen und falsche Versprechungen gelang es dem inneren Zirkel, die Linksfreudianer in einen gemäßigten Flügel um Otto Fenichel, der weiter eingebunden werden sollte, und einen kleineren radikalen Teil um Reich zu spalten (Fallend S.66). Reich wurde ausgeschlossen, die ihm gewogene norwegische Landesgruppe, die gerade um ihre Aufnahme in die IPV ersuchte, unter Druck gesetzt, ihn nicht aufzunehmen (Nitzschke S.131). Der Weg war frei für ein Arrangement mit der NS-Regierung in Berlin.

Kooperierten sie (die Psychoanalytiker) hingegen mit Instanzen des totalitären Staats und fanden sie sich bereit, ihr ärztliches Wissen zur Heilung von Funktionären, zur Bekämpfung von Regimegegnern (oder sogar zur Eliminierung von Missliebigen) zur Verfügung zu stellen, dann verstanden sie sich als Spezialisten und glaubten, sie seien weder für die jeweiligen Zwecke... verantwortlich, noch für das humantechnische Rahmenprogramm des faschistischen Menschenfresser-Staats, der sie tolerierte, sofern sie auf Kritik und Widerstand verzichteten... und sich um ihre verjagten oder umgebrachten Kolleginnen und Kollegen nicht weiter bekümmerten.

Helmut Dahmer 2013, Vorwort zu Peglau, S.13

Freud empfahl allen jüdischen Psychoanalytikern, die sich noch nicht in Emigration befanden, freiwillig aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) auszutreten. Das Führungstrio der arischen Analytiker Carl Müller-Braunschweig, Felix Boehm und Harald Schultz-Hencke übernahm den nun "judenreinen" Verein im Auftrag der IPV mit dem Segen ihres Meisters aus Wien. Müller-Braunschweig verpasste der Psychoanalyse ein "deutsches Gesicht" und diente sich den NS-Machthaber mit dem Argument an, "die Psychoanalyse sei stets darum bemüht gewesen, 'unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen' zu erziehen" (Nitzschke S.126).

Völlig absurd war diese Formulierung nicht, hatte doch Freud im letzten Kriegsjahr 1918 in der Habsburger Monarchie erstmals offizielle Anerkennung gefunden, weil sich seine Methode als der traditionellen Psychiatrie in der Behandlung von Kriegsneurotikern ("Kriegszitterern") überlegen gezeigt hatte (Fallend S.34). Die DPG überlebte das Dritte Reich unauffällig ab 1936 als "Arbeitsgruppe A" im Göring-Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, ihre Mitglieder therapierten viele NS-Neurotiker - verboten war nur, von den Nazis als "Juden" definierten Menschen zu mehr Lebenstüchtigkeit zu verhelfen (Peglau S.27).

In Wien, wo Anna Freud 1933 in einem Brief an Ernest Jones über "die Vergewaltigung der Analyse ins Politische" durch Wilhelm Reich gejammert hatte (Nitzschke S.95), machte man sich weniger Sorgen um das Schicksal der gegen die Nazis kämpfenden Kollegen, etwa die Psychoanalytikerin Edith Jacobson, die von 1935-38 in die Folterkeller der Gestapo verschleppt wurde, oder den Psychoanalytiker Karl Landauer, der 1945 schließlich in Bergen-Belsen verhungerte (Dahmer S.177).

Doch Freud, der sich derweil in Wien mit dem faschistischen Dollfuß-Regime arrangiert hatte, wurde mit seinem Teufelspakt nicht glücklich: 1938 holte Hitler seine Heimat Österreich "heim ins Reich". "Der Jude Freud" wurde inhaftiert und von den Nazis nur gegen Lösegeld freigelassen, starb aber kurz darauf. Otto Fenichel starb nach seiner Flucht aus Prag in die USA im Januar 1946, während Reich seine körperorientierte Therapie und Orgasmus-Theorie zuerst in Norwegen, ab 1939 in den USA zur Bion- und Orgon-Forschung ausweitete.

Literaturverzeichnis

Teil 1Reich, die CIA und MKULTRA
Teil 2: Psychoanalyse und Todestrieb

Teil 4 Orgon, Ufos und Paranoia