Vom Globalisierungskritiker zum Taliban - für Berlusconi ein kleiner Schritt
Mit dubiosen Anschlägen und massiver Propaganda wird die italienische Linke kriminalisiert
Aus den Trümmern des WTC stieg noch der Rauch auf, als Italiens Präsident Silvio Berlusconi den Anschlag schon propagandistisch gegen die Globalisierungskritiker nutzte und verkündete, er sehe "eine einzigartige Übereinstimmung zwischen den Aktionen der Terroristen und der Bewegung gegen die Globalisierung". Schon während des G8 in Genua hatte der italienische Staatschef die Gegendemonstranten als "Feinde des Westens" tituliert. Nun schob er hinterher, es gäbe innerhalb des überlegenen Westens "Personen, die diese Überlegenheit nicht anerkennen wollen und ihm die Schuld an der Armut in Teilen der Welt geben". Die Propagandawelle rollt. Die Anschläge von New York werden in Italien dazu genutzt Stimmung zu machen gegen Migranten und Linke. Sprecher der an der Regierung beteiligten Lega Nord erklärten jedes besetzte Zentrum sei eine "potentielle Zelle von Bin Ladens Terroristen".
Der scharfe Ton passt auch zu dem Vorgehen rund um Genua (eine Chronologie zu Genua), das schon einige Aktivisten und Analytiker dazu brachte, von einer Neuauflage der Strategie der Spannung zu reden. Das Vorgehen Berlusconis dürfte aber nicht wundern: Politisch gestützt und mitorganisiert wurde die Strategie von der Geheimloge "Propaganda 2" (Vgl. Banken., Börsen, Berlusconi). Sie bestand aus etwa 1.000 Politikern, hohen Militärs, in- und ausländischen Geheimdienstchefs, hohen Vertretern aus Polizei und Carabinieri, Bankpräsidenten, Unternehmern und Journalisten. Und auch der Medienmogul und heutige Staatschef Silvio Berlusconi war Mitglied der P2. Etwa 100 von ihnen wurden wegen Verwicklungen in illegale Geschäfte, Putschpläne, Morde, Erpressungen, Anschläge und Verdunklung rechtskräftig verurteilt.
Strategie der Spannung
Als Strategie der Spannung wurde in Italien die Strategie der politischen und militärischen Elite bezeichnet, die darauf abzielte, den Eindruck einer vermeintlichen Instabilität des Systems sowie Angst zu erzeugen und damit die Notwendigkeit eines "starken Staates" plausibel zu machen. Sie wurde in den vergangenen 35 Jahren von einem Netz klandestiner Organisationen, bestehend aus Militärs, Geheimdienstlern und Zivilisten verfolgt. Die Strategie entstand in den 60er Jahren als Antwort auf die erstarkende Linke. Nach mehreren kleineren Bombenanschlägen ohne tödliche Opfer fordert am 12. Dezember 1969 ein Anschlag auf die Nationale Landwirtschaftsbank in Mailand 17 Tote und 84 zum Teil schwer verletzte. Die Ermittlungen konzentrierten sich auf die radikale Linke. Es kam zur Verkündung eines Quasi-Notstandes, alle Demonstrationen wurden verboten, die Repression gegen die außerparlamentarische Linke verschärft und die Befugnisse und Ausrüstung der Repressionsorgane ausgeweitet. Der Anarchist Giuseppe Pinelli wird fest genommen, "fällt" aus dem Fenster eines Mailänder Polizeireviers und wird nach seinem Tod als Urheber des Anschlags präsentiert. Heute ist gerichtskundig, dass dieser und viele der folgenden Anschläge von den italienischen Geheimdiensten in Zusammenarbeit mit Neofaschisten begangen wurden. Das gleiche gilt für viele weitere Anschläge: Am 31. Mai 1972 explodierte im Ort Peteano ein in einem Fahrzeug versteckter Sprengsatz und tötet drei Carabinieri. - Am 28. Mai 1974 explodierte in Brescia während einer Gewerkschaftskundgebung, eine Bombe. Sie tötete acht Personen und verletzte 102. - Am 4. August 1974 explodierte im Italicus-Express (Zug Rom-München) zwischen Florenz und Bologna eine Bombe, zwölf Menschen starben, 45 wurden verletzt. Die Kriminalisierung der Linken nahm weiter zu. Die Repressionswellen von '79 bis '82 führten zu 40.000 Anzeigen, 15.000 Verhafteten und 4.000 zu Tausenden von Jahren Haft Verurteilten. In dieser Zeit explodierte am Samstag den 2. August 1980, Höhepunkt des Ferienverkehrs, im Bahnhof von Bologna eine Bombe. Teile der Bahnhofshalle stürzten ein, 85 Menschen starben. Nach der Anfang der 80er weitgehend vollzogenen Zerschlagung der radikalen Linken wird noch alle paar Jahre stabilisierend weiter gebombt, so etwa am 23. Dezember 1984 als ein Sprengsatz im Zug Mailand-Neapel in einem Tunnel kurz hinter Florenz explodierte. 16 Personen starben, 277 wurden teilweise schwer verletzt. Als Schuldige ausgemacht wurde eine Gruppe von Mafiosi und Faschisten. Auch als in den 90er eine radikale Linke kaum noch eine Bedeutung spielte, setzten sich die Anschläge fort, doch nun waren es nicht mehr Faschisten, sondern zunehmend Mafia-Gestalten, die die Ausführung besorgten. Zu den Zielen gehörten beispielsweise die Uffizien in Florenz.
Buchtipp zu Strategie der Spannung und Gladio: Jens Mecklenburg (Hg.) - Gladio. Die geheime Terrororganisation der Nato, Espresso Verlag 24,80 DM
Die ersten Hinweise auf eine mehr oder weniger verdeckte Strategie zur Erhöhung der Spannung gab es bereits einige Tage vor dem G8 in Genua. Diverse Briefbomben - einige unterschrieben von vermeintlich anarchistischen Gruppierungen - wurden verschickt. Ein 20jähriger Militärdienst leistender Carabinieri wurde beim Öffnen eines in einem Päckchen getarnten Sprengsatz am Auge und an einer Hand verletzt, ebenso erging es einer Sekretärin des rechten TV-Journalisten Emilio Fede, eine weiterer detonierte in der Poststelle der Firma Benetton. Auch das besetzte Zentrum Leoncavallo in Mailand erhielt ein solches Päckchen, entdeckt wurde es jedoch erst nach der Rückkehr aus Genua. Unter einem Camper in der Nähe des Carlini-Stadions in Genua - wo die "Ungehorsamen" (Tute Bianche und andere) ihr Camp hatten - wurde ein Sprengsatz gefunden und rechtzeitig entschärft. In Bologna wurde ein präparierter Schnellkochtopf, zu dem die Polizei mit dem Hinweis gelotst wurde, er enthalte Ecstasy, entschärft. Der Sprecher des GSF, Vittorio Agnoletto, erhielt einen Brief mit seinem Foto und zwei Pistolenkugeln. Weitere Anschläge trugen ebenfalls zu einer Verschärfung des Klimas bei.
An die Spur der "Anarchisten" will angesichts der Beliebigkeit der Ziele und des nicht gerade "linken Mittels" Briefbombe kaum jemand glauben. Die Bewegung ist sich relativ einig und verurteilt die Briefbomben als versuchte Neuauflage einer Strategie der Spannung, die sich gegen die Linke richtet. Ist die Vermutung der Strategie der Spannung berechtigt? Einiges deutet darauf hin. Die Anschläge im Vorfeld, die massive Repression in Genua, die Anwesenheit in Genua von hohen Regierungsvertretern, die großen Anschläge danach, die folgende Hetze und Kriminalisierung, alles scheint einem altbekannten Drehbuch zu folgen...
Die Qualität des Terrors der Sicherheitskräfte während der Proteste gegen den G8 in Genua war ebenso wenig wie die Ermordung von Carlo Giuliani die Folge des Einsatzes "unerfahrener Polizisten, die die Nerven verloren haben". Schusswaffen wurden von Polizei und Carabinieri häufig gezogen und selbst Schüsse wurde wiederholt abgegeben. Vize-Premier Gianfranco Fini der faschistischen AN befand sich in den Tagen höchstpersönlich im Fort San Giuliano die politische Linie für die Sicherheitskräfte vor. Der italienische Justizminister Roberto Castelli - ein rechtsradikaler Institutionen- und Demokratie-Verächter der Lega Nord - hat zugegeben, während dieser Tage in der Folterkaserne Bolzaneto (in der DemonstrantInnen dutzendweise systematisch über Tage hinweg gefoltert wurden) vor Ort gewesen zu sein, nur Anzeichen von Übergriffen will er - entgegen der Aussagen anderer Zeugen - nicht gesehen haben.
Der ehemalige "Sozialist" und langjährige Dauerinnenminister Francesco Cossiga verteidigt den Einsatz der Sicherheitskräfte mit einem Rekurs auf seine eigene blutige Vergangenheit als Innenminister, als mehrere Demonstranten von Polizei oder Carabinieri erschossen wurden. Auch er stellte nach Genua die gesamte Öffentlichkeit vor die simple Frage: "Für uns oder gegen uns". Das verwundert nicht, Cossiga ist einer der Hauptverantwortlichen der Strategie der Spannung in vergangenen Jahrzehnten. Militärisch wurde die Strategie vom illegalen Gladio-Netz getragen, in dem die Geheimoperationen zusammen flossen und abgestimmt wurden. Im Oktober '90 gab die italienische Regierung erstmals offiziell die Existenz von Gladio zu. Während Francesco Cossiga, damals Staatspräsident, gleichzeitig erklärte, er sei stolz darauf '67, als Untersekretär im Verteidigungsministerium das Gladio-Netz reorganisiert zu haben. Im Oktober schlug er gar eine Reorganisation des Gladio-Netzes vor. Viele ehemalige Veteranen des illegalen Netzes haben sich sogar in einem Verband zusammen gefunden.
Nach Genua fehlte streng nach Drehbuch nur noch eine "große Bombe", wie auch einige Linke scherzhaft anmerkten. Doch die Wirklichkeit kennt die Sorge der Banalität nicht und so folgte in Venedig in der Nacht vom 8. auf den 9. August, vor einem Besuch Berlusconis in der Stadt, der große Knall und eine Bombe zerstörte Teile des Gerichtes der Lagunenstadt. Bürgermeister Paolo Costa fühlte sich an die von Mafia und Geheimdiensten in den 90ern verübten Anschläge in Florenz und Rom erinnert und der Vize-Bürgermeister Bettin stellte fest
Jedes mal wenn in Italien eine wachsende Bewegung existiert, die die Frage nach einer Veränderung des Landes stellt, gibt's Bomben oder es schießt jemand (...) die Gewohnheit Spannung zu erzeugen ist eine Konstante im italienischen politischen System, das durch die undurchsichtige Rolle der Geheimdienste noch komplizierter wird.
SprecherInnen der radikalen Linken bezeichneten die Bombe als eine "Bombe gegen die Bewegung". Doch die Presse und regierungsnahe Kräfte sprachen von einem "Qualitätssprung" der Antiglobalisierungsbewegung und stellten einen direkten Zusammenhang zu den Protesten in Genua her. Staatschef Berlusconi bezichtigte gar die G8-Gegner der Urheberschaft des Anschlags und forderte erneut die "nationale Einheit", was von der DS, und dem oppositionellen Ulivo-Bündnis erfreut aufgenommen wurde.
In den Tagen nach dem Anschlag gingen verschiedene Anschlagserklärungen ein. Von der Presse hervor gehoben und als glaubwürdig dargestellt wird nur eine Erklärung der "Nuclei Territoriali Antimperialisti", die inhaltlich außerhalb von Zeit und Raum steht und wie aus Textbausteinen vergangener Zeiten zusammengesetzt scheint. Der ermittelnde Staatsanwalt Casson hielt die Erklärung für unglaubwürdig. Für die beiden Richter Carlo Mastelloni (der in den 80er schon für einige Ermittlungen gegen vermeintliche und wirkliche Rote Brigaden verantwortlich zeichnete" und Guido Papalia hingegen stand fest: Der Feind steht links.
Wenige Tage schreiben die Geheimdienste in einem Bericht für das Parlament von einem Wiederaufbau der Roten Brigaden und stellen die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung teilweise in diesen Zusammenhang. Völlig im Delirium - oder als Teil einer allgemeinen Strategie der Verunsicherung - erklärte Lega Nord-Führer und Regierungsmitglied Umberto Bossi, hinter den Bomben und den Ausschreitungen in Genua stünden Teile der Geheimdienste, die der Linken treu seien. Zugleich mehren sich die Stimmen in der Regierung, die die Justiz auffordern, den Tute Bianche-Sprecher Luca Casarini endlich anzuklagen und zu verhaften.
In Venedig hingegen deuten die Ermittlungen zunehmend auf eine Bande der Region hin, gegen die am Tag nach dem Anschlag eine staatsanwaltschaftliche Befragung im Gericht angesetzt war. Bei der auf Raubüberfälle spezialisierten Bande wurde unter anderem auch Plastiksprengstoff gefunden, der dem in Venedig benutzten zu ähneln scheint. So folgte die nächste Bombe, die der Linken zugeschrieben wird: In der Nacht zum 21.08. zerstörte ein starker Sprengsatz den Sitz der Lega in Vigonza, Padova. Es ging kein Bekennerschreiben ein, doch wieder wird über die Gefährlichkeit des "neuen linken Terrorismus" geredet.
In diesem Klima schreitet die Kriminalisierung der Linken weiter voran. Im September folgen Justizbeamte den Forderungen der Regierung und leiten Ermittlungen gegen den Tute Bianche Sprecher Luca Casarini wegen Aufruf zur "Bildung einer kriminellen Vereinigung" ein, weitere Verfahren gegen AktivistInnen aus der Bewegung sollen folgen ... Noch mehr von Durchsuchungen betroffen ist aktuell aber das anarchistische Spektrum, das Medien und Sicherheitsapparat schon von Anfang der Briefbombenanschläge bezichtigten. In Genua wurde ein Brandanschlag auf das von Anarchisten besetzte Centro Sociale Pinelli verübt und ein auf dem Polizeihof stehender, konfiszierter Lastwagen einer ehemals Inhaftierten Deutschen niedergebrannt. Etwa zur gleichen Zeit erfolgte eine Welle von Hausdurchsuchungen in etwa 15 verschiedenen italienischen Städten gegen vermeintliche Vertreter des "anarcho-insurektionalistischen" Spektrums. Doch von den etwa 60 ursprünglich vorgesehenen Haftbefehlen wurde kein einziger vollzogen, da sie offensichtlich jedweder Grundlage entbehrten. Eine Woche später traf es die Jugendlichen eines besetzten Zentrums in Florenz, die sich selbst nicht einmal als Anarchisten bezeichnen, doch auch hier nur ein Schlag ins Wasser, schlichter Polizeiterror. Ein Ende der Repression ist noch nicht in Sicht.
Im Unterschied zu den 60er und 70er Jahren scheint die Strategie der Spannung jedoch nicht so aufzugehen wie gedacht. Ein Großteil der Bewegung entzieht sich bewusst der Eskalationsspirale und macht dies auch deutlich. Zugleich mehren sich auch die Stimmen, die nicht den Urheber einer jeden Bombe zuerst in der Linken suchen. Allerdings steht nach den Anschlägen in den USA der Ruf nach der "nationalen Einheit" und einer starken Regierung sowie das einfache Motto "mit uns oder gegen uns" wieder im Vordergrund. Durch den Krieg gegen Afghanistan sind die Parteien noch enger zusammen gerückt und die globalisierungskritische Bewegung, die sich in Italien in eine Antikriegsbewegung verwandelt hat, wird als "Feind im eigenen Land ausgemacht".