Vom Sterben der NSU-Zeugen

Seite 2: Die Liste der Verstorbenen im NSU-Komplex wird länger

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Zu den Verstorbenen gehört auch Lieselotte W., von deren Tod man in diesen Tagen ebenfalls erfuhr. Er liegt bereits einige Monate zurück. Frau W. verstarb 80jährig im Juni 2016. Sie war eine der wichtigsten Augenzeugen nach dem Mord an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter und dem Mordversuch an dem Beamten Martin Arnold am 25. April 2007. Unmittelbar nach dem Anschlag sah sie am Tatort Theresienwiese in Heilbronn einen Mann heraneilen, dessen linke Körperseite stark blutverschmiert war und der in ein wartendes Auto stürmte. Frau W. hat mit hoher Wahrscheinlichkeit einen der Täter oder Mittäter gesehen.

Nach ihren Angaben erstellte die Polizei zwei Phantombilder von dem Mann, die aber nie offiziell veröffentlicht wurden. Erst 2013 druckten verschiedene Zeitungen sie ab.

Die nach Angaben der Verstorbenen erstellten Phantombilder.

Keines der Bilder hat eine Ähnlichkeit mit Böhnhardt oder Mundlos. Während die Ermittler der Zeugin damals absolute Glaubhaftigkeit attestierten, änderte sich das nach 2011 mit der Festlegung der Täterschaft auf Böhnhardt und Mundlos. Nun wurden ihre Beobachtungen von führenden Leuten in Zweifel gezogen. Andere frühere Ermittler halten jedoch an ihrer positiven Einschätzung der Augenzeugin bis heute fest.

Lieselotte W. sollte 2015 ebenfalls vor dem ersten NSU-Untersuchungsausschuss in Stuttgart als Zeugin gehört werden. In diesen Zeitraum fiel der Beginn ihrer schweren Erkrankung, so dass von ihrem Auftritt im Landtag abgesehen wurde. Im Frühjahr 2015 wurde bei Frau W. ein sogenanntes "Myelodysplastisches Syndrom" festgestellt, eine Knochenmarkerkrankung, die dafür sorgt, dass der Körper kein Blut mehr produziert. Sie starb am 11. Juni 2016.

Von zwei weiteren Zeugen ist ebenfalls bekannt, dass sie tot sind: Einer, Manfred K., fuhr am Tag des Polizistenmordes an derselben Stelle vorbei wie Frau W., nur etwa zehn Minuten früher. Er sah einen Streifenwagen zum späteren Tatort Theresienwiese hin einbiegen. Kiesewetter und Arnold waren das nicht. Am Steuer saß ein einzelner Beamter in Uniform ohne Beifahrer. Er wurde nie ermittelt. Der im Jahr 2013 im Alter von 56 an Krebs verstorbene Zeuge war einer von fünf Zeugen, die in den 40 Minuten vor dem Anschlag jeweils einen Streifenwagen der Polizei an oder auf der Theresienwiese bemerkt hatten. Keiner dieser Streifenwagen ist identifiziert.

Im April 2015 verstarb außerdem Muzaffer T., der zum Zeitpunkt der Nagelbombe von Köln im Juni 2004 zusammen mit seinem Bruder Talat T. am Tatort Keupstraße war. Muzaffer wurde Zeuge und Opfer des Anschlages zugleich. Er wurde am Arm verletzt, konnte das Krankenhaus aber bald wieder verlassen. Das Besondere: Talat T. war türkischer Offizier im Range eines Oberstleutnant. Die Gründe für die Anwesenheit der beiden Brüder in der Keupstraße wurden nie ganz klar. Muzaffer T. lebte in Berlin, sein Bruder Talat in der Türkei. Im Januar 2015 waren beide als Zeuge im Prozess in München geladen. Muzaffer bekam Kreislaufprobleme und wurde von der Vernehmung verschont. Er starb an Krebs und wurde 72 Jahre alt.

Mindestens neun tote NSU-Zeugen - manche sind alters- oder krankheitsbedingt gestorben, und an den vielen anderen Tatorten wird es inzwischen noch mehr verstorbene Beteiligte geben. Der NSU-Komplex kommt in die Jahre. Da er jedoch nicht aufgeklärt ist, spielen die vielen Zeugen und das, was sie wahrgenommen haben, nach wie vor eine Rolle.

Ernste Zweifel an den Todesumständen bleiben vor allem bei den jungen Zeugen, die auf "unnatürliche" Weise ums Leben kamen, wie Arthur C. (18, verbrannt), Florian H. (21, verbrannt), Thomas Richter (39, plötzlicher Zuckerschock), Melisa M. (20, Lungenembolie) und Sascha W. (31, erhängt). Den Tod von Corinna B. kann man bisher davon nicht ausnehmen.

Aus Chronistenpflicht seit ergänzt: Auch ein Ermittlungsgutachter zum Kiesewetter-Mord ist nicht mehr am Leben. Am 29. Juli 2016 verstarb 73jährig "nach schwerer Krankheit", wie es hieß, der Rechtsmediziner Heinz-Dieter Wehner, der unter anderem die Kopfschüsse auf die beiden Beamten Kiesewetter und Arnold rekonstruierte und zu dem Ergebnis kam, zwei Rechtshänder müssen den Anschlag verübt haben. Böhnhardt war Linkshänder.

Wehner hatte außerdem die Blutspritzer von Kiesewetter auf einer Hose, die in der Wohnung des Trios in Zwickau gefunden wurde, untersucht. Er bezweifelte, dass der Träger dieser Hose die Dienstwaffe von Kiesewetter entwendet hat, weil die Hose dann noch mehr Blutflecken haben müsste, was nicht der Fall ist. Ein Indiz, das die Zwei-Täter-Theorie in Frage stellt.

Wehner war sowohl im Prozess in München als Sachverständiger geladen als auch mehrfach im Untersuchungsausschuss von Baden-Württemberg. Zuletzt im Oktober 2015. Dabei hatte er zur Überraschung unter anderem erklärt, dass das Polizeiauto, in dem die beiden Opfer niedergeschossen wurden, für seine Untersuchungen nicht mehr existierte.