Vom Freudo-Marxismus zu Sexpol
- Vom Freudo-Marxismus zu Sexpol
- Psychoanalyse und Nazi-Faschismus
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"Der Fall Wilhelm Reich" Teil 3
Wilhelm Reich politisierte die Psychoanalyse zur sexuellen Aufklärung und kämpfte gegen die Verbote von außerehelichem Sex, Verhütung, Abtreibung, Masturbation und gegen autoritäre und repressive Erziehung. Reich gewann dafür zunächst Arbeiterbewegung und KPD als Verbündete. Die Zunft der etablierten Psychoanalytiker wollte seine Sexualpolitik nicht unterstützen und nicht einmal seinen Kampf gegen den Nazi-Faschismus. Die Freudianer grenzten Reich aus, doch nicht nur sie. Auch eine unter Stalins Einfluss prüde gewordene KPD schloss ihn aus der Partei aus.
Teil 2: Psychoanalyse und Todestrieb
Weitgehend übergangen wird von Svobodas Film "Der Fall Wilhelm Reich" der politische Reich, der durch die junge Sowjetunion reiste und seine Hoffnungen auf sexualpolitische Reformen in den Sozialismus setzte. Es fehlt auch die enge Freundschaft zum berühmten Reformpädagogen und Jugendbuchautor A. S. Neill ("Die grüne Wolke"), der in seiner Summerhill-Schule die antiautoritäre Erziehung entwickelte. Ihr Konzept entsprach den Vorstellungen Reichs von erzieherischer Neurose-Vorbeugung in einer weniger repressiven Gesellschaft, die sich in abgeschwächter Form in westlichen Gesellschaften seit den 70ern tatsächlich verbreiteten sollte - was immerhin einige Neurosen seltener werden ließ. Rigide Verbote von Masturbation, außerehelichem Sex und Homoerotik wurden abgebaut und die patriarchale Familienstruktur wurde aufgelockert. Reichs "Sexpol"-Initiative der 1930er bereitete der sexuellen Revolution der 68er den Weg, seine "Massenpsychologie des Faschismus" legte 1933 die erste freudo-marxistische Analyse der Nazi-Bewegung vor.
Ich sage nicht, daß der Sieg bereits errungen ist. Schwere Auseinandersetzungen durch Jahrzehnte stehen noch bevor. Doch ich behaupte, daß die grundsätzliche Bejahung des natürlichen Liebeslebens in unaufhaltsamem Vormarsch ist (...) Ich versichere dem Leser, daß ich mir auch der reaktionären Strömungen in den Vereinigten Staaten voll bewußt bin. Doch hier wie nirgend anderswo besteht die Möglichkeit, für Lebensfreude und die Rechte des Lebendigen einzutreten.
W .Reich, Vorwort von 1949 zu Die sexuelle Revolution (S.11)
Reich machte ab 1922 am Wiener "Psychoanalytischen Ambulatorium für Mittellose" Psychotherapie der Arbeiterschicht zugänglich, während die meisten älteren Analytiker den Kontakt zu unteren Schichten mieden (Laska S.27). Er zog auch politische Konsequenzen aus seinen Erkenntnissen: Die Neurose sei als Massenerscheinung, so wurde Reich klar, nicht durch Einzeltherapien zu beseitigen, sondern nur durch Aufklärung und Prophylaxe in Erziehung und Sexualpolitik.
Sowohl wegen seiner Auffassung von psychischer Gesundheit als auch wegen der von Reich angemahnten politischen Konsequenzen geriet Reich zunehmend in Konflikt mit Freud, der 1927 Reichs "Die Funktion des Orgasmus" nur murrend gebilligt hatte.
1929 gab es erste Anzeichen für ein Zerwürfnis, als Freud ungehalten auf einen Vortrag reagierte, den Reich im Privathaus des Meisters vor dem "inneren Kreis" der Analytiker gehalten hatte. Stein des Anstoßes war Reichs These, "wirtschaftliche und sexuelle Veränderungen des Lebens" seien notwendig, um der "epidemischen" Verbreitung der Neurosen vorzubeugen" (Cremerius S.146).
Reich war 1930 vom sexualpolitisch unfreundlichen Wien ins freiere Berlin übergesiedelt, wo er der KPD beitrat und 1931 den "Deutschen Reichsverband für Proletarische Sexualpolitik" gründete, später die "Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung". In seinem Sexpol-Verlag erschienen zahlreiche Aufklärungsbücher und - broschüren, die sich einer repressiven Gesellschaft und den immer stärker werdenden Nazis entgegenstellten.
Die Massenpsychologie des Faschismus
Reich legte mit seiner "Massenpsychologie des Faschismus" 1933 die erste freudo-marxistische Analyse der Nazi-Bewegung vor. Darin erkannte er einen kausalen Zusammenhang zwischen autoritärer Unterdrückung der Sexualität in der patriarchalischen Familie und autoritärer Ideologie, wobei er auf seine ethnologischen Studien zur sexuellen Zwangsmoral zurückgriff (Reich 1932). Die Familie als Keimzelle des Staates reproduziere Charaktere, die sich einer repressiven Ordnung unterwerfen, obwohl diese rational betrachtet ihren Interessen entgegen steht. Der Faschismus verstehe es leider besser als die KPD, sich die neurotischen Charakterstrukturen zu Nutze zu machen, weil er nicht den Verstand, sondern das Unbewusste anspreche.
Dies analysierte Reich auch in Auseinandersetzung mit dem Buch "Mythus des 20. Jahrhunderts" des Nazi-Chefideologen Rosenberg: Im rassistischen Mythos von der "Reinheit des Blutes" tarne sich sexfeindliche Gewaltbereitschaft als asketisch-nordischer Heros, der sich tierhaft-südländischen Triebmenschen entgegenstellen müsse (Reich 1933b, S.126 ff.). Der Nazi-Arier, der Lust verspüre, auf vermeintliche "Untermenschen" einzuprügeln, meine eigentlich seinen eigenen Unterleib und dessen verbotene Gefühle. Pseudowissenschaftlich begründet, in blumige Mythen verpackt, lieferte diese Ideologie den Neurotikern Gründe für ihr selbstschädigendes Verhalten und zugleich Sündenböcke für ihren Hass. Dies spreche, so Reich, die große Mehrheit unpolitischer Menschen an, die gerade wegen ihrer sexuellen Probleme kein politisches Bewusstsein entwickeln könnten (ebd. S.272 f.).
Reichs Schlussfolgerung, politische Arbeit müsse sich vordringlich dem Kampf gegen Neurosen und für sexuelle Aufklärung und Befreiung widmen, fand bei den moskautreuen Kommunisten immer weniger Anklang. Stalin nahm 1934 viele Sexualreformen Lenins zurück, rehabilitierte z.B. die patriarchale Familie und führte das Verbot der Homosexualität wieder ein (Reich 1935 S.157 ff.).
Die KPD schloss Reich daher im gleichen Jahr aus wie die Freudianer, die dabei 1934 allerdings einen peinlichen Eiertanz veranstalteten - ihr Motiv: Sie hofften zu dieser Zeit auf ein Arrangement mit den Nazis. Reich, der erst vergeblich Asyl in Kopenhagen gesucht hatte, musste nach Schweden flüchten, dann illegal zurück nach Dänemark, wo er sich versteckt hielt, schließlich fand er in Norwegen, wo er viele Anhänger hatte, bis zur Ausreise in die USA 1939 Unterschlupf (Raknes S.20). Freud verweigerte 1934 seine Unterschrift, als Reichs Sympathisanten berühmte Unterstützer für dessen Asylanträge suchten (Fallend S.56).
Das Schlüsselereignis der Geschichte der Psychoanalyse in den 30er-Jahren ist der (verschleierte und verleugnete) Ausschluß Wilhelm Reichs aus der IPV (Internationale Psychoanalytische Vereinigung) während ihres 13. Internationalen Kongresses in Luzern im August 1934.
Helmut Dahmer: Psychoanalytiker in Deutschland 1933-1951, S.183